Zwischen Fortschritt und Unsichtbarkeit: Überfordern postvirale Fatiguesyndrome Medizin und Gesellschaft?
Editorial der Ausgabe 2/2024 der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin. Darin werden die medizinisch-wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen vom Post-COVID und einer Vielzahl anderer postviraler Fatigue-Syndrome erörtert. Dieser Artikel ist Teil unseres Fokusthemas "COVID-19: Infos und Empfehlungen". Den Link zur Übersicht aller Beiträge des Themenschwerpunkts finden Sie am Ende des Textes oder durch Eingabe des Suchbegriffs #Covid-19 in das Suchfeld dieser Website.
Die Corona-Pandemie gilt als beendet, aber die Folgen wie ein dramatischer Anstieg der Mortalität betreffen global viele Menschen (36). Nach einer durchgemachten Sars-Cov-2-Infektion erkrankt zusätzlich eine gewisse Anzahl von Menschen teils schwer und dauerhaft an dem, was als Long-COVID (über 4 Wochen) und Post-COVID (mehr als 12 Wochen) bezeichnet wird (35). Eine neuere Definition des CDC (Centers for Disease Control and Prevention) verwendet den Begriff PASC- „Post-acute sequelae SARS-CoV-2 Infection“, der ohne genaue zeitliche Zuordnung auskommt (35, 38).
In der multizentrischen Baden-Württembergischen EPILOC-Studie (29) wurden Patienten mit bestätigter Covid-19-Infektion eingeladen, bei denen PASC bei 28,5% der Teilnehmer oder bei mindestens 6,5% (3289 sicher erkrankte von 50 457 eingeladenen Teilnehmern) in der infizierten erwachsenen Bevölkerung aufgetreten ist, der tatsächliche Wert dürfte dazwischen liegen. Fatigue fand sich bei 37,2% und neurokognitive Störungen bei 31,3% der Probanden (29). Bei 204 805 SARS-CoV-2-positiven Patienten in Schweden fand sich Fatigue bei 25% der Patienten, wenn ICU-behandelt (Intensive Care Unit; Intensivstation), bei 41% (14). Neuere Daten zeigen, dass diese Beschwerden oft Jahre anhalten. Die Dimension wird klar, wenn in einer britischen Studie mit 112 964 Teilnehmern – selbst wenn die akute COVID-Erkrankung nur leicht war – später gewisse kognitive Defizite bestanden. Wenn dagegen Symptome persistierten, nahm die kognitive Leistung um mehrere IQ-Punkte deutlich ab (13). Unabhängig von der beeindruckenden Höhe der Fallzahlen und deren politischer, sozialer und nicht zuletzt ökonomischer Dimension steht das individuelle Leiden an einer Krankheit für sich (6). Dieses zu lindern (Medizin) und die Betroffenen damit nicht allein zu lassen (Solidargemeinschaft) stellen – wenn es sich um die Folgen einer weltweiten Pandemie handelt umso mehr – wesentliche gesellschaftlich organisierte Aufgaben dar.
Während Handlungsbedarf für Forschung und Versorgung immer wieder bekräftigt wird, ist die Situation vieler Betroffener mit PASC jedoch nach wie vor prekär. Dies ist bemerkenswert, denn postinfektiöse Folgeerkrankungen, wie sie auch nach anderen Virusinfektionen wie EBV (Epstein-Barr-Virus) (18), Herpesviren (31), SARS-CoV-2 (19) und anderen Viren (8) vorkommen können, sind weder neue noch seltene Erkrankungen.
Seit 1969 wird das Chronische Fatiguesyndrom ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom) von der WHO als neuroimmunologische Krankheit gelistet (7). In Deutschland allein geht man von einer Prävalenz von über 250 000 (vor der Pandemie) mit hoher Dunkelziffer aus (11). Die Lebensqualität bei ME/CFS gilt als äußerst niedrig. Es kann zu massivsten Einschränkungen und Behinderungen in allen Bereichen des Lebens führen (8, 11), teils zu Pflegebedürftigkeit auch junger Menschen, langfristigem Verlust der beruflichen und sozialen Teilhabe und existenziellen Notlagen, insbesondere, da bestehende versorgungsmedizinische und sozial-rechtliche Logiken (z. B. „Reha vor Rente“) oftmals nicht greifen. Nach wie vor mangelt es an multimodalen Therapien bzw. therapeutischen Konzepten bei gleichzeitig hoher gesellschaftlicher Bedeutung (6, 33). Oft junge Menschen sind arbeitsunfähig und können nicht am Leben teilnehmen (6, 29, 33).
