Neues zur sportassoziierten Concussion
Was Sportärzte über den Paradigmenwechsel im Management wissen sollten.
In den letzten Jahren hat sich das Verständnis und die Versorgung von sportassoziierten Concussions (SaC) grundlegend geändert. Nachdem man jahrzehntelang als Auslöser einen Coup-Contrecoup-Mechanismus postuliert hat und davon ausgegangen ist, dass ein relevanter Hirnschaden nur bei Bewusstseinsstörung oder Amnesie vorliegt, sind diese Annahmen nun widerlegt. Das Spektrum der leichtgradigen Schädel-Hirn-Traumata (SHT) ist vielmehr durch die Concussion als leichteste Form des leichten SHTs erweitert worden, das sehr oft nicht über die Glasgow-Coma-Scale erfasst werden kann. Einer der vermutlich wichtigsten pathophysiologischen Prozesse liegt in einer diffusen (und nicht fokalen) Schädigung der Axone und der daraus resultierenden Beeinträchtigung der Kommunikation zwischen verschiedenen Zentren des Gehirns. Dies erfolgt aufgrund der Übertragung der von außen auf die Schädelkalotte auftreffenden Kraft in das Schädel- und Hirninnere (weiße Substanz) in Kombination mit der zerfurchten Hirnstruktur und Fixierung der Meningen an der Schädelinnenseite.
Leider führt eine terminologische Unschärfe mit unterschiedlichen Bezeichnungen dieser Verletzung je nach Fachdisziplin sowohl im deutschen als auch im internationalen Raum immer noch zu Verwirrung. Denn Begriffe wie »leichtes SHT«, Commotio cerebri oder Gehirnerschütterung bezeichnen zum Teil das gleiche, aber zum Teil durchaus unterschiedliche klinische Entitäten. Wegen der recht klaren Definition wird daher häufig auch im Deutschen der Begriff »Concussion« als leichteste Form des leichten SHT genutzt.
Im Sport kann man sich sowohl wissenschaftlich als auch und insbesondere klinisch sehr gut an den viel zitierten Veröffentlichungen der »Concussion in Sport Group« (CISG) orientieren, die regelmäßig evidenz- und konsensusbasierte Leitlinien zusammenfassen. Zudem werden von der CISG Hilfsmittel bereitgestellt, die kostenfrei nutzbar und der klinischen Situation entsprechend gut anwendbar sind (1, 4). Im Rahmen der Zusammenfassung der Ergebnisse der letzten Konsensus-Konferenz der CISG im Oktober 2022 in Amsterdam wird beschrieben, dass es sich bei der SaC um ein SHT handelt, das durch eine im Rahmen sportlicher Aktivitäten auftretende stoßartige Kraft auf Kopf, Hals oder andere Körperstellen, die auf das Gehirn übertragen wird, entsteht (5). Dort löst sie eine Kaskade von Neurotransmittern und Veränderungen des Energiestoffwechsels aus, die zu einem diffusen axonalen Schaden, Veränderungen des Blutflusses und Entzündungen führt.
Symptome und klinische Zeichen können unmittelbar nach dem Trauma oder Minuten bis Stunden später auftreten und klingen in der Regel nach Tagen wieder ab, können jedoch auch persistieren. Bildgebende Maßnahmen zeigen keine Auffälligkeiten und das klinische Spektrum beinhaltet nur selten (in ca. 10 Prozent) eine Bewusstseinseinschränkung. Zudem sollten die klinischen Auffälligkeiten nicht (allein) durch Noxen wie Alkohol oder Medikamente oder durch andere Verletzungen erklärbar sein. Sie können diese und/oder andere vorbestehende Hirnerkrankungen wie Kopfschmerzen/Migräne, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) oder affektive und Angststörungen jedoch verstärken. Eine operationale Diagnosestellung kann nach dem American Congress of Rehabilitation Medicine erfolgen (6) und besteht aus
■ einem plausiblen Mechanismus (Kriterium 1)
■ einem oder mehreren klinischen Zeichen (z. B. Einschränkung von Bewusstsein oder Mentalstatus, Amnesie und Gleichgewichtsstörungen)
■ zwei oder mehreren akuten Symptomen (z. B. Kopfschmerzen und Schwindel) und
■ einem oder mehreren assoziierten klinischen Befunden (z. B. messbare Einschränkung von Kognition und Gleichgewicht ).
