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Fortsetzung Modernes Bewegungsverhalten: Risiken, Nebenwirkungen, Veränderungspotenziale

Rezept für Bewegung

Grundsätzlich muss aber eine Veränderung in der Gesellschaft vor sich gehen. Bewegung bei Kindern muss gefördert werden, denn schon im Kindesalter lässt sich der Blutdruck durch körperliche Aktivität und sitzendes Verhalten beeinflussen, wie das Leibnitz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie im Rahmen des IDEFICS-Projekts herausgefunden hat. Dadurch kann körperliche Aktivität im Kindes- und Jugendalter, die im günstigsten Fall auch von Erwachsenen aufrechterhalten wird, Bluthochdruck in späteren Lebensphasen verhindern. Eine weitere Komponente auf dem Weg zu einer anderen Einstellung zu körperlicher Aktivität ist das Rezept für Bewegung, das auf einer Initiative von DGSP und DOSB beruht. In diesem Jahr hat auch die EFSMA das Konzept der Exercise prescription for health übernommen. Prof. Löllgen fordert, das Thema Bewegung viel stärker bereits in die Ausbildung aller medizinischen Fachrichtungen zu
integrieren und auch als Handlungsempfehlung – oder eben als Rezept – zu verordnen, wie andere mehr oder weniger wirksame Medikamente auch.

Der Trick: ein unattraktiver Aufzug

Viel stärker als bisher müssen sich die Menschen aber dessen bewusst sein, dass ihre Gesundheit in ihrem eigenen Verantwortungsbereich liegt. Keine Pharmafirma kann so gute Medikamente entwickeln, dass sie jahrzehntelanges Fehlverhalten aufhalten, umkehren oder sogar heilen. Alle bereits genannten Ideen fordern zur Stärkung der Eigenverantwortlichkeit auf, doch Prof. Dr. Joachim Bauer, Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut, gibt in seinem aktuellen, laienverständlichen Buch Selbststeuerung, und die Wissenschaftlerin Theresa Marteau 2012 in einer Science-Publikation zu bedenken, dass die Neuro­psychologie des menschlichen Verhaltens berücksichtigt werden muss, um Verhaltensänderungen etablieren zu können. Oftmals reagiert der Mensch mit automatisiertem, gewohnheitsmäßigem Verhalten, das auf schnelle Befriedigung eines Bedürfnisses abzielt. Das vom präfrontalen Cortex gesteuerte System agiert rational im Hinblick auf weiter entfernte Ziele.

Alle Awareness-Kampagnen, z.B. Anti-Rauchen oder »5 am Tag«, richten sich an dieses rationale Entscheidungssystem. Viel stärker müsste jedoch das automatisierte Entscheidungssystem angesprochen werden. Wie Dr. Julia Thurn und Prof. Schlicht in einem Beitrag in der Zeitschrift »In Mind« verdeutlicht haben, muss dazu die Umwelt geändert werden, weil unsere Gewohnheiten an Hinweisreize aus der Umwelt gebunden sind. Wenn die Türen eines Fahrstuhls sehr langsam schließen und der Aufzug zudem sehr langsam fährt, wird die Benutzung der Treppe attraktiver. Wenn das ungesunde, hochkalorische Essen in einer Kantine, einer Fußgängerzone oder einer Schule nur mit weiteren Wegen erreicht werden kann, während gesunde Alternativen leicht und häufig verfügbar sind, greifen die Hungrigen eher zu – im wahrsten Sinne des Wortes – naheliegenden, gesunden Speisen, wie eine Untersuchung aus dem Jahr 2010 zeigte.

Prof. Schlicht sieht einen wichtigen Hebel in der gebauten Umwelt. »Wir müssen eine engere Zusammenarbeit zwischen Präventionsmedizinern, Gesundheitswissenschaftlern, Public-Health-Forschern und denjenigen hinbekommen, die politische Verantwortung für die Entwicklung der Stadt und der Umwelt tragen. Die gebaute Umwelt entscheidet mit darüber, ob Leute zu Fuß unterwegs sind oder für jeden Meter das Auto nehmen, ob sie Fahrstuhl fahren, die Rolltreppe nehmen oder Treppe steigen.«

Fußgängerfreundliche, attraktive Innenstädte, ausgebaute Radwege, keine Fastfood-Ketten in der Nähe von Kindergärten und Schulen und ein Ampelsystem auf Lebensmitteln, mit dem auch normale Bürger einfach verstehen können, welche Inhaltsstoffe in Lebensmitteln enthalten sind, sind Veränderungen, die in unser einzig auf Wachstum ausgelegtes Wirtschaftssystem massiv eingreifen. »Die gesellschaftspolitische Debatte, die dazu notwendig ist, geht weit über gesundheitspolitische Inhalte hinaus«, sagt Prof. Schlicht. Und weiter: »Ich bin der Meinung, dass man etwa die Entscheidung über den Ausweis von Inhaltsstoffen in Lebensmitteln nicht den Herstellern alleine überlassen darf, sondern dass man politisch regulierend eingreifen muss.« Wir können nur hoffen, dass in nicht allzu ferner Zukunft mutige Politiker genügend Aktivität an den Tag legen und dennoch genügend »Sitzfleisch« mitbringen, um diese Veränderungen anzupacken.

■ Hutterer  C

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