Dogmen versus Evidenz in der operativen Sportmedizin – Wir müssen das Heft des Handelns wieder aktiv in die Hand nehmen
Editorial der Ausgabe #5/2017 der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin (DZSM) von Prof. Dr. Philipp Niemeyer, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie. In seinem Beitrag fordert Prof. Niemeyer, dass die vorhandenen Lücken in der klinisch-wissenschaftlichen Evidenz durch neue Studien und Methoden geschlossen werden müssen, um langjährige klinische Erfahrungen argumentativ stärker zu untermauern.
Bald werde die Zeit kommen, wo man sich nicht mehr mit allgemeinen Bemerkungen über Erfolge dieser oder jener Operation begnügen wird, sondern jeden Arzt für einen Scharlatan hält, der nicht im Stande ist, seine Erfahrungen in Zahlungen auszudrücken.“ Auch wenn diese kühnen Voraussagen vom Chirurgen Professor Theodor Billroth bereits aus dem 19. Jahrhundert stammen und die abstrakte Forderung nach wissenschaftlicher Evidenz für unser tägliches Handeln heute nichts Neues ist, so erscheint es in Zeiten, in denen Schlagzeilen über „unnötige Operationen“ die Medien beherrschen, aktueller denn je. Ja, sie könnten weiter noch durch den Zusatz ergänzt werden, dass diejenigen, die keine messbaren Ergebnisse für ihr operatives Handeln vorzulegen in der Lage sind, womöglich auch mit ihren operativen Leistungen durch das Raster der Kostenträger fallen und somit die Leistungen nicht mehr entsprechend vergütet werden.
Beispielhaft und erstmalig wurde im vergangenen Jahr die Arthroskopie bei Gonarthrose aus dem Katalog der durch die gesetzlichen Krankenkassen erstatteten operativen Leistungen gestrichen (1) und es bedarf hier keiner visionären Fähigkeit, dass weitere operative Eingriffe nach ähnlichen Maßstäben in naher Zukunft bewertet und auf den gleichen Prüfstand gestellt werden.
Interessanterweise kommen hier aus verschiedenen Bereichen ganz unterschiedliche Intentionen zum Tragen, die diese Thematik besonders relevant erscheinen lassen. Hierzu gehören:
– die öffentliche, oft subjektive Wahrnehmung, die in Zeiten von Boulevard- aber auch Fachjournalismus eine kritische Haltung zur Operation und deren Notwendigkeit entwickelt hat,
– die Sicht der Kostenerstatter, die in einer operativen Leistung zunächst nur eine kostenintensive Behandlung sehen, die möglicherweise nicht dem Wirtschaftlichkeitsprinzip der GKV entspricht und – der Blickwinkel der Zulassungsbehörden, die gerade im Bereich der Arzneimittelanwendung (und diese wird bei vielen Therapien mit biologischem Hintergrund immer relevanter) neben der Sicherheit auch die Wirksamkeit eines Verfahrens zunehmend ins Zentrum der Beurteilung stellen.
All diese unterschiedlichen Aspekte unterstreichen die zunehmende Relevanz aber auch Brisanz dieser Thematik. Am aktuellen Beispiel der Arthroskopie bei Gonarthrose – mit selbst in Fachkreisen umstrittener Wirksamkeit – erscheinen die Handlungen nachvollziehbar. Für die Versorgung symptomatischer Meniskusläsionen zum Beispiel prallen hier aber schon das Dogma der operativen Behandlungsnotwendigkeit und die wissenschaftliche Evidenz derart aufeinander, dass die Aufmerksamkeit groß wird, sollten hier strenge wissenschaftliche Kriterien in Bezug auf eine Wirksamkeitsprüfung angelegt werden. Auch weitere operative Leistungen, wie die Versorgung von Rotatorenmannschettenrupturen, die Behandlung von Kreuzband- oder Achilessehnenrupturen müssten sich ähnlichen Forderungen stellen.
Das Bedauerliche ist jedoch, dass Mediziner und Leistungserbringer in dieser Diskussion nur noch auf das reagieren können, was aus unterschiedlichen Bereichen an Sie herangetragen wird. Dabei hätte über Jahre hinweg die Möglichkeit bestanden, proaktiv für die klinische Notwendigkeit einzutreten, denn die Forderungen nach evidenzbasierten Daten sind nicht neu, sondern vielfach formuliert (5).
In einzelnen Bereichen ist dies jedoch erfolgt, wenn auch nicht durch eine intrinsische Motivation der Ärzte und Operateure. So liegen mittlerweile z. B. für den überschaubaren Bereich der operativen Behandlungen von Knorpelschäden mit zellbasierten Verfahren eine Großzahl prospektiv-randomisierter Studien vor (2, 7, 8). Der Hintergrund sind neue regulatorische Forderungen der Behörden, die für die hier zum Einsatz gebrachten zellbasierten Produkte eine Arzneimittelzulassung fordern, welche wiederum mit dem Nachweis der Wirksamkeit durch entsprechend hochqualitative Studien vergesellschaftet ist. Diese Daten werden sicherlich auch zum Zeitpunkt der Prüfung auf Wirtschaftlichkeit dienlich sein.