Vererbtes Übergewicht oder wie Epigenetik uns dick macht
Die Entdeckung der Epigenetik als weiteren Regulationsmechanismus der genetischen Ausstattung eines Individuums brachte ein Dogma zu Fall. Nämlich, dass erbliche Veränderungen nur über die Änderung der Gensequenz möglich sind. Die Epigenetik beschäftigt sich damit, wie Umwelteinflüsse uns prägen können. Auch erworbene Eigenschaften steuern die Genregulation und können sogar an die nachfolgende Generation weitergegeben werden. Die Steuerung erfolgt durch reversible Methylierungen an Basen der DNA, durch das Vorhandensein von mikroRNAs oder tRNAs oder durch die Modifikation der Histone. Bis vor kurzem war jedoch unklar, auf welche Weise eine Weitergabe an die Nachkommen erfolgt bzw. ob sich die Modifikationen als Spiegel der eigenen Lebensweise nicht nur in somatischen, sondern auch in den Keimbahnzellen festschreiben.
Hungrige Eltern – Diabetes bei Nachkommen
Betrachtet man den Faktor Ernährung, so zeigt die Untersuchung des niederländischen Hungerwinters 1944/45 und ähnlicher Hungerperioden, welchen Einfluss das Nahrungsangebot haben kann. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurden aufgrund des deutschen Nahrungsmittel-Embargos die Rationen sehr klein, so dass der tägliche Durchschnitt bei nur 667 Kilokalorien lag. Kinder, die während der frühen Schwangerschaft den Hunger der Eltern erlebten, haben eine geringere Anzahl an Methylgruppen am IGF2-Gen, welches die Produktion von Insulin und damit den Blutzuckerspiegel beeinflusst, als Geschwister, die erst in der Spätphase der Schwangerschaft unter der geringen Kalorienzufuhr litten oder Geschwister, die außerhalb der Hungerperiode geboren wurden. Die Auswirkungen wurden sichtbar, als man erkannte, dass erstgenannte Personen ein deutlich erhöhtes Risiko für Diabetes und Bluthochdruck haben. Die Hungerperiode hat die Steuerung der blutzuckerkontrollierenden Gene und Proteine nachhaltig beeinflusst. Unklar bleibt jedoch auch bei diesem Beispiel, ob die Weitergabe dieser Information über die Keimzellen erfolgt oder beispielsweise erst während der Schwangerschaft oder während des Säuglingsalters. Hier zeigt sich die Schwierigkeit dieser Forschungsansätze beim Menschen. Anhand epidemiologischer Studien kann man den Einfluss epigenetischer Veränderungen nicht von einer Vielzahl sozialer (z. B. gesellschaftlicher, familiärer, persönlicher) Faktoren abgrenzen. Aus diesem Grund verwenden Wissenschaftler Mausmodelle, die genetisch dieselbe Information enthalten (sog. Inzuchtstämme) und unter standardisierten Bedingungen gehalten werden können.
Ernährung beeinflusst die Keimbahnzellen
Prof. Dr. Johannes Beckers nutzte mit seiner Arbeitsgruppe am Helmholtz Zentrum München diese Möglichkeiten und konnte erstmals zeigen, dass epigenetische Modifikationen, die durch Ernährung bewirkt werden, tatsächlich über die Oozyten und Spermien weitergegeben werden (1). Gesunde Mäuse ohne Prädisposition für Übergewicht oder Diabetes wurden ab dem Beginn der Geschlechtsreife im Alter von neun Wochen für sechs Wochen mit hochkalorischem und fettreichem Futter ernährt. Anschließend wurden den Tieren Eizellen und Spermien entnommen und Nachkommen mittels In-vitro-Fertilisation (IVF) von gesunden Leihmüttern ausgetragen. So wurde ausgeschlossen, dass andere Einflüsse des leiblichen (und inzwischen fettleibigen) Muttertiers während der Trächtigkeit auf die Nachkommen übergehen.
Nach der Geburt der Tiere zeigte sich, dass die Nachkommen von Eltern, die unter fettreicher Diät standen, schon im Alter von drei Wochen ein höheres Gewicht hatten als Mäuse von Eltern, die Standardfutter erhalten hatten. Besonders deutlich wurde der Effekt, wenn wiederum fettreiches Futter gegeben wurde: Diese Mäuse wurden fettleibig, hatten ein deutlich stärkeres Problem mit der Regulation des Blutzuckers als die Eltern und wurden diabetisch. Durch die Verwendung von Ammentieren, die die Embryos der Elterntiere mit mutmaßlich epigenetisch verändertem Erbgut austrugen, konnte bewiesen werden, dass eine Weitergabe über die Keimbahnzellen erfolgt.
Um herauszufinden, welche Bedeutung die Erkenntnisse aus den Mausversuchen für den Menschen haben, forscht die Arbeitsgruppe nun an einem Vergleich zwischen Maus und Mensch. »Wir analysieren epigenetische Veränderungen in menschlichen Spermien, die wir aus Fertilitätskliniken erhalten. Von den Spendern kennen wir viele Merkmale, z. B. den Body-Mass-Index (BMI), bestehende Erkrankungen wie Diabetes oder die Statur. Die Veränderungen, die wir finden, vergleichen wir mit denen bei Mäusen. Nach erfolgreicher Befruchtung mit analysierten Proben können wir über die Kinder die Entwicklung des Körpergewichts oder eines Diabetes nachverfolgen«, erklärt Professor Beckers.