Biomechanik des Laufens – Implikationen für laufbedingte Verletzungen und zukünftige Forschungsfelder

Editorial von PD Dr. med. Dr. rer. biol. hum. Karsten Hollander, Junior Editor der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin, für die Ausgabe 3/2020. Er geht auf die Ätiologie laufbedingter Verletzungen und modifizierbaren und nicht-modifizierbaren Risikofaktoren sowie auf die Wichtigkeit biomechanischer und interdisziplinärer Untersuchungen ein und beleuchtet neue Entwicklungen: Laufschuh und die Potentiale einer veränderten Kinematik sowie Feldmessungen mit Inertialsensorik und Analyse der Daten mit künstlicher Intelligenz.

Biomechanik des Laufens – Implikationen für laufbedingte Verletzungen und zukünftige Forschungsfelder
© Brian Jackson / Adobe Stock

Laufen zählt seit vielen Jahren zu einer der beliebtesten praktizierten Sportarten weltweit. Aktuellen Schätzungen folgend laufen in Deutschland knapp 18 Millionen Menschen regelmäßig. Neben der Freude an Bewegung und der Natur geben die meisten Läufer eine Verbesserung der Fitness und Gesundheit als Motivation an. Auch die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit steht für viele Läufer im Vordergrund und so werden kontinuierlich hohe Teilnehmer- und Finisherzahlen bei Laufveranstaltungen, wie beispielsweise den großen Stadt-Marathons in Berlin, Frankfurt und Hamburg verzeichnet. Neben den zahlreichen und gut untersuchten Vorteilen des Laufens auf die allgemeine Gesundheit werden auch immer wieder hohe Raten von laufbedingten Verletzungen berichtet. Je nach untersuchter Population und Zeitraum variiert die Prävalenzrate zwischen 20 und 80% (20). Die häufigsten Diagnosen sind dabei das iliotibiale Bandsyndrom, Tendinopathien der Achillessehne und Plantarfaszie, patellofemorale Schmerzsyndrome sowie Stressfrakturen der Tibia und des Mittelfußes (17).

Die Ätiologie von laufbedingten Verletzungen ist multifaktoriell und Risikofaktoren lassen sich in modifizierbar und nicht-modifizierbar unterteilen (13). Neben guter Evidenz für einen hohen Laufumfang (>60km/Woche) und einer laufbedingte Verletzung in der Anamnese als eigenständige Risikofaktoren gibt es zahlreiche Untersuchungen zu anthropometrischen, anatomischen und trainingsbezogenen Parametern, die mit einer laufbedingten Verletzung im Zusammenhang stehen könnten (13). Biomechanische Parameter sind ebenfalls Bestandteil vieler wissenschaftlicher Untersuchungen, wobei die allgemeine Evidenz aktuell noch nicht ausreichend geklärt ist (3).

Fokus der biomechanischen Forschung: Der Laufschuh

Nicht zuletzt durch den ersten Marathon unter 2 Stunden der von Eliud Kipchoge unter laborähnlichen Bedingungen am 12. Oktober 2019 in Wien gelaufen wurde, steht der Laufschuhe im Fokus der biomechanischen Forschung. Neben der aktuellen Diskussion über die Vorteile durch Schuhe auf die Laufökonomie und -leistung (11, 12, 16), ist der Laufschuh auch zentral in der Debatte um laufbedingte Verletzungen. Obwohl seit den 70er Jahren zahlreiche Innovationen, wie z. B. neue Dämpfungssysteme oder Pronationselemente, auf den Markt gekommen sind, konnte keine Reduktion der Verletzungszahlen verzeichnet werden (20). Nigg et al. (2015) (20) propagieren daher einen Paradigmenwechsel weg von starker Dämpfung, korrigierenden Schuhelementen und pauschaler Einlagenversorgung hin zu einem „natürlichen“ und selbstgewählten Bewegungsmuster. Seit der Publikation über kenianische Barfuß-Läufer von Lieberman und Kollegen in der Fachzeitschrift „Nature“ (15) haben sich in den letzten 10 Jahren zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten mit dem Thema des (simuliertem) Barfußlaufens beschäftigt und mittlerweile gibt es viele Modelle verschiedener Hersteller auf dem Markt, die die Biomechanik des Barfußlaufens replizieren sollen (4, 6, 21).

