Schmerzen im Leistungssport: Biopsychosoziale Behandlungskonzepte

Schmerzen im Leistungssport: Biopsychosoziale Behandlungskonzepte
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Schmerz ist ein wichtiges Alarmsignal. Wenn etwas wehtut, stimmt etwas nicht – so haben wir es gelernt und deshalb schont der Mensch etwa verletzte Körperstrukturen instinktiv, um den Heilungsprozess nicht zu verzögern. Bei Sportlern haben diese Mechanismen oft einen anderen Stellenwert. Prof. Dr. Dr. Victor Valderrabano hat als Orthopädischer Sportmediziner und -chirurg schon viele internationale Profisportler behandelt. Seine praktische Erfahrung und Forschung besagt: »Es gibt Literatur-Evidenz, dass Sportler eine erhöhte Schmerztoleranz im Vergleich zur Normalpopulation haben. Ihre Schmerzwahrnehmung ist während des Wettkampfs durch Endorphine und Adrenalin, aber auch durch individuelle psychosoziale Faktoren herunterreguliert. Manchmal basiert der Erfolg eines Athleten ja gerade auf einer solchen erhöhten Schmerzschwelle und erhöhten autogenen Leistungsfähigkeit.«

Prof. Jens Kleinert vom Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln führt als weiteren Aspekt an, dass Aktivsein unter Sportlern ein selbstverständlicherer Alltagsbestandteil ist: »Bei Profi- oder ambitionierten Hobbyathleten führen körperliche Beschwerden deshalb nicht automatisch in die Passivität. Ihre Schmerzschwelle ist zwar ähnlich wie in der Normalbevölkerung. Die Schmerzintensität beurteilen sie jedoch meist als geringer, weil ein trainierter Körper die entsprechenden Sig­nale als nicht so bedrohlich wahrnimmt wie ein untrainierter.«

Bitte nicht zu tapfer sein

Im Leistungsbereich sind mehr oder weniger starke Belastungsbeschwerden eigentlich omnipräsent. Nähmen Athleten sie jedes Mal zum Anlass für eine Trainingspause, wäre es mit ihrer Karriere bald vorbei. Schlecht ist diese »Tapferkeit« aber natürlich dann, wenn sie die Läsionsgrenze überschreitet. Prof. Valderrabano kennt das Phänomen z. B. unter Kampfsportlern oder Dauerleistungs-Athleten wie Langstreckenläufern oder Tennisprofis: »Sie verfügen über einen stark auf Resistenz trainierten Körper. Gleichzeitig wirkt ihr auf Höchstleistung ausgerichtetes psychosoziales System via Zentralem Nervensystem (ZNS) beinahe dopingartig. In der Folge werden dann nach dem Wettkampf manchmal Stressfrakturen, Tendinopathien, Bandläsionen, Kompartmentsyndrome und andere Läsionen nachgewiesen.«

Ein Sonderfall unter den anstrengungsbedingten Beschwerden ist übrigens der heftige, plötzlich auftretende sogenannte exertionale Kopfschmerz, der durch Übertraining oder temporäre Überlastung entsteht. In den meisten Fällen, so Prof. Valderrabano, ist dafür keine physische Ursache zu finden; primärer Belastungskopfschmerz verschwindet innerhalb kurzer Zeit wieder. »Beim sogenannten sekundären Belastungskopfschmerz hingegen kann eine kardiovaskuläre Ursache dahinterstecken – und das ist vielen Sportlern nicht bekannt.« Deshalb sollte auch gelegentlicher anstrengungsinduzierter Kopfschmerz sportärztlich abgefragt und gegebenenfalls abgeklärt werden.

Prof. Dr. Dr. Victor Valderrabano, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie
Prof. Dr. Dr. Victor Valderrabano, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie, GOTS und SGSM Sportarzt, Chefarzt Swiss Ortho Center, Schmerzklinik Basel, Schweiz © Valderrabano

 

Univ.-Prof. Dr. Jens Kleinert, Psychologisches Institut der Deutschen Sporthochschule Köln
Univ.-Prof. Dr. Jens Kleinert, Psychologisches Institut der Deutschen Sporthochschule Köln © Kleinert
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»Schmerzen verstehen« als edukativer Ansatz

Eine gute Basis für alle an der Betreuung von Athleten Beteiligten ist das wissenschaftlich fundierte Konzept »Explain Pain« des amerikanischen Physiotherapeuten Lorimer Mosley. Es vermittelt ein grundlegendes Verständnis für sämtliche an der Schmerzperzeption beteiligten neurophysiologischen Mechanismen. Der Patient lernt, dass Schmerz und Nozizeption nicht identisch sind – Schmerz kann also z. B. auch bestehen, wenn kein Gewebeschaden vorliegt. Im Rahmen einer interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie hat diese Aufklärung neben medikamentöser Analgesie einen hohen Stellenwert, weil Patienten sich danach eher etwa zu physiotherapeutischen Interventionen aktivieren lassen (4).

