Funktionelles Training – alles nur Marketing?
Anfangs noch ein Element in der Patientenrehabilitation, ist Funktionelles Training („Functional Training“) heute in jedem guten Fitnessstudio, im Breiten- und Gesundheitssport sowie in Leistungssport und Verletzungsprävention zu finden. Verwendet wird der Begriff allerdings sehr unterschiedlich und die dahinter stehenden Programme weichen teils erheblich voneinander ab. Aber was ist überhaupt der Unterschied zu Trainingsmethoden, die es schon seit Langem gibt?
Unter Sportwissenschaftlern, Trainern, Physiotherapeuten und Medizinern ist zumindest der Begriff umstritten. Manche sehen im funktionellen Training eine Renaissance des traditionellen Athletiktrainings (also nichts Neues), andere erkennen einen wichtigen Beitrag zur Verletzungsprophylaxe. Auch wird die Funktionalität eng mit einer bestimmten Sportart oder Zielbewegung in Verbindung gebracht. Teilweise ist die Bezeichnung »Functional Training« zudem als reiner Modebegriff der Fitnessbranche in Verruf geraten, weshalb bereits gefordert wurde, möglichst ganz darauf zu verzichten (8).
Eine Definition für funktionelles Training?
Doch worum geht es bei funktionellem Training genau? Hier beginnt bereits das Problem, denn bis heute existiert keine klare offizielle Definition. Es gibt allerdings einen kleinsten gemeinsamen Nenner, also Bestandteile, die in den meisten Begriffsbeschreibungen vorkommen. So beinhaltet Functional Training gemeinhin komplexe Bewegungsabläufe, die mehrere Gelenke und Muskelgruppen beanspruchen und sich an alltagsnahen Bewegungen orientieren. Als typische Übungen aus diesem Spektrum gelten Kniebeugen (squats), Kreuzheben (dead lift), Schrittkniebeugen (lunges), Schulterdrücken, Liegestütze oder Klimmzüge. »Das sind Kraft-Grundübungen, die jeder Mensch können sollte, weil wir sie für gesunde alltägliche Bewegungen brauchen. Am besten sollte die korrekte Ausführung schon in der Schule geübt und auch immer wieder mal von einem Experten überprüft werden«, erklärt Dr. Alexander-Stephan Henze, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie Leiter der Sportorthopädie in der Sport- und Rehabilitationsmedizin des Universitätsklinikums Ulm. Häufig werden im funktionellen Training bei den genannten Übungen bewusst zusätzlich instabile Situationen erzeugt oder der Schwierigkeitsgrad durch dynamische Bewegungen zunehmend erhöht. Übende sollen den Bewegungsproblemen dann ganzheitlich begegnen.
Alter Wein in neuen Schläuchen – oder ist funktionelles Training doch etwas Neues?
»Die Idee ist grundsätzlich gut. Doch sie ist nicht neu und auch nicht klar von anderen Trainingsformen abzugrenzen. Denn sowohl in der Reha, wo es zunächst um die Wiedererlangung von Alltagsfunktionen sowie bei verletzten Sportlern um die Rückkehr auf das ursprüngliche Niveau geht, als auch im sonstigen Training werden die Übungen an individuelle Bedürfnisse oder sportartspezifische Anforderungen angepasst und sind somit als funktionell zu betrachten«, meint Dr. Henze. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt der konzeptionelle Review, der schon im Titel fragt (4): »Is There Any Non-functional Training?« Im Rahmen von Kraftausdauer-, Maximalkraft-, Schnellkraft- und Ausdauertraining werden Bewegungsabläufe aus dem traditionellen Widerstandstraining, ballistische und plyometrische Übungen sowie aerobes oder anaerobes Training mit unterschiedlichen Intensitäten und in Intervallen seit jeher eingesetzt, um alle leistungsrelevanten Parameter zu verbessern. Das schreibt sich auch das Functional Training auf die Fahnen und verspricht Erfolge bei der
– Erhaltung und Wiedererlangung von Leistung,
– Steigerung der Rumpfkraft,
– Verbesserung von Gleichgewicht und Balance,
– Verbesserung der Flexibilität,
– Stabilisation (allgemein sowie von Gelenken),
– Koordination und Ökonomisierung von Bewegungen.
Was ist funktionell, was nicht?
Selbst wenn man davon absieht, dass funktionelles Training möglicherweise keine wirklich bahnbrechende Innovation ist, lohnt sich die Überlegung, was mit einem Training nach der oben genannten Definition zu erreichen ist und für wen es sich eignet. »Functional Training kann aus drei Perspektiven betrachtet werden: aus Sicht der Übung, aus Sicht der Trainingslehre und – für mein Verständnis am wichtigsten – aus Sicht der Ziele der trainierenden Person«, erklärt Jörg Mayer, DOSB-Sportphysiotherapeut, Osteopath sowie Sport- und Bewegungstherapeut mit eigener Praxis in München.