Ein Fokus der aktuellen Forschung in diesem Bereich betrifft das Potential veränderter Kinematik im oberen Sprunggelenk (Vorfußaufsatz) und eine reduzierte Kadenz mit assoziierten geringeren Bodenreaktionskräften (10, 24). Diese stehen seit Jahren im Verdacht, mit bestimmten Verletzungen in Zusammenhang zu stehen, auch wenn die aktuelle Evidenzlage noch nicht ausreichend ist (3, 5). Zukünftige Forschung in diesem Bereich muss sich mit den langfristigen Effekten eines (simulierten) Barfußlaufens beschäftigen und prospektive Studien sind notwendig (9).

PD Dr. Dr. Karsten Hollander
PD Dr. Dr. Karsten Hollander, Junior Editor German Journal of Sports Medicine © Hollander
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Neue technische Innovationen: Inertialsensorik und künstliche Intelligenz

Aktuelle technische Entwicklungen im Bereich der Wearables (23) ermöglichen mittlerweile die Untersuchung biomechanischer Variablen auch außerhalb der Biomechanik-Labore, die sonst oft mit großem technischen und personellem Aufwand betrieben werden müssen. Hierbei können mit Hilfe von „Inertial Measurement Units (IMUs)“, die Beschleunigungs-, Drehraten- und magnetische Sensoren enthalten, beispielsweise kontinuierlich kinematische Daten während einer Trainingseinheit oder eines Wettkampfs gemessen werden (7, 8, 14). Außerdem können indirekt über die Beschleunigung der Tibia auch auftretende Kräfte abgeschätzt werden (14, 22). Die Forschung in diesem Bereich wird voraussichtlich in den kommenden Jahren deutlich zunehmen und muss sich aktuell noch einer ausreichender Validierung für die unterschiedlichen zu messende Parameter und Forschungsfragestellungen unterziehen (18). Insgesamt kann diesem Forschungsbereich aber ein großes Potential in der Anwendung insbesondere auch im Bereich der „Citizen Science“ zugesprochen werden, da mittlerweile viele Uhren und fast alle Smartphones mit einer IMU ausgestattet ist.

Einen weitereren Forschungsbereich mit hohem Potential bringen moderne Verfahren der „künstlichen Intelligenz“ und „Big data“ mit sich (2, 19). Hier ist insbesondere das maschinelle Lernen hervorzuheben, welches darauf abzielt, aus beliebigen Datensätzen Muster und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Das maschinelle Lernen bringt dabei sowohl Möglichkeiten in der Verarbeitung großer biomechanischer Datensätze mit sich, als auch bei der Analyse der multifaktoriellen Genese von laufbedingten Verletzungen mit dem Ziel der Prädiktion dieser (1, 2). Die Prädiktion von Verletzungen ist eine sehr herausfordernde und wichtige Komponente in der Verletzungsprävention.

Bei der Bearbeitung dieser zukünftigen Forschungsbereiche sind wieder einmal die Interdisziplinarität der Sportmedizin gefragt und die Kooperation mit den Feldern der Sportwissenschaften, Physiotherapie, Orthopädie/Traumatologie, Biomechanik, Ingenieurswissenschaften, Informatik und Statistik unerlässlich.

■ Hollander K

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Quellen:

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  2. Casals M, Finch CF. Sports Biostatistician: a critical member of all sports science and medicine teams for injury prevention. Inj Prev. 2017; 23: 423-427. doi:10.1136/injuryprev-2016-042211

  3. Ceyssens L, Vanelderen R, Barton C, Malliaras P, Dingenen B. Biomechanical Risk Factors Associated with Running-Related Injuries: A Systematic Review. Sports Med. 2019; 49: 1095-1115. doi:10.1007/s40279-019-01110-z

  4. Davis IS. The re-emergence of the minimal running shoe. J Orthop Sports Phys Ther. 2014; 44: 775-784. doi:10.2519/jospt.2014.5521

  5. Davis IS, Bowser BJ, Mullineaux DR. Greater vertical impact loading in female runners with medically diagnosed injuries: a prospective investigation. Br J Sports Med. 2016; 50: 887-892. doi:10.1136/bjsports-2015-094579

  6. Esculier JF, Dubois B, Dionne CE, Leblond J, Roy JS. A consensus definition and rating scale for minimalist shoes. J Foot Ankle Res. 2015; 8: 42. doi:10.1186/s13047-015-0094-5

  7. Hoenig T, Hamacher D, Braumann KM, Zech A, Hollander K. Analysis of running stability during 5000 m running. Eur J Sport Sci. 2019; 19: 413-421. doi:10.1080/17461391.2018.1519040

  8. Hoenig T, Rolvien T, Hollander K. Footstrike patterns in runners: concepts, classifications, techniques, and implications for running-related injuries. Dtsch Z Sportmed. 2020, 71: -0. doi:10.5960/dzsm.2020.424

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  10. Hollander K, Liebl D, Meining S, Mattes K, Willwacher S, Zech A. Adaptation of Running Biomechanics to Repeated Barefoot Running: A Randomized Controlled Study. Am J Sports Med. 2019; 47: 1975-1983. doi:10.1177/0363546519849920

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  13. Hulme A, Nielsen RO, Timpka T, Verhagen E, Finch C. Risk and Protective Factors for Middle- and Long-Distance Running-Related Injury. Sports Med. 2017; 47: 869-886. doi:10.1007/s40279-016-0636-4

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  15. Lieberman DE, Venkadesan M, Werbel WA, Daoud AI, D‘Andrea S, Davis IS, Mang‘eni RO, Pitsiladis Y. Foot strike patterns and collision forces in habitually barefoot versus shod runners. Nature. 2010; 463: 531-535. doi:10.1038/nature08723

  16. Lindlein K, Zech A, Zoch A, Braumann KM, Hollander K. Improving Running Economy by Transitioning to Minimalist Footwear: A Randomised Controlled Trial. J Sci Med Sport. 2018; 21: 1298-1303. doi:10.1016/j.jsams.2018.05.012

  17. Lopes AD, Hespanhol LC Junior, Yeung SS, Costa LO. What are the main running-related musculoskeletal injuries? A Systematic Review. Sports Med. 2012; 42: 891-905. doi:10.1007/BF03262301

  18. Machulik C, Hamacher D, Lindlein K, Zech A, Hollander K. Validation of an inertial measurement unit based magnetic timing gate system during running and sprinting. Dtsch Z Sportmed. 2020; 71: 69-0. doi.10.5960/dzsm.2020.42

  19. Memmert D, Rein R. Match analysis, Big Data and tactics: current trends in elite soccer. Dtsch Z Sportmed. 2018; 69: 65-72. doi:10.5960/dzsm.2018.322

  20. Nigg BM, Baltich J, Hoerzer S, Enders H. Running shoes and running injuries: mythbusting and a proposal for two new paradigms: ‘preferred movement path’ and ‘comfort filter’. Br J Sports Med. 2015; 49: 1290-1294. doi:10.1136/bjsports-2015-095054

  21. Tam N, Astephen Wilson JL, Noakes TD, Tucker R. Barefoot running: an evaluation of current hypothesis, future research and clinical applications. Br J Sports Med. 2014; 48: 349-355. doi:10.1136/bjsports-2013-092404

  22. Tenforde AS, Hayano T, Jamison S, Outerleys J, Davis IS. Tibial acceleration measured from wearable sensors is associated with loading rates in injured runners. PM R. 2019 [Epub ahead of print]. doi:10.1002/pmrj.12275

  23. Thiel C, Gabrys L, Vogt L. Measuring Physical Activity with Wearable Accelerometers. Dtsch Z Sportmed. 2016; 67: 44-48. doi:10.5960/dzsm.2016.220

  24. van der Worp H, Vrielink JW, Bredeweg SW. Do runners who suffer injuries have higher vertical ground reaction forces than those who remain injury-free? A systematic review and meta-analysis. Br J Sports Med. 2016; 50: 450-457. doi:10.1136/bjsports-2015-094924