Prof. Kleinert befürwortet diesen edukativen Behandlungsansatz ausdrücklich: »Schmerzwahrnehmung hat ja auch viel mit rationalen Prozessen zu tun, wir sind ihr nicht völlig passiv ausgeliefert. Eine schlechte Informationslage führt zu irrationaler, emotionaler Aufladung des Themas, und das beeinflusst unsere Wahrnehmungsprozesse ungünstig. Verstehen wir hingegen einen Schmerz – woher genau er kommt, was er mir sagt, ob vielleicht sogar eine positive Chance darin liegt –, dann kann ich damit aktiv umgehen und nehme ihn folglich als weniger bedrohlich wahr.« Eine Katastrophisierung fällt insofern unter gut informierten Schmerzpatientinnen und -patienten weniger stark aus.

Einen weiteren Zusammenhang zwischen Psyche und Schmerzwahrnehmung erklärt Prof. Kleinert mit der Gate-Control-Theorie. Sie besagt, dass bereits an der Schwelle ins Rückenmark entschieden wird, welcher Schmerzreiz überhaupt ins Gehirn weitergeleitet wird. Und dies wiederum hängt ursächlich mit dem aktuellen psychischen Zustand zusammen. »So ertragen etwa Fakire im Zustand allerhöchster Konzentration Schmerzen, die jeden normalen Menschen verrückt machen würden. Ihr ,Gate‘ lässt den Schmerz einfach nicht in die aktive Wahrnehmung durch!«

Schmerzen im Leistungssport: Achtung, Chronifizierungsfalle!

Pauschal unterscheidet man zwischen akutem und chronischem Schmerz – mit großen Auswirkungen auf die Behandlung. Im Leistungssportbereich wird, so Prof. Kleinert, die Grenze zur Chronifizierung teilweise bereits bei etwa drei Monaten angesetzt statt bei sonst üblich sechs. »Während für akuten Schmerz häufig eine klare biomedizinische oder biomechanische Gewebeläsion verantwortlich ist, wird der chronisch gewordene, häufig durch repetitive Überlastungsverletzungen bedingte Schmerz heute nicht mehr rein auf die körperliche Ebene reduziert. Vielmehr geht man ihn im Sinne des biopsychosozialen Schmerzmodells auf drei Ebenen an«, erklärt Prof. Valderrabano. »Dieses Modell bildet alle als heilungserschwerend infrage kommenden Lebensumstände des Athleten ab und identifiziert gleichzeitig positive Potenziale. Dazu gehören etwa familiäre oder finanzielle Schwierigkeiten, Probleme im Beruf, depressive Tendenzen, soziale Isolation und andere. Diese können in ihrer Gesamtheit nicht nur den somatischen Schmerz negativ beeinflussen, sondern auch die Rehabilitation verzögern und die Leistung signifikant vermindern.« (1)

Um alle für die künftige Behandlung relevanten Parameter quantifizieren zu können, haben sich verschiedene Fragebögen etabliert, darunter der Avoidance-Endurance Questionnaire (AEQ), der Athlete Fear Avoidance Questionnaire (AFAQ) oder der PainDETECT Score. Sie sind zum Teil auch für die Bestimmung der Schmerzqualität geeignet, welche Prof. Kleinert als essenziell betrachtet: »Die sensorische Schmerzqualität gibt Aufschluss darüber, wie der Schmerz rational wahrgenommen wird: Spitz? Dumpf? Pochend? Das lässt oft sogar erste medizinische Rückschlüsse zu. Im Gegensatz dazu steht die affektive Schmerzqualität, die die emotionale Dimension der Beschwerden beschreibt: Bezeichnet der Athlet sie etwa als ,schrecklich‘ oder nur als ,nervig‘? Beide Rubriken haben in der ganzheitlichen biopsychosozialen Schmerztherapie ihren Platz.« Das Ziel ist immer eine nachhaltige Rekonzeptionalisierung des Dauerthemas Schmerz. Welche Maßnahmen die begleitenden Ärzte, Physio- und Psychotherapeuten im Einzelfall verordnen, ergibt sich in der interdisziplinären Versorgung. Schmerztagebücher etwa sind laut Prof. Kleinert ein sehr probates und wirksames Tool.

