Dick trotz Sport? Ein angeblicher Paradigmenwechsel beruht auf Rechenfehlern
Editorial der Ausgabe #1/2018 der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin (DZSM). Prof. Dr. med. Dieter Böning geht darin auf einen Artikel der Zeitschrift "Spektrum der Wissenschaft" ein. Dort hieß es: „Das Abnehm-Paradox. Warum wir trotz Sport dick bleiben.“ Der Sportmediziner zeigt, warum die Autoren entscheidende Fehler gemacht haben.
Seit vielen Jahren beziehe ich die populärwissenschaftliche Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft, die ein Ableger des Scientific American ist und vom Urknall bis zu technischen Errungenschaften alle möglichen interessanten Themen behandelt. Beim Novemberheft 2017 war ich allerdings sehr verblüfft, als ich den Aufreißer auf dem Titelblatt sah: „Das Abnehm-Paradox. Warum wir trotz Sport dick bleiben.“ Der Anthropologe Herman Pontzer behauptet in einem Artikel mit dem Titel „Aktiv im Energiesparmodus“: „Der Kalorienumsatz des Menschen hängt deutlich weniger von sportlicher Aktivität ab als oft angenommen“ (2). Wie kommt er darauf?
Pontzer und Kollegen haben in mehreren Veröffentlichungen bei einer großen Zahl von Menschen aus Afrika und Amerika die täglich geleistete Muskelarbeit mittels Akzelerometern oder aus der zurückgelegten Wegstrecke geschätzt und den Energieumsatz mittels doppelt markiertem Wasser gemessen (3, 4, 5). Es handelte sich um Nordamerikaner (Afroamerikaner), Mitglieder des Stammes der Hadza in Tansania, die noch als Jäger und Sammler leben, weitere Afrikaner aus Ghana und Südafrika, Kleinbauern in Süd- und Mittelamerika und Afrika, Einwohner von Jamaica und den Seychellen, jeweils Männer und Frauen.
Die Hadza, einige hundert Personen, leben wie Jäger und Sammler in der Steinzeit und werden von Pontzer et al. als Menschen mit recht hoher körperlicher Aktivität beschrieben. Die Männer jagen mit Pfeil und Bogen Tiere, denen sie an Wasserlöchern auflauern; finden sie keine Beute, klettern sie auf Bäume, um Honig aus Wildbienennestern zu holen. Allerdings laufen sie nie, sondern gehen, im Mittel 12km täglich. Das ist wesentlich weniger als bei den letzten Steinzeitjägern unter den Buschmännern in der Kalahari; sie laufen bis zu 40km hinter Antilopen und Zebras her, bis diese erschöpft zusammenbrechen und erlegt werden (6). Die Frauen der Hadza sammeln Samen und Früchte, die sie zum Teil ausgraben, die Kinder schleppen Wasser über weite Strecken.
Die Kleinbauern arbeiten ohne Maschinen hart auf dem Feld vor allem für die eigene Versorgung (Subsistenzwirtschaft); z. T. leben sie in 4000m Höhe auf dem Altiplano in Bolivien. Die Nordamerikaner sind körperlich nicht besonders aktiv, wenn auch ein Teil „manuell“ arbeitet. Leistungssportler wurden nicht eingeschlossen, sie seien „Extremfälle“.
Das zunächst erstaunliche Ergebnis der Untersuchungen ist: Mit wachsender Aktivität stieg der Energieumsatz nur bis etwa 3000kcal (12 500kJ)/Tag, bei höheren Muskelleistungen nahm der Umsatz nicht mehr signifikant zu. Anders ausgedrückt: Trotz größerer muskulärer Tagesleistung war der tägliche Energieumsatz der Hadza und Kleinbauern im Vergleich zu den Nordamerikanern scheinbar nicht erhöht.
Die Autoren schließen daraus, dass es einen Energiesparmechanismus gibt, der den Aufwand für andere Körperfunktionen senkt. Das sind einmal Muskeltätigkeiten, die nicht von Akzelerometern erfasst werden (z. B. häufiger Sitzen statt Stehen). Es sollen auch Aktivitäten, die zum Ruheumsatz beitragen (Gehirn, Leber, Nieren, Darmtätigkeit und andere Drüsen), herabgesetzt werden; dies geht aber sicherlich nur vorübergehend. Auch die Fortpflanzungskosten werden erwähnt. So etwas gibt es auch im Sport, z. B. bei übertrainierten Frauen (Menstruationstörungen, Osteoporose, Essstörungen). Während Erschöpfungsphasen nach langdauernder, schwerer Belastung wie Triathlon oder Bergwanderungen mit Gepäck ist der Energieumsatz möglicherweise während der Erholung mit Tiefschlaf abgesenkt. Von den australischen Ureinwohnern weiß man, dass sie das durch Abnahme der Körpertemperatur im Schlaf erreichen (8). Aber gibt es solche Energiesparmechanismen bei intensiverer Berufsarbeit oder regelmäßigem Sport?
Die Arbeitsphysiologen geben bis zu 4800kcal (20 000kJ) pro Tag für schwere Arbeit an (1). Dieser Grenzwert gilt auch für die durchschnittliche Trainingsbelastung, da dauerhaft nicht mehr Nahrung aufgenommen werden kann. An Einzeltagen können aber sogar bis zu 12 000kcal (50 000kJ) umgesetzt werden. Doch solche hohen Werte haben Pontzer et al. bei ihren Betrachtungen ja als Extremfälle ausgeschlossen. Der höchste Gruppenmittelwert für den Tagesenergieumsatz in ihren Veröffentlichungen beträgt 3160kcal bei nordamerikanischen Männern mit einer Körpermasse von 91,9kg (3). Einzelwerte erreichen 3500kcal.
Um die Bedeutung der Untersuchungen von Pontzer et al. zu beurteilen, muss man mehrere Gesichtspunkte prüfen:
1. Sind die angewendeten Messverfahren aussagefähig?
2. Ist die Versuchspersonenauswahl der Fragestellung entsprechend?
3. Ist die Auswertung der Daten sinnvoll und fehlerfrei?
4. Ist die Deutung der Befunde richtig?