Hinsichtlich der Übungen lässt sich festhalten, dass eine Übung oder Methode nie per se funktionell ist, denn dann wäre sie für jedes Trainingsziel und jede ausführende Person gleichermaßen sinnvoll. Anders herum kann man aus Sicht der Zielsetzung folgern, dass jedes Training funktionell ist, welches das Erreichen eines Ziels unterstützt – ganz gleich, ob es sich um Leistungsentwicklung, Rehabilitation oder Prävention handelt. »Soll ein komplexer Bewegungsablauf wie z. B. Kniebeugen oder Liegestützen beispielsweise nach einer Verletzung wiedererlernt oder verbessert werden, so kann es sein, dass für die korrekte Ausführung Kraft in einer Muskelgruppe fehlt. In solchen Fällen sehe ich auch das gerätegestützte Trainieren einzelner Teilbewegungen als funktionell an, weil es den genau hier notwendigen Kraftzuwachs herbeiführt, auch wenn diese Teilbewegung für sich betrachtet nicht-funktionell ist«, gibt Jörg Mayer zu bedenken.
Ausgangspunkt ist daher sinnvollerweise ein individuelles Assessment, das die zentralen Parameter Kraft, Beweglichkeit, Schnelligkeit, Gleichgewicht und Koordination umfasst und Potenziale identifiziert. Abhängig davon, in welcher Phase sich die übende Person befindet – z. B. Rückkehr zur Alltagsfähigkeit oder Sportfähigkeit nach Verletzung, Optimierung der Performance im Hochleistungsbereich oder Verletzungsprävention – und welche Ziele erreicht werden sollen, überlegen Trainer oder Therapeuten, welche aufeinander aufbauenden Fähigkeiten notwendig sind, um dorthin zu gelangen.
Funktionelles Training im Vergleich zu klassischen Trainingsformen
Um den Nutzen von Functional Training zu belegen, müsste es in Studien anderen Trainingsregimes überlegen sein – doch leider gibt die Studienlage das nicht überzeugend her. Es beginnt schon, wie zu Beginn erwähnt, mit der uneinheitlichen Definition. Ide et al. haben die Bandbreite an unterschiedlichen Definitionen aus Studien zusammengetragen (4) und kommen zu dem Schluss, dass ein Vergleich nicht aussagekräftig ist, solange jede Untersuchung einen anderen Fokus legt. Auch gibt es kein Übungsrepertoire, das eindeutig oder ausschließlich dem funktionellen Training zugeordnet wird, während andere Trainingsformen darauf verzichten. So zeigt sich in Studien, in denen ein bestimmtes funktionelles Training mit anderen Athletiktrainingsformen verglichen wird, häufig kein Unterschied zwischen den Effekten (z. B. 3, 5).
Verletzungsprävention durch Functional Training?
Beim funktionellen Training werden Muskeln nicht einzeln trainiert, sondern ganze Bewegungsabläufe und Muskelketten betrachtet. Die Logik verlangt, dass diese Trainingsform Verletzungen besser vorbeugen sollte als das isolierte Training einzelner Muskelgruppen. Doch stimmt das auch? Größere Studien untersuchten die Wirksamkeit verschiedener Programme zur Verletzungsprävention: FIFA 11+ (Prävention von Verletzungen beim Fußball generell, aber auch von Knieverletzungen), FIFA 11+S (Prävention von Schulterverletzungen bei Torwarten), FIFA 11+ Referees Program (Prävention von Verletzungen bei Schiedsrichtern) und STOP-X (Prävention von Knie- und v. a. Kreuzbandverletzungen). Diese Programme kann man aufgrund ihrer Übungsregimes durchaus als funktionelle Trainingsprogramme verstehen. Der Vergleich zeigt, dass bei Fußballerinnen und Fußballern das Verletzungsrisiko signifikant senkt (6, 7). Auch das für die obere Extremität modifizierte FIFA 11+S sowie das Programm für Schiedsrichter verringerte die Verletzungsrate signifikant (2, 1). Offenbar tragen die Übungen dazu bei, relevante Muskelketten zu kräftigen und damit Verletzungen sinnvoll vorzubeugen.
Wo endet funktionelles Training?
Wenn man darüber nachdenkt, wo funktionelles Training beginnt und wo es endet, stellt man fest, dass aufgrund der hohen Individualität keine Aussage darüber getroffen werden kann, welcher Komplexitätsgrad für das Label »funktionell« ausreicht. »Manchmal wird versucht, die Komplexität durch Ergänzung vieler Parameter zu ergänzen, etwa mit wackeligem Untergrund, elastischen Bändern, Loops und weiteren. Das kann richtiggehend zirkusartige Ausmaße annehmen! Der Nutzen solcher Übungen für eine bestimmte Funktion scheint mir fraglich. Denn je komplexer eine Übung ist, desto schwieriger kann man nachvollziehen, auf welches konkret formulierte Trainingsziel die Übung einwirkt. Auch der Effekt auf einzelne motorische Grundeigenschaften wie z. B. Kraft nimmt ab. Er beschränkt sich dann vor allem auf motorisches Lernen und darauf, dem Übenden seine Grenzen aufzuzeigen. Und das ist kein funktionelles Ziel«, meint Jörg Mayer.
Für Dr. Henze gerät funktionelles Training auch dort an eine Grenze, wo die Komplexität für das Individuum zu hoch ist: »Funktionelle Übungen wie Kniebeugen oder Schulterdrücken sind schon ohne weitere Erschwernisse sehr komplex, das meistern auch viele Sportlerinnen und Sportler nicht ohne Weiteres. Wird hier ungenau geübt, steigt das Verletzungsrisiko eventuell sogar an.«
Funktionelles Training, das darauf abzielt, Potenziale auszuschöpfen, ist immer nur als Ergänzung zu den klassischen Trainingsinhalten zu sehen. So sind beispielsweise die FIFA-11+-Programme zum Aufwärmen konzipiert. Denn bei der Beanspruchung von Muskelketten limitiert immer das schwächste Glied die Trainingsintensität. Werden bei einer Bewegung schwache Arm-, kräftige Rumpf- und sehr starke Oberschenkelmuskeln benötigt, profitieren vom Kraftzuwachs nur Arme und ggf. Schultern, nicht aber andere Strukturen. Um die Fähigkeiten anderer Muskelgruppen auf Dauer nicht sogar zu gefährden, ist hier auf eine ausgewogene Mischung zu achten.
Fazit: Funktionelles Training hat viele Freiheitsgrade. Das fängt bei der genauen Bedeutung an, reicht aber bis in die praktische Anwendung hinein: Es kann überall durchgeführt werden, an Geräten in der Physiotherapiepraxis oder im Fitnessstudio ebenso wie zuhause. Auch die Entscheidung für oder gegen Hilfsmittel wie elastische (Mini-)Bänder, Hanteln, Kettlebells, (Medizin-)Bälle oder Wackelkissen kann man individuell treffen. Grundlage sollte jedoch immer die Überlegung bilden, welches Ziel erreicht werden soll und welche Methoden dafür
am sinnvollsten sind. Welchen Begriff man im Endeffekt dafür verwendet, ist dann nachrangig.
■ Hutterer C
Quellen:
Al Attar WSA, Bizzini M, Alkabkabi F, Alshamrani N, Alarifi S, Alzahrani H, Ghulam H, Aljedaani E, Sanders RH. Effectiveness of the FIFA 11+ Referees Injury Prevention Program in reducing injury rates in male amateur soccer referees. Scand J Med Sci Sports. 2021; 31: 1774-1781. doi:10.1111/sms.13983
Al Attar WSA, Faude O, Bizzini M, Alarifi S, Alzahrani H, Almalki RS, Banjar RG, Sanders RH. The FIFA 11+ Shoulder Injury Prevention Program Was Effective in Reducing Upper Extremity Injuries Among Soccer Goalkeepers: A Randomized Controlled Trial. Am J Sports Med. 2021; 49: 2293-2300. doi:10.1177/03635465211021828
Clark SC, Rowe ND, Adnan M, Brown SM, Mulcahey MK. Effective Interventions for Improving Functional Movement Screen Scores Among »High-Risk« Athletes: A Systematic Review. Int J Sports Phys Ther. 2022; 17: 131-138. doi:10.26603/001c.31001
Ide BN, Silvatti AP, Marocolo M, Santos CPC, Silva BVC, Oranchuk DJ, Mota GR. Is There Any Non-functional Training? A Conceptual Review. Front Sports Act Living. 2022; 3: 803366. doi:10.3389/fspor.2021.803366
Kong PW, Kan TYW, Mohamed Jamil RAGB, Teo WP, Pan JW, Hafiz Abd Halim MN, Abu Bakar Maricar HK, Hostler D. Functional versus conventional strength and conditioning programs for back injury prevention in emergency responders. Front Bioeng Biotechnol. 2022; 10: 918315. doi:10.3389/fbioe.2022.918315
Magoshi H, Hoshiba T, Tohyama M, Hirose N, Fukubayashi T. Effect of the FIFA 11+ injury prevention program in collegiate female football players over three consecutive seasons. Scand J Med Sci Sports. 2023; 33: 1494-1508. doi:10.1111/sms.14379
Silvers-Granelli HJ, Bizzini M, Arundale A, Mandelbaum BR, Snyder-Mackler L. Does the FIFA 11+ Injury Prevention Program Reduce the Incidence of ACL Injury in Male Soccer Players? Clin Orthop Relat Res. 2017; 475: 2447-2455. doi:10.1007/s11999-017-5342-5
Sportphysio fragt nach – Experten antworten. Was bedeutet funktionelles Training für Sie? Sportphysio; 2015; 3: 7–14. doi:10.1055/s-0035-1546280