Gängige medizinische Kategoriensysteme und daraus abgeleitete Diagnose-, Behandlungs- und Therapieverfahren stoßen angesichts einer so komplexen und systemischen Erkrankung an ihre Grenzen. Es überrascht in diesem Zusammenhang kaum, dass teils stark polarisierte Diskurse um diese Erkrankungen geführt werden. Dies korrespondiert auch mit einer fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung postviraler Fatiguesyndrome seit sehr langer Zeit. Diese zeigt sich strukturell etwa im Hinblick auf Versorgungsmedizin oder Sozialrecht, institutionell z. B. was Modelle sozialer und beruflicher Inklusion und Teilhabe betrifft bis hin ins soziale Nahfeld (6). Diese Erkrankungen fordern bestehende Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit bzw. Gesundwerden und Kranksein sowohl in Medizin (42) als auch Gesellschaft (22) heraus. Zugleich gerät die medizinische und gesellschaftliche (Nicht-)Anerkennung und Invisibilisierung (6, 15) dieser Erkrankungen (und Erkrankten!) in den Blick, die eigentlich seit Jahrzehnten nicht bzw. nicht angemessen adressiert werden.
Inwiefern aus den nun angestoßenen Bemühungen auf verschiedenen Ebenen Modernisierungsimpulse für Medizin und Gesellschaft erwachsen oder diese Krankheitsbilder eine dauerhafte Überforderung bleiben, wird sich zeigen. Zweifelsohne besteht nach wie vor enormer Handlungsbedarf.
Krankheitsbild und Symptome …
Fatigue tritt besonders während oder nach Belastungssituationen auf (7). Patienten vermeiden den Arztbesuch während schwerer Phasen von Fatigue bzw. er ist ihnen nicht möglich. Klassisch werden Untersuchungen standardisiert ausgeruht vorgenommen, sodass die PASC-Patienten zum Beispiel in neurokognitiven Tests oft besser besser abschneiden können, als der allgemeine Zustand ist. Damit dissoziieren empfundene Symptomschwere des Patienten und objektivierbare Befunde. Ein zentrales Symptom, die Post-Exertional Malaise (PEM), lässt sich schlecht beobachten, da sie typischerweise erst nach einer Konsultation auftritt (7, 11).
Hohe Komplexität (7, 8, 11): Wenn klassisch Ärzte für jedes Symptom systematisch eine Diagnostik durchführen und daraus Diagnose und Therapie ableiten, kommen bei zahlreich betroffenen Organsystemen Arzt und Patient an ihre Grenzen, organisatorisch, zeitlich, finanziell und bei der Belastbarkeit der Patienten. Der Patient ist deshalb die zentrale Auskunftsperson, standardisierte Fragebögen und Selbstberichte der Patienten haben erhebliche Bedeutung für Diagnostik und Therapie, das ärztliche Gespräch gewinnt an erheblicher Relevanz (11, 39).
Prädiktoren postviraler Erkrankungen und typische Verläufe wurden nur von wenigen ME/CFS- und Übertrainingsforschern untersucht, typische Marker und Kriterien müssen erarbeitet werden (8, 38). PASC verläuft wahrscheinlich in typischen Phasen, akute zelluläre und immunologische Aktivierung (8, 19), Mikrothromben (5), Neuropathie (27), Autoimmunität (24, 37) gefolgt von verschiedenen Störungen, die auch gleichzeitig auftreten können wie neurokognitive Störungen und Neuroinflammation (2), Störungen der mitochondrialen Atmung (4), Muskelatrophie (3), Durchblutungs- (12) und Lungendiffusionsstörung (34), intestinale Microbiota und Inflammation (gut-brain-Achse) (23, 25), sekundäres postinfektiöses Mastzellsyndrom (1), neuro-psychiatrische Symptome (20, 25). Wenn sich das Krankheitsbild mit ME/CFS voll entwickelt hat, sind therapeutische Ansätze schnell überfordert.
Psychische Belastungsreaktionen sind bei postviralen Fatiguesyndromen häufig (25, 29, 38), sind aber von genuin psychischen, psychiatrischen oder psychosomatischen Erkrankungen abzugrenzen (20). Bei postviralen Syndromen lässt sich bei sorgfältiger Anamnese oft der Zeitpunkt des Auftretens und der Infektion benennen. Oft waren die Patienten bis dahin gesund und leistungsfähig. Das bedeutet natürlich eine angemessene Therapie – und zwar für eine Depression ebenso wie für das postvirale Fatiguesyndrom.