Das »Avoidance-Endurance-Modell« nach Hasenbring et al.
Abb. 1: Das »Avoidance-Endurance-Modell« nach Hasenbring et al. (2) © DZSM 2019
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Sport gegen chronischen Schmerz

Das Avoidance-Endurance-Modell (2) zeigt deutlich: Je früher nach Beginn des Schmerzes gehandelt wird, desto geringer ist die Gefahr einer Chronifizierung. Dies trifft nicht nur nach Sportverletzungen zu, sondern auch für andere chronische Schmerzen, etwa bei Arthrose, Morbus Sudeck (CRPS), lumbalen Rückenschmerzen oder rheumatischen Erkrankungen. Professionell angeleitete Bewegungstherapie und Sport in vernünftigen Maßen können hier einen vielversprechenden Beitrag leisten – einerseits durch die rein physische Kräftigung bzw. Mobilisierung, andererseits durch die Auslösung schmerzlindernder Prozesse im Gehirn und natürlich durch die mannigfaltigen bereits erwähnten biopsychosozialen Zusammenhänge.

Die meisten Schmerzpatienten profitieren von aeroben »Low-impact-Ausdauerklassikern« wie Schwimmen, Laufen, Radfahren oder Nordic Walking. Studien zeigen jedoch, dass etwa bei Fibromyalgie Vorsicht walten sollte; hier ist der Grat zu einem erschöpfenden und damit hyper­sensibilisierenden Bewegungsausmaß schmal. Sportarten mit hohem Mental-Anteil wie z. B. Tai Chi scheinen hier, regelmäßig ausgeübt, die bessere Wahl zu sein.(3) Sich bei akuter Verletzung in den Schmerz hineinzubewegen, wird allgemein nicht empfohlen.

Schmerzmittelgebrauch und Doping

Wo Schmerz ist, sucht der Mensch Linderung, und oft geht es nicht ohne Medikamente. »Im Leistungs- und Wettkampfsportbereich ist der Konsum von Nichtsteroidalen Antirheumatika laut Studien oft substanziell«, berichtet Prof. Valderrabano. Derzeit sind gemäß Dopingrichtlinien Paracetamol und die meisten NSAR erlaubt, eine Vielzahl stärkerer Opioide und Cannabisprodukte jedoch verboten. Jegliche adjuvante Analgesie ist deshalb in Abstimmung mit den gültigen Listen der Welt-Dopingagentur WADA sowie der nationalen Dopingagenturen zu planen (5).

Status Quo und Ausblick

Zumindest im Profibereich hat die interdisziplinäre Betrachtung von Schmerz laut Prof. Valderrabano unbedingt ihre Wichtigkeit, insbesondere was der Return-to-Play und die Reduktion des Wiederverletzungsrisikos angeht. Er erlebt auch Trainer als zunehmend offen gegenüber der psychologischen Komponente von Schmerzcoping und Leistungsgrenzen – denn »ein optimales somatopsychosoziales Coaching ist die beste Prävention!«

Prof. Kleinert ergänzt: »Der sportpsychologische Ansatz behält ja neben der Leistung auch Dinge wie Persönlichkeitsentwicklung sowie die Schmerz- und Verletzungsbewältigung im Auge. Wünschenswert wäre eine routinemäßige Anwendung dieses erprobten Konzepts auch im Breiten- und Nachwuchsleistungssport. In wenigen Bundesländern ist die psychosoziale Nachwuchsbetreuung bereits etabliert, etwa in der sportpsychologischen Betreuungsinitiative www.mentaltalent.de unserer Deutschen Sporthoch­schule. Weitere Ansprechpartner sind die
Olympia-Stützpunkte und manche Fachverbände.«

■ Kura L

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Quellen:

  1. Fischerauer SF, Talaei-Khoei M, Bexkens R, Ring DC, Oh LS, Vranceanu AM. What Is the Relationship of Fear Avoidance to Physical Function and Pain Intensity in Injured Athletes?. Clin Orthop Relat Res. 2018; 476: 754–763. doi:10.1007/s11999.0000000000000085

  2. Hasenbring MI, Verbunt JA. Fear-avoidance and endurance related responses to pain: new models of behavior and their consequences for clinical practice. Clin J Pain. 2010; 26: 747-753. doi:10.1097/AJP.0b013e3181e104f2

  3. Lima LV, Abner TSS, Sluka KA. Does exercise increase or decrease pain? Central mechanisms underlying these two phenomena. J Physiol. 2017; 595: 4141–4150. doi:10.1113/JP273355

  4. Richter M. »Schmerzen verstehen« in der Praxis. Manuelle Medizin. 2017; 55: 265-273. doi:10.1007/s00337-017-0300-6

  5. Vernec A, Pipe A, Slack A. A painful dilemma? Analgesic use in sport and the role of anti-doping. Br J Sports Med. 2017; 51: 1243-1244. doi:10.1136/bjsports-2017-097867