Zusatzuntersuchungen wie z. B. MRT-Bildgebung sind klinisch derzeit nur hilfreich zum Ausschluss höhergradiger SHTs oder anderer Pathologien, jedoch nicht zum Beweis oder Ausschluss einer SaC. Die SaC ist somit weiterhin eine klinisch zu diagnostizierende Verletzung. Auch andere Untersuchungen (z. B. serologischer Marker) sind noch nicht zum klinischen Einsatz geeignet, jedoch unter Umständen bei höhergradigen SHT hilfreich. Insbesondere im Sport ist auch die klinische Situation (on pitch vs. Seitenlinie vs. Notaufnahme) zu berücksichtigen. Dabei sind sowohl im initialen Screening als auch bei der Diagnosestellung Beeinträchtigungen in mindestens sechs klinischen Domänen zu berücksichtigen, die in verschiedenen Kombinationen oder auch isoliert auftreten können (siehe Tab. 1).
Klinisch eignet sich das von der CISG konzipierte und publizierte »Sport Concussion Assessment Tool« (SCAT), derzeit in der 6. Form (SCAT-6), für eine Screening-Untersuchung bei SaC sehr gut. Alle Untersuchungsmodalitäten werden abgebildet und sind in zwei Versionen (für Seitenlinie/Spielfeld/Halle sowie den Untersuchungsraum) verfügbar. Auf diese Weise werden alle Domänen im Rahmen von Anamnese und klinischer Untersuchung erfasst und bei Auffälligkeiten können weitere Abklärungen gezielt erfolgen. Zusätzlich kann beurteilt werden, ob ein sofortiges Verbot sportlicher Aktivitäten am selben Tag (und auch anschließend erst nach eingehender Untersuchung) ausgesprochen werden sollte. Außerdem sollte obligat eine Untersuchung der HWS und eine Beurteilung des Schlafs erfolgen, da eine Optimierung dieser Faktoren maßgeblich zur Regeneration beiträgt. Für ausführlichere Folgeuntersuchungen wurde nun neuartig das »Sport Concussion Office Assessment Tool 6« (SCOAT-6) entwickelt, das in Kürze auch auf Deutsch vorliegen wird. Für eine Sensibilisierung von nichtmedizinischem Personal zur Erkennung von SaC kann insbesondere bezüglich Red Flags und initialem Verhalten das »Concussion Recognition Tool 6« (CRT-6) genutzt werden.
Ein Paradigmenwechsel hat sich zuletzt bei der Behandlung der SaC ergeben. Nachdem klinische Studien gezeigt haben, dass sich unter der jahrzehntelang praktizierten konsequenten Abschirmung der SaC-Patientinnen und -Patienten von Stimuli (z. B. im dunklen Raum) ein ungünstiger und prolongierter Verlauf einstellen kann, sollte bereits ab dem zweiten oder dritten Tag wieder eine symptomlimitierte Wiederaufnahme von Aktivitäten erfolgen. Da gezeigt wurde, dass Bewegung und Sport in angemessener Intensität und Frequenz die Rehabilitation beschleunigen und vermutlich auch das Auftreten von längerfristigen gesundheitlichen Problemen reduzieren kann, sollte eine vorsichtige symptomfreie sportliche Aktivierung nach SaC bereits früh stattfinden. Zur Ermittlung der individuell geeigneten Intensität kann dabei eine standardisierte Ergometer-Belastung bis 50 oder 70 Prozent der maximalen Herzfrequenz, wie sie als Stufentest in den meisten sportmedizinischen Praxen und Einrichtungen regelmäßig durchgeführt wird, sehr helfen.
Basierend auf den hierdurch ermittelten Werten in Relation zu Symptomen und Erschöpfung (anhand der Borg Skala/Rate of Perceived Exertion) sollte das anschließende Training die bestehenden Symptome dann nicht oder höchstens um ein bis zwei Punkte auf einer Zehn-Punkte-Skala verstärken. Steigerungen von Belastungen und Training sollten ansteigend nach einem Return-to-Sport (RTS) Protokoll erfolgen. Die Basis dafür kann ebenfalls den Veröffentlichungen der CISG entnommen werden (5). Jede Stufe sollte dabei mindestens 24 Stunden andauern (Vgl. Tab. 2).
Ein aerobes Ausdauertraining mit langsamer Steigerung der Intensität und Dauer in Kombination mit einem multimodalen, je nach beeinträchtigter klinischer Domäne individualisierten Trainings-/Rehabilitationsprogramm beschleunigt die Regeneration, so dass die SaC nunmehr als behandelbare Verletzung angesehen werden kann und muss. Auch aus diesem Grund sollte zumindest im professionellen Sport möglichst früh nach dem Trauma ein spezialisiertes Zentrum konsultiert und nicht erst der Spontanverlauf oder ein mögliches therapeutisches Nicht-Ansprechen abgewartet werden. Im Sport ist nach Abschluss des RtS (medizinische Freigabe) zudem zu beachten, dass in der Regel die komplette prämorbide Leistungsfähigkeit noch nicht wieder hergestellt ist und eine erhöhte Anfälligkeit für Verletzungen des Muskel-Band-Apparats besteht, so dass Trainings- und Rehabilitationsmaßnahmen ggf. auch noch über den RtS hinaus weiter durchgeführt werden sollten (Return-to-Performance).
Die Diskussion um chronische Folgen nach SHT, Concussions und subklinischen repetitiven Kopftraumata ist sicher eine der derzeit lebhaftesten und kontroversesten in der Sportmedizin. Früher als Post-Concussion- (oder Commotio)-Syndrom bezeichnete Beschwerden sollten auf Grund der heterogenen Symptomatik nunmehr korrekter als persistierende Post-Concussion-Symptome bezeichnet werden. Die wohl beste Prävention besteht dabei neben einer Vermeidung von Kopftreffern in der korrekten Diagnose und Therapie der Akutverletzung. Neurodegenerative Folgen im Rahmen einer chronisch traumatischen Enzephalopathie (CTE) sind unverändert lediglich autoptisch und damit noch nicht zu Lebenszeiten diagnostizierbar. Klinische Biomarker existieren bislang nicht oder sind noch nicht hinreichend validiert. Zu wünschen ist hier neben der Generierung entsprechender wissenschaftlicher Langzeitdaten an vielen Stellen ein wissenschaftlicher Diskurs, der nicht emotional geführt wird, sondern sich unpolitisch-rational an Daten und Fakten orientiert. Von klinischer Seite ist zudem wichtig, dass 40 Prozent aller Demenzen durch 12 potenziell modifizierbare Risikofaktoren zu erklären sind, von denen SHT lediglich eine darstellen (Vgl. Tab. 3). Im klinischen Alltag empfiehlt es sich daher unbedingt, möglicherweise betroffene Athletinnen und Athleten hierüber gründlich und ganzheitlich aufzuklären, um Ängste abzubauen und präventiven Möglichkeiten gegenüber neurodegenerativen Veränderungen auch nach erfolgtem SHT nachzugehen.
■ Reinsberger C
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Quellen:
Echemendia RJ, Burma JS, Bruce JM, Davis GA, Giza CC, Guskiewicz KM, Naidu D, Black AM, Broglio S, Kemp S, Patricios JS, Putukian M et al. Acute evaluation of sport-related concussion and implications for the Sport Concussion Assessment Tool (SCAT6) for adults, adolescents and children: a systematic review. Br J Sports Med. 2023; 57: 722-735. doi:10.1136/bjsports-2022-106661
Harmon KG, Clugston JR, Dec K, Hainline B, Herring SA, Kane SK, Kontos AP, Leddy JL, McCrea M, Poddar SK, Putukian M, Wilson JC, Roberts WO. American Medical Society for Sports Medicine position statement: concussion in sport. Br J Sports Med. 2019; 53: 213-225. doi:10.1136/bjsports-2018-100338
Livingston G, Huntley J, Sommerlad A, Ames D, Ballard C, Banerjee S, Brayne C, Burns A, Cohen-Mansfield J, Cooper C, Costafreda SGet al. Dementia prevention, intervention, and care: 2020 report of the Lancet Commission. Lancet. 2020; 396: 413-446. doi:10.1016/S0140-6736(20)30367-6
Patricios JS, Schneider KJ, Dvorak J, Ahmed OH, Blauwet C, Cantu RC, Davis GA, Echemendia RJ, Makdissi M, McNamee M, Broglio S, Emery CA, Feddermann-Demont N, Fuller GW, Giza CC, Guskiewicz KM, Hainline B, Iverson GL, Kutcher JS, Leddy JJ, Maddocks D et al. Introducing the Sport Concussion Office Assessment Tool 6 (SCOAT 6). Br J Sports Med. 2023; 57: 651-667. doi:10.1136/bjsports-2023-106859
Patricios JS, Schneider KJ, Dvorak J, Ahmed OH, Blauwet C, Cantu RC, Davis GA, Echemendia RJ, Makdissi M, McNamee M, Broglio S, Emery CA et al. Consensus statement on concussion in sport: the 6th International Conference on Concussion in Sport-Amsterdam, October 2022. Br J Sports Med. 2023; 57: 695-711. doi:10.1136/bjsports-2023-106898
Silverberg ND et al. The American Congress of Rehabilitation Medicine Diagnostic Criteria for Mild Traumatic Brain Injury. Arch Phys Med Rehabil. 2023; 104: 1343-1355. doi:10.1016/j.apmr.2023.03.036