Prädiktoren wie ein Reizdarmsyndrom (17, 23), Stress, Allergien (40), Autoimmunität (24), Ernährung oder virale Begleitinfektionen (19, 31) begünstigen den Übergang in ein postvirales Fatiguesyndrom (33, 38), sind aber nicht genuin psychisch oder psychosomatisch verursacht. Genetische Polymorphismen, die mit hoher körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit und hoher Immunität einhergehen, können bei ungünstigen Umständen Prädiktoren postviraler Fatiguesyndrome sein. Die Wechselbeziehung zwischen Prädiktoren, Umfeldfaktoren, Genetik und Begleiterkrankungen wird ein wichtiges Forschungsfeld sein.
Pacing vs. Aktivierung: Eine Herausforderung besteht darin, dass für psychisches Wohlbefinden gut wirksame Coping-Strategien wie Sport, soziale Kontakte und Aktivitäten je nach Schweregrad nur noch eingeschränkt, kaum oder oftmals gar nicht mehr möglich sind, Aktivierung schadet in solchen Fällen (19, 20, 29, 38). Hingegen helfen Entspannungsverfahren, eine reizarme Umgebung und Pacing – und die Anerkennung der momentanen Belastungsgrenzen (20, 39).
Therapie ist notwendig, oft aber komplex: Aus einer strukturierten Diagnostik inklusive Biomarkern, Klassifizierung und Bewertung der Befunde und Krankheitsstadien (19, 33, 39, 40) lassen sich rationale Therapiestrategien ableiten, die in der Summe komplex sein können. Natürlich gibt es zu wenige konfirmatorische prospektive Therapiestudien zu speziellen Indikationen – und diese sind zwingend notwendig. Zugleich ist jedoch hinreichend fundiertes Wissen für rational begründete Therapien vorhanden, das man Betroffenen nicht vorenthalten darf, die oft sehr schwer krank sind und deren Zukunft bedroht ist. Das ist eine ethische Verpflichtung für alle: Gesellschaft, Kostenträger, Ärzte und Therapeuten (42). Es wiegt schwer, wenn das Vertrauen in das etablierte medizinische Hilfesystem erodiert und sich Erkrankte in ihrer Verzweiflung eventuell fraglichen oder gänzlich unseriösen, oft teuren Heilsversprechen zuwenden.
… haben ein Anerkennungsproblem
Gesundheit und Krankheit sind nicht nur medizinische Kategorien oder individuelles Schicksal, sie sind gesellschaftlich vermittelt (10, 26, 28). Postvirale Fatiguesyndrome verdeutlichen diese Gesellschaftlichkeit von Gesundheit und Krankheit, da gängige Vorstellungen von Gesundwerden und Kranksein nicht richtig gut greifen. Gleichzeitig bestätigen sie einmal mehr den allgemeinen Befund gesundheitlicher Ungleichheit (21), etwa im Hinblick auf finanzielle Möglichkeiten für off-Label-Therapien oder die Fähigkeit, sich zu informieren.
Kategorien und Klassifizierungen: Durch Evidenzbasierung, zunehmende Ausdifferenzierung und hohe Spezialisierung wurde und wird in der Medizin ein enormer Fortschritt im Sinne der Verbesserung der Versorgung, der Diagnostik, Behandlung und Heilung von Krankheiten erreicht. Zugleich scheint der Umgang mit Phänomenen schwierig, die sich nicht standardisierten Klassifikationen zuordnen lassen, da dies in diesem – auch epistemischen – System eigentlich nicht vorgesehen ist.
Zurechnung ins Psychische: Die Diagnosen psychischer Erkrankungen steigen insgesamt in den vergangenen Jahren kontinuierlich an (22). Zugleich kann die Tendenz in der Gesellschaft beobachtet werden, dass auch alltägliche Probleme und alltägliche soziale Verhaltensweisen psychologisiert und zunehmend mit einem therapeutischen „Sprech“ versehen werden, wodurch Grenzen verschwimmen (22, 30). Gleichzeitig hat die Zuschreibung psychosomatisch bzw. psychisch krank im sozialen Miteinander nach wie vor oft pejorativen Charakter und geht mit Stigmatisierungen einher (6, 30, 32), deren gesellschaftlichen Ursachen an anderer Stelle weiterhin dringlich nachzugehen (und entgegenzutreten) wäre.
Im Falle postviraler Fatiguesyndrome ist die Einordnung in den Bereich des Psychischen zum einen problematisch, weil damit häufig Therapiemethoden abgeleitet werden, die auf Aktivierung setzen. Diese können jedoch zu einer möglicherweise dauerhaften Verschlechterung führen, wenn sie nicht individuell und äußerst vorsichtig an die jeweiligen Belastungsgrenzen angepasst werden (7, 11, 20, 39).
Zum anderen sind psychische Erkrankungen, etwa eine Depression, ernstzunehmende, oft schwere Krankheiten, die einer eigenen, sorgfältigen und fachkundigen Abklärung und Therapie bedürfen; auf keinen Fall sind psychologische Diagnosen bzw. Zuschreibungen eine Art Container für (noch) Unerklärtes oder Uneindeutiges. Diese Form des Gleichmachens verkürzt und verharmlost das Leid (en) psychisch erkrankter Menschen und macht diese Erkrankungen beliebig. Zugleich hat eine solche Fehlkategorisierung die Anerkennung von postviralen Folgeerkrankungen als komplexe Syndrome lange Zeit verhindert.
Körper, Geist und Seele sind als Einheit anzusehen und es ist naheliegend, dass es im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes und, ähnlich wie z. B. in der Psychoonkologie oder Psychokardiologie, psychologische, psychotherapeutische und psychosoziale Ansätze braucht, die die Betroffenen und ihre Angehörigen im Umgang mit der Erkrankung schulen und ihnen helfen, mit der Situation und den gegebenen Einschränkungen besser umgehen zu können (6, 11, 26, 42). Es ist bedenklich, wenn Betroffene Hilfestellungen ablehnen (6, 42) aus der – nicht ganz unberechtigten – Sorge heraus fortan, insbesondere im medizinischen System ausschließlich als psychisch erkrankte Person gelesen zu werden.
Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit: Postvirale Fatiguesyndrome sind den Betroffenen auf den ersten Blick nicht unbedingt anzusehen und es gibt noch keinen Konsens bzgl. Organbefunden oder Biomarkern. Schwer- und Schwerstbetroffene sind so stark beeinträchtigt, dass sie Wohnung bzw. Bett nicht verlassen können, und sie wenige bis keine Möglichkeiten haben, medizinische Hilfsangebote wahrzunehmen (7, 9, 11). Sie werden im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar und stumm.
Eines der Leitsymptome postinfektiöser Fatiguesyndrome ist die Post-Exertional Malaise (PEM) (11, 29, 38). Sowohl für die Betroffenen als auch für das soziale Umfeld und medizinisches Personal ist dies sehr herausfordernd. Die Erkrankten können punktuell „Leistung“ abrufen, die PEM tritt meist erst Stunden später oder am nächsten Tag auf. Die Ausprägung teilweise über Tage und Wochen bleibt dann aber meist – außer dem nächs-ten Umfeld – diagnostisch unsichtbar (11, 38). Darin besteht eine sozial erzeugte, wenngleich freilich unbeabsichtigte Invisibiliserung von Leiden (6, 15), die zur ursprünglichen Krankheit hinzutritt. PEM ist der Grund für die Pacing-Strategie, die dazu anleitet, z. B. durch Aufteilung von Aktivitätsschritten, Einsatz von Hilfsmitteln, Pausen- und Entspannungszeiten und einer veränderten Organisation auch von ganz alltäglichen Abläufen wie z. B. Aufstehen, Anziehen, etc. unterhalb der erwarteten Belastungsgrenzen zu bleiben und diese langsam zu erweitern (11). Dies steht üblichen Aktivierungsstrategien in Therapiekontexten entgegen. In einer Zeit, in der sich viele Menschen durch das Erleben zahlreicher Krisen erschöpft und ausgelaugt fühlen, führt ein solches Krankheitsbild möglicherweise zu fehlgeleiteten Übertragungen. Auch dies erschwert das Erfassen und Anerkennen des komplexen Krankheitsbildes.
Es lässt sich argumentieren, dass das postvirale Erschöpfungssyndrom und seine Krankheitsmechanismen den gemeinschaftlich geteilten Auffassungen von Gesundheit und Krankheit, insbesondere den Prozessen des Gesundwerdens und Krankseins, sowie gesellschaftlichen Vorstellungen wie Leistungsethos, Anstrengungsbereitschaft und dem Glauben an kontinuierlichen Fortschritt entgegenstehen. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass die Symptome dann fälschlicherweise als Zeichen mangelnder Willensstärke oder fehlender Motivation fehlinterpretiert werden, oder es kommt zu der ungeduldigen Aufforderung: „Jetzt ist dann auch mal gut“. Die fehlende Anerkennung von Fatiguesyndromen in Medizin und Gesellschaft kann also auch darauf zurückgeführt werden, dass sie implizit gesellschaftliche Regeln und Anerkennungsnormen (16) von Kranksein und Gesundwerden unterlaufen.
Versorgungsstrukturen: Wohlfahrtsstaatlich und sozialpolitisch bestehen seit Jahrzehnten erhebliche Probleme in der Anerkennung postviraler Fatiguesyndrome, mit teilweise existenziellen Folgen für die Erkrankten (6). Das Sozialrecht und die Bürokratie tun sich leicht, eine Behinderung zum Beispiel aufgrund einer Amputation anzuerkennen. Wenn ein PASC-
Patient keine Kraft mehr hat oder sogar im Rollstuhl sitzt, tut sich die Versorgungsmedizin schwer; ein lange bekanntes Problem unseres Sozialrechts ist, dass unsichtbare Leiden schlecht anerkannt werden. Folge hiervon ist mitunter, dass Unterstützungsleistungen (z. B. Hilfsmittel, Grad der Behinderung, Pflegeleistungen, Rente, aber auch am Arbeitsplatz, in Schulen, Ausbildung, Hochschulen, etc.) entweder zäh individuell erkämpft werden müssen oder schlichtweg verwehrt werden (42). Mit anderen Worten: die Erkrankten müssen nicht nur mit den teils schweren und schwersten Einschränkungen leben (lernen), sondern fast immer auch um Anerkennung und Unterstützung im sozialen Umfeld und bei/in Institutionen kämpfen (6). Das gilt auch für notwendige Therapien (33), für die trotz rationaler Therapiestrategien oftmals eine Kostenerstattung verweigert wird.
Es ist anzunehmen, dass die personale Integrität (16) nicht nur durch die Erkrankung selbst, sondern in erheblichem Maße auch durch den gesellschaftlichen Umgang damit beschädigt werden kann. Professionelle Praktiken und bürokratische Routinen im Medizin- und Versorgungssystem etwa können, ohne es zu wollen, strukturelle Gewalt ausüben und sind stets im Feld gesellschaftlicher Machtbeziehungen zu verorten (6, 41). Zu denken ist aber beispielsweise auch an Diskurse, die über diese Krankheit und Erkrankten geführt werden und die die Wahrnehmung in Medizin und Gesellschaft beeinflussen.
Schlussfolgerungen
Aus den Überlegungen folgt, dass es bei diesem komplexen Krankheitsbild signifikanter Differenzierungsbemühungen in Medizin und Gesellschaft bedarf.
- Zu diesen Bemühungen zählt die Haltung, den erkrankten Menschen und ihren Leidensbeschreibungen zu glauben und ihre Situation anzuerkennen. Ärztlicherseits entspringt daraus eine ethische Verpflichtung, den teils schwerstkranken Menschen zu helfen, deren ganze Zukunft auf dem Spiel stehen kann. Es stimmt nachdenklich, wenn Behandler einen rechtlich abgesicherten Rahmen beklagen.
- Patienten haben Anrecht auf Hilfsmittel und Medikamente, und zwar nicht nur, wenn sie privatversichert oder finanziell bessergestellt sind oder ein verständiger Mitarbeiter bei einem Kostenträger eine Ausnahmeentscheidung trifft.
- Eigentlich erlaubt das Bundessozialgericht (BSG vom 19.03.2002, Az.: B 1 KR 37/00 R) „bei schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankungen“ die Kostenerstattung von Behandlungen, wenn „außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen besteht“. Dies ermöglicht Kostenerstattungen, obwohl die Gerichte dies oft sehr (viel zu) eng auslegen.
- PASC kann in ME/CFS übergehen, was alles kompliziert. Rechtzeitig behandeln, bevor sich das Krankheitsbild mit ME/CFS voll entwickelt hat, statt therapeutisch abzuwarten, ist wahrscheinlich die bessere Strategie. Daneben braucht es dringend weitere medizinische Forschung, um wirksame Therapien zu entwickeln.
- Es braucht ein holistisches Verständnis und Therapieoptionen, die nicht neben- sondern ineinandergreifen. Dazu gehören auch neue Formate der telemedizinischen Konsultation und Edukation.
- PASC und ME/CFS müssen auf wohlfahrtsstaatlicher und sozialpolitischer Ebene dringend anerkannt werden. Schwerbehindertenstatus und Pflegeeinstufung sind oft wichtig, um die Patienten existenziell abzusichern, das heißt, den Alltag zu bewältigen und eine Teilhabe am Arbeitsplatz zu ermöglichen.
- Es braucht mehr Aufmerksamkeit für die Gesellschaftlichkeit von Gesundheit und Krankheit und die daraus resultierenden sozialen und medizinischen Folgen – für Erkrankte und Angehörige, im medizinischen Versorgungs- und Hilfesystem, sowie auf gesamtgesellschaftlicher Ebene!
■ Steinacker JM, Klinkisch E-M
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