Übertraining, Erholung, Resilienz: Wie können Athleten energieeffizient trainieren?

Übertraining, Erholung, Resilienz: Wie können Athleten energieeffizient trainieren?
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Wenn Sportler allzu ehrgeizig trainieren oder zu viele Wettkämpfe in kurzer Zeit absolvieren, können sie in ein Übertraining geraten. Dieser »Sportler-Burnout« ist ein regelrechtes Chamäleon an Symptomen und deshalb schwierig zu diagnostizieren. Der Blick auf Prävalenzen des Übertrainingssyndroms von 10 bis zu 64 Prozent und hohen Rückfallraten macht deutlich, warum ein genaues Monitoring und weitere Forschung notwendig sind. Dr. Sarah Jakowski, Sportwissenschaftlerin an der Ruhr-Universität Bochum, forscht u. a. auf dem Gebiet sportpsychologischer Erholungsstrategien, Erholungs-Beanspruchungs-Monitoring und Schlaf. Sie entwickelt Fragebögen und arbeitet im Projekt »Regenerationsmanagement im Spitzensport (REGman)« (7) mit.

Die Forscherin beschreibt Übertraining als einen Prozess, der sich über mehrere Wochen und Monate erstreckt. »Charakteristisch ist, dass die Leistung stagniert oder sogar abnimmt, obwohl ausreichend trainiert wird. Wenn falsche Trainingsgestaltung – in der Regel eine Mischung aus zu viel, zu häufig und zu intensiv – auf mangelhafte Regenerationsphasen trifft, kommt eine schädliche Kaskade in Gang, die den Athleten oder die Athletin im schlimmsten Fall physisch und psychisch für Monate, manchmal sogar Jahre ausbremst.«

Übertraining: Warnsignale werden oft übersehen

Leider ähneln die Merkmale eines Übertrainingssyndroms in vielerlei Hinsicht anderen Erkrankungen und Befindlichkeitsstörungen. Oft werden sie deshalb nicht etwa auf die leeren Energiespeicher der Athleten zurückgeführt, sondern z. B. als Depression etikettiert. Dr. Jakowski nennt die häufigsten Symptome: »Wenn negative Stimmungslagen, Reizbarkeit, Motivationsverlust und Abgeschlagenheit zunehmen, Schlaf und hormonelle Balance gestört sind und dazu noch Kopf- und Muskelschmerzen, ein dauerhaft erhöhter Puls sowie unerklärlicher Leistungsabfall trotz hoher Trainingspensen auftreten, sollte man unbedingt hellhörig werden.«

Solche und noch viele weitere Anzeichen zählt auch ein internationales Konsensus­papier zur Diagnose, Behandlung und Prävention von Übertraining auf (5). Hauptmerkmal von echtem Übertraining gegenüber den ihm vorangehenden Phasen ist die Persistenz der Symptome über Wochen, manchmal Monate. Während kurzzeitige funktionale Überlastung im Rahmen der Reizstufen-Regel nach Roux sogar notwendig ist, um Leistungssteigerungen zu erreichen, kann ein anhaltendes »Zuviel« über den Zwischenschritt nichtfunktionaler Überlastung in ein Übertrainingssyndrom münden. Dieses ist letztlich eine Schutzfunktion des Körpers, um weitere Schäden zu verhindern.

Eine Diagnose per Ausschluss-System

Privatdozent Dr. med. Johannes Fleckenstein ist Facharzt für Anästhesiologie, Sportmedizin und Schmerztherapie, lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt/Main am Institut für Sportwissenschaften und forscht in den Bereichen Neurophysiologie, myofasziale Schmerzen und integrative Medizin. Er weiß, dass man sich der Diagnose eines Übertrainingssyndroms nur per Ausschlussverfahren nähern kann: »Die Suche nach dem einzig richtigen Überlastungsindikator ist der heilige Gral der Sportwissenschaften. Leider ist der Weg dorthin noch lang. Zwar beschreiben zahlreiche Untersuchungen Stressmarker wie Speichelcortisol, Entzündungswerte im Blut oder veränderte Enzymexpressionen. Sie sind aber hauptsächlich in der individuellen Betrachtung eines Athleten über den Saisonverlauf hilfreich, um gegebenenfalls homöostatische Veränderungen als Signale für Übertraining interpretieren zu können.«

Diverse Studien geben Dr. Fleckenstein recht: Signifikante Aussagekraft haben Blutwerte kaum. Am vielversprechendsten scheinen noch Harnstoff und IGF-1 für Ausdauersportler und Kreatinkinase für Kraftdisziplinen zu sein (3). In jedem Fall müssen zunächst somatische Pathologien ausgeschlossen werden, darunter

■ endokrinologische Störungen (Schilddrüse, Nebenniere, Bauchspeicheldrüse)
■ Mangelerscheinungen (v. a. Magnesium, Eisen)
■ Infektionskrankheiten (z. B. Myokarditis, Hepatitis, EBV, Borreliose)
■ muskuloskelettale Verletzungen
■ Herz-Kreislauf-Erkrankungen
■ Allergien/Asthma bronchiale
■ Ernährungsfehler/Essstörungen

Aber Achtung! Manche hinweisgebenden Befunde für eine Funktionale Überlastung, Nichtfunktionale Überlastung oder ein Übertrainingssyndrom (OTS) können auch auf andere Erkrankungen hinweisen (5, 8).

Physiologische Marker sind hilfreich, um Störungen im Kontinuum von Erholung und Ermüdung aufzuspüren. Eine nichtinvasive, kostengünstige und von Athleten gut tolerierte Maßnahme ist etwa die Überwachung des autonomen Nervensystems durch Herzfrequenz- oder Herzfrequenzvariabilitätsmessungen (4, 5). Am aussichtsreichsten bei der Suche nach OTS-Auslösern sind trainingsbedingte Faktoren (5):

■ Insgesamt zu hohes Trainingspensum
■ Ungleichgewicht zwischen Belastung und Erholung
■ monotones Training
■ zu hohe Wettkampfdichte
■ persönliche/emotionale Probleme
■ Schlafstörungen
■ Höhenexposition und Hitzestress
■ Zeitzonenwechsel

Auch Dr. Jakowski plädiert für genaues Hinschauen statt Laborparameter: »Meines Wissens gibt es bislang keine seriösen ,Red flags‘, die ein drohendes Übertraining anzeigen. Im REGman-Projekt haben wir gelernt, dass es nicht den einen richtigen Parameter gibt. Sinnvoll ist hingegen das kontinuierliche Monitoring von Trainingsbelastung und subjektiver Response. Dafür gibt es u. a. sehr gute Fragebögen.«

Sarah Jakowski
Dr. Sarah Jakowski, Sportwissenschaftlerin an der Fakultät für Sportwissenschaft, Ruhr- Universität Bochum © Jakowski

Ein Muss: Psychologisches Assessment

Da ein Großteil aller Anzeichen von Übertraining psychischer Natur ist, muss diesem spekt besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dr. Jakowski plädiert für Tools, die zur Sportart passen, kosten­effizient sind und das aktuelle Befinden der Athleten auf mehreren Dimensionen erfassen: »Ganz wichtig ist, sich klarzumachen, dass niedrige Beanspruchung nicht automatisch mit guter Erholung gleichzusetzen ist! Gleichzeitig sollten die Verfahren nicht zu lang sein. Ein kompaktes, ausreichend vielseitiges Instrument ist etwa das Akutmaß Erholung und Beanspruchung (AEB) von Kellmann und Kölling, das auch als Kurzskala Erholung und Beanspruchung (KEB) verfügbar ist (siehe unten »Weiterführende Literatur«). Die Stärke dieses Manuals liegt darin, dass es zum einen den Entwicklungsprozess inklusive Validierungsstudien beschreibt und zum anderen konkrete Handlungsempfehlungen gibt.«

Dr. Fleckenstein setzt ebenso auf das Assessment durch Gespräche und Fragebögen: »Steht der Verdacht einer Überlastung oder eines Übertrainings im Raum, braucht es neben diagnostischer und therapeutischer Erfahrung geeignete Instrumente, um relevante Problemfelder eingrenzen zu können. In der systematischen Anwendung hat sich z. B. der von Dr. Anke Bumann vorgestellte Sportschmerzfragebogen bewährt (2). Mit ihm kann man ein Spinnendiagramm biopsychosozialer Variablen erstellen und mit der passenden Alterskohorte abgleichen. Ein einzelner Fragebogen ist selten ausreichend, da hier so viele Faktoren zusammenspielen, die erst in Summe zur Ausprägung eines Übertrainingssyndroms beitragen.«

Weitere Tools zum Assessment sportlicher Leistung und Erholung haben Nässi, Ferrauti et al. übersichtlich vorgestellt (6). Praktische onlinebasierte Lösungen sind z. B. das Synergetische Navigationssystem (SNS), das zur Prävention nichtfunktionaler Überlastung, Förderung der Leistungsfähigkeit, Verletzungsprophylaxe und psychischen Stabilisierung eingesetzt wird (8), oder das Athleten-Monitoringprogramm REGmon, das im Rahmen des Projekts REGman etabliert wurde (7).

Tabelle Übertraining: Stufen der Belastung und Überlastung
© DZSM 2022, adaptiert aus Quelle (8)

Erholung ist multifaktoriell

Ein internationales Konsensus­papier definiert gute Erholung im Sport als Kombination von passiven, aktiven und proaktiven Recovery-Maßnahmen. Passive Methoden reichen von Massagen, Kompressionsbekleidung oder Kaltwasser-Anwendungen bis hin zu Powernapping und gutem Schlafmanagement. Aktive Erholungsstrategien bestehen z. B. aus lockerem Auslaufen, Foamrolling oder Stretching; sie haben eine Kompensation der metabolischen Effekte körperlicher Ermüdung zum Ziel. Zur proaktiven Erholung gehören etwa selbstgewählte soziale Aktivitäten oder die Verfolgung persönlicher Hobbys in der Freizeit – das typische »Kopf-Freikriegen« (5, 7). Insgesamt sollte Erholung als integraler Bestandteil der Trainingsstrategie angesehen werden. Unter Berücksichtigung der Saisonphase, sportartspezifischer Trainingsreize (ermüdend für Körper/Geist/Metabolismus?), persönlicher Belastungsgrenzen und Bedürfnisse des Athleten muss sie zum Trainingspensum passen. Je länger sich der Athlet bereits im Monitoring befindet, desto besser können anhand von Langzeitdaten Anpassungen am Konzept vorgenommen werden. Diese hochindividuelle Erholungsüberwachung ist eine der anspruchsvollsten Aufgaben moderner Sportmedizin und -psychologie.

Behandlung des Übertrainingssyndroms

Eine spezifische Therapie des Übertrainingssyndroms existiert leider nicht. Ohne dras­tische Reduktion der Trainingshäufigkeit und -inten­sität über einen längeren Zeitraum kommt man jedoch nicht aus; am besten wenden sich Betroffene für diese Zeit gemäßigtem Gesundheitssport zu. Physiotherapeutische und (sport)psychologische Interventionen helfen bei der Wiederherstellung der körperlichen und mentalen Stabilität. Viele Betroffene profitieren von Aufenthalten in der Natur, »Tapetenwechsel« und der Eindämmung psychosozialer Stressoren. Wