Programme zur Verletzungsprävention – wie gut wissen Sportmediziner Bescheid?
Dass die Bedeutung der Prävention von Sportverletzungen sehr hoch oder hoch ist, davon sind 55 bzw. 35 Prozent der Teilnehmer einer Web-basierten Umfrage unter sportmedizinisch tätigen Fachgruppen überzeugt (2). Doch nur 54 Prozent gaben an, bestehende Präventionsprogramme zu kennen. Dieses Ergebnis irritiert auf den ersten Blick. Doch ist der Wissensstand der Sportmediziner in Bezug auf Programme zur Verletzungsprävention wirklich so schlecht?
Befragt wurden die Mitglieder der deutschsprachigen Gesellschaft für orthopädische und traumatologische Sportmedizin (GOTS) sowie die Mitglieder und erweiterten beruflichen Netzwerke des Réseau Francophone Olympique de la Recherche en Médecine du sport (ReFORM) mittels eines Online-Fragebogens, der 22 Fragen zur Wahrnehmung, Wissen und Umsetzung der Prävention von Sportverletzungen umfasste. 766 Personen hatten teilgenommen. Die Befragten waren Chirurgen (n = 330; 43 Prozent), Sportphysiologen (n = 176; 23 Prozent) und Physiotherapeuten (n = 138; 18 Prozent). Die meisten von ihnen gaben an, in der Betreuung von ambitionierten Amateuren (n = 526; 69 Prozent), Freizeitsportlern (n = 471; 62 Prozent), Profisportlern (n = 369; 48 Prozent) und dem Schulsport (n = 224; 29 Prozent) tätig zu sein. Ziel der Studie war es, die Ansätze zur Verletzungsprävention in zwei geografisch und kulturell unterschiedlichen großen Sportmedizingemeinschaften in Westeuropa zu untersuchen.
Die Auswertung der Umfrage ergab, dass die Bedeutung der Verletzungsprävention in den verschiedenen Berufsgruppen ähnlich (hoch) eingeschätzt wurde (Chi2 = 19,6; n.s.), sich das Wissen über bestehende Programme jedoch signifikant zwischen den Berufen unterschied (Chi2 = 29,4; p < 0,001). Bei Chirurgen, Studierenden und Allgemeinmedizinern ist der Kenntnisstand signifikant geringer als bei Physiotherapeuten. Jene Personen, welche die Bedeutung der Verletzungsprävention als „sehr hoch“ einschätzten, hatte signifikant mehr Kenntnis von bestehenden Präventionsprogrammen (Chi2 = 49,1; p < 0,001).
39 bzw. 38 Prozent der Befragten gaben an, in der Betreuung von Sportlern routinemäßig oder gelegentlich mit Präventionsmaßnahmen zu arbeiten. 37 Prozent nutzten bestehende Konzepte wie Stop-X oder FIFA11 plus. Den wöchentlichen zeitlichen Aufwand für Präventionsarbeit mit Athleten beschrieben 45 Prozent der Befragten mit etwa einer Stunde, 20 Prozent mit fünf Stunden und 5 Prozent mit mehr als fünf Stunden. Das mit Abstand bekannteste Programm ist FIFA11 plus, gefolgt von Stop-X, VBG (in Deutschland) und dem Handbyll injuries prevention programme.
Als wichtigste Gründe, warum Präventionsprogramme nicht umgesetzt werden, wurden mangelnde Erfahrung mit Präventionsmaßnahmen (n = 401; 52 Prozent), unzureichende oder fehlende finanzielle Anreize (n = 328; 43 Prozent) und mangelndes Verständnis seitens der Trainer (n = 365; 48 Prozent) oder Sportler (n = 295; 39 Prozent) angegeben. Auch Zeitmangel wurde häufig (33 Prozent) genannt.
Interessanterweise gab es bemerkenswerte Unterschiede zwischen den deutsch- und den französischsprachigen Befragten. In der GOTS-Gruppe wurde Verletzungsprävention als deutlich wichtiger eingeschätzt. Auch bei der Bekanntheit der bestehenden Präventionsprogramme hatten GOTS-Befragte signifikant umfangreicheres Wissen als französischsprachige Kollegen.
Ein großer Anteil der Umfrage-Teilnehmer waren Chirurgen. Diese Fachgruppe ist allerdings selten in die tägliche Betreuung und das Training von Athleten eingebunden, sondern wird in der Regel erst aufgesucht, wenn die Verletzung bereits passiert ist. Der geringe Kenntnisstand zu Präventionsprogrammen und der geringe Zeitaufwand pro Woche sind vermutlich damit zu erklären. Wichtig ist, dass Sportmediziner, Physiotherapeuten, aber auch Trainer einen hohen Kenntnisstand zu vorhandenen Präventionsprogrammen besitzen und diese mit ihren Athleten praktizieren. Denn Maßnahmen der primären Sportverletzungsprävention (übungsbasierte Programme, Anpassungen des Regelwerks, Optimierung der Sportausrüstung) sind von großer Bedeutung, um das Verletzungsrisiko zu mindern. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass sie bei bis zu 50 Prozent der Sportverletzungen wirksam sind (1, 3].
■ Hutterer C
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Quellen:
Barden C, Hancock MV, Stokes KA, Roberts SP, McKay CD. Effectiveness of the Activate injury prevention exercise programme to prevent injury in schoolboy rugby union. Br J Sports Med. 2022 Jul;56(14):812-817. doi: 10.1136/bjsports-2021-105170
Tischer T, Martens G, Cabri J, Thoreux P, Tscholl P, Edouard P, Leclerc S, Le Garrec S, Delvaux F, Croisier JL, Kaux JF, Hannouche D, Lutter C, Seil R. The awareness of injury prevention programmes is insufficient among French- and German-speaking sports medicine communities in Europe. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc. 2023 Jul;31(7):2563-2571. doi: 10.1007/s00167-023-07416-w
van Dyk N, Behan FP, Whiteley R. Including the Nordic hamstring exercise in injury prevention programmes halves the rate of hamstring injuries: a systematic review and meta-analysis of 8459 athletes. Br J Sports Med. 2019 Nov;53(21):1362-1370. doi: 10.1136/bjsports-2018-100045