Seite 1 / 2

Funktionelles Training – alles nur Marketing?

Funktionelles Training – alles nur Marketing?
© bnenin / Adobe Stock

Anfangs noch ein Element in der Patientenrehabilitation, ist Funktionelles Training („Functional Training“) heute in jedem guten Fitnessstudio, im Breiten- und Gesundheitssport sowie in Leistungssport und Verletzungsprävention zu finden. Verwendet wird der Begriff allerdings sehr unterschiedlich und die dahinter stehenden Programme weichen teils erheblich voneinander ab. Aber was ist überhaupt der Unterschied zu Trainingsmethoden, die es schon seit Langem gibt?

Unter Sportwissenschaftlern, Trainern, Physiotherapeuten und Medizinern ist zumindest der Begriff umstritten. Manche sehen im funktionellen Training eine Renaissance des traditionellen Athletiktrainings (also nichts Neues), andere erkennen einen wichtigen Beitrag zur Verletzungsprophylaxe. Auch wird die Funktionalität eng mit einer bestimmten Sportart oder Zielbewegung in Verbindung gebracht. Teilweise ist die Bezeichnung »Functional Training« zudem als reiner Modebegriff der Fitnessbranche in Verruf geraten, weshalb bereits gefordert wurde, möglichst ganz darauf zu verzichten (8).

Eine Definition für funktionelles Training?

Doch worum geht es bei funktionellem Training genau? Hier beginnt bereits das Problem, denn bis heute existiert keine klare offizielle Definition. Es gibt allerdings einen kleinsten gemeinsamen Nenner, also Bestandteile, die in den meisten Begriffsbeschreibungen vorkommen. So beinhaltet Functional Training gemeinhin komplexe Bewegungsabläufe, die mehrere Gelenke und Muskelgruppen beanspruchen und sich an alltagsnahen Bewegungen orientieren. Als typische Übungen aus diesem Spektrum gelten Kniebeugen (squats), Kreuzheben (dead lift), Schrittkniebeugen (lunges), Schulterdrücken, Liegestütze oder Klimmzüge. »Das sind Kraft-Grund­übungen, die jeder Mensch können sollte, weil wir sie für gesunde alltägliche Bewegungen brauchen. Am besten sollte die korrekte Ausführung schon in der Schule geübt und auch immer wieder mal von einem Experten überprüft werden«, erklärt Dr. Alexander-Stephan Henze, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie Leiter der Sportorthopädie in der Sport- und Rehabilitationsmedizin des Universitätsklinikums Ulm. Häufig werden im funktionellen Training bei den genannten Übungen bewusst zusätzlich instabile Situationen erzeugt oder der Schwierigkeitsgrad durch dynamische Bewegungen zunehmend erhöht. Übende sollen den Bewegungsproblemen dann ganzheitlich begegnen.

Alter Wein in neuen Schläuchen – oder ist funktionelles Training doch etwas Neues?

»Die Idee ist grundsätzlich gut. Doch sie ist nicht neu und auch nicht klar von anderen Trainingsformen abzugrenzen. Denn sowohl in der Reha, wo es zunächst um die Wiedererlangung von Alltagsfunktionen sowie bei verletzten Sportlern um die Rückkehr auf das ursprüngliche Niveau geht, als auch im sonstigen Training werden die Übungen an individuelle Bedürfnisse oder sportartspezifische Anforderungen angepasst und sind somit als funktionell zu betrachten«, meint Dr. Henze. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt der konzeptionelle Review, der schon im Titel fragt (4): »Is There Any Non-functional Training?« Im Rahmen von Kraftausdauer-, Maximalkraft-, Schnellkraft- und Ausdauertraining werden Bewegungsabläufe aus dem traditionellen Widerstandstraining, ballistische und plyometrische Übungen sowie aerobes oder anaerobes Training mit unterschiedlichen Intensitäten und in Intervallen seit jeher eingesetzt, um alle leistungsrelevanten Parameter zu verbessern. Das schreibt sich auch das Functional Training auf die Fahnen und verspricht Erfolge bei der

– Erhaltung und Wiedererlangung von Leistung,
– Steigerung der Rumpfkraft,
– Verbesserung von Gleichgewicht und Balance,
– Verbesserung der Flexibilität,
– Stabilisation (allgemein sowie von Gelenken),
– Koordination und Ökonomisierung von Bewegungen.

Was ist funktionell, was nicht?

Selbst wenn man davon absieht, dass funktionelles Training möglicherweise keine wirklich bahnbrechende Innovation ist, lohnt sich die Überlegung, was mit einem Training nach der oben genannten Definition zu erreichen ist und für wen es sich eignet. »Functional Training kann aus drei Perspektiven betrachtet werden: aus Sicht der Übung, aus Sicht der Trainingslehre und – für mein Verständnis am wichtigsten – aus Sicht der Ziele der trainierenden Person«, erklärt Jörg Mayer, DOSB-Sportphysiotherapeut, Osteopath sowie Sport- und Bewegungstherapeut mit eigener Praxis in München.

Hinsichtlich der Übungen lässt sich festhalten, dass eine Übung oder Methode nie per se funktionell ist, denn dann wäre sie für jedes Trainingsziel und jede ausführende Person gleichermaßen sinnvoll. Anders herum kann man aus Sicht der Zielsetzung folgern, dass jedes Training funktionell ist, welches das Erreichen eines Ziels unterstützt – ganz gleich, ob es sich um Leistungsentwicklung, Rehabilitation oder Prävention handelt. »Soll ein komplexer Bewegungsablauf wie z. B. Kniebeugen oder Liegestützen beispielsweise nach einer Verletzung wiedererlernt oder verbessert werden, so kann es sein, dass für die korrekte Ausführung Kraft in einer Muskelgruppe fehlt. In solchen Fällen sehe ich auch das gerätegestützte Trainieren einzelner Teilbewegungen als funktionell an, weil es den genau hier notwendigen Kraftzuwachs herbeiführt, auch wenn diese Teilbewegung für sich betrachtet nicht-funktionell ist«, gibt Jörg Mayer zu bedenken.

Ausgangspunkt ist daher sinnvollerweise ein individuelles Assessment, das die zentralen Parameter Kraft, Beweglichkeit, Schnelligkeit, Gleichgewicht und Koordination umfasst und Potenziale identifiziert. Abhängig davon, in welcher Phase sich die übende Person befindet – z. B. Rückkehr zur Alltagsfähigkeit oder Sportfähigkeit nach Verletzung, Optimierung der Performance im Hochleistungsbereich oder Verletzungsprävention – und welche Ziele erreicht werden sollen, überlegen Trainer oder Therapeuten, welche aufeinander aufbauenden Fähigkeiten notwendig sind, um dorthin zu gelangen.

Dr. Alexander-Stephan Henze
Dr. Alexander-Stephan Henze, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie Leiter der Sportorthopädie in der Sport- und Rehabilitationsmedizin des Universitätsklinikums Ulm © Henze