Körperliche Aktivität und Sport in der Prävention und Therapie neurodegenerativer Erkrankungen
Editorial der Ausgabe 05-06/2020 der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin (DZSM) von Dr. Patrick Müller. Der Beitrag befasst sich mit sportinduzierter Neuroplastizität und der Prävention und Therapie dementieller und weiterer neurodegenerativer Erkrankungen.
Aufgrund zahlreicher medizinischer, hygienischer und technischer Fortschritte ist die Lebenserwartung in Deutschland von knapp 30 Jahren im 19. Jahrhundert auf aktuell über 80 Jahre angestiegen. Demographische Daten besagen, dass jedes zweite heutzutage geborene Kind 100 Jahre alt werden wird. Diese positive Entwicklung geht jedoch mit einer Zunahme alters-assoziierter Erkrankungen des metabolischen Systems (Diabetes mellitus Typ 2, Adipositas etc.), des Herz- und Kreislaufsystems (Koronare Herzkrankheit, Hypertonie etc.), des Bewegungsapparates (Sarkopenie, Arthrose etc.) und des zentralen Nervensystems (Demenzen, Amyotrophe Lateralsklerose, Parkinson etc.) einher. Insbesondere die Zunahme von neurodegenerativen Erkrankungen (speziell Demenzen) stellt das Gesundheitssystem vor gravierende Herausforderungen.
Neurodegenerative Erkrankungen
Neurodegenerative Erkrankungen bilden einen Oberbegriff für Krankheitsbilder, die durch einen progredienten Nervenzelluntergang charakterisiert sind. Die häufigsten neurodegenerative Erkrankungen sind mit einem Anteil von ca. 60-70% dementielle Erkrankungen (z. B. Morbus Alzheimer, Frontotemporale Demenz, Vaskuläre Demenz). Weitere neurodegenerative Erkrankungen sind unter anderem Morbus Parkinson (zweithäufigste neurodegenerative Erkrankung), Chorea Huntington und Motoneuronenerkrankungen (z. B. Amyotrophe Lateralsklerose). Der Hauptrisikofaktor für die Entwicklung von neurodegenerativen Erkrankungen ist das Alter. Unter anderem aufgrund der hohen Inzidenz und Prävalenz liegt der Fokus der derzeitigen Forschung zu neurodegenerativen Erkrankungen bei den Demenzen. So ist basierend auf Krankenkassen- und Surveydaten in Deutschland mit einem Anstieg dementieller Erkrankungen von aktuell 1 bis 1,5 Millionen auf bis zu 3,5 Millionen im Jahr 2050 zu rechnen.
Demenz ist wiederum ein weiterer Oberbegriff für Krankheitsbilder, welche durch eine Beeinträchtigung des Gedächtnisses sowie weiterer kognitiver Fähigkeiten charakterisiert sind. Demenzen können in primäre und sekundäre Demenzen unterschieden werden, wobei den primären Demenzen ein neurodegenerativer Pathomechanismus zu Grunde liegt und die sekundären Demenzen Folge einer anderen (zumeist) organischen Erkrankung (z. B. Hyponatriämie, Vitaminmangel) bzw. Intoxikation sind. Obwohl sekundäre Demenzformen nur 2% aller Demenzen bedingen, ist deren Kenntnis und Diagnostik elementar, da sie oftmals durch eine Behandlung der Grunderkrankung reversibel sind. Primäre Demenzformen sind die Alzheimer-Demenz (häufigste Form mit einem Anteil von 50-75%), Frontotemporale Demenz, Lewy-Body-Demenz, vaskuläre Demenzen sowie gemischte Demenzformen.
Bisher gibt es für die Behandlung der Demenzen jedoch keine kausal wirksamen pharmakologischen Therapien, die derzeitigen Acetylcholinesterase-Hemmer (Galantamin, Donepezil und Rivastigmin) sowie der NMDA-Rezeptor (N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor) Antagonist Memantin können den Progress der Erkrankung lediglich verlangsamen (10, 11). In diesem Kontext gewinnen nichtpharmakologische, präventive Interventionsansätze zunehmend an Bedeutung. Ansatzpunkt für Präventionsmaßnamen sind modifizierbare Risikofaktoren wie Bewegungsmangel, Depression, Übergewicht, Bluthochdruck und Diabetes mellitus. In Deutschland (und weiteren westlichen Ländern) hat die körperliche Inaktivität den höchsten prognostizierbaren Einfluss auf dementielle Erkrankungen. Aktuelle Hochrechnungen gehen davon aus, dass eine 10- bis 50-prozentige Reduktion der modifizierbaren Risikofaktoren die Anzahl der Demenz-Erkrankungen in Deutschland um 23.000 bis 130.000 Fälle reduzieren könnte. Insbesondere die lange, aysmptomatisch verlaufende präklinische Phase (ca. 20 Jahre) der Alzheimer-Demenz bietet viel Potential zur gezielten präventiven Intervention durch Lebensstilmodifikationen und sportives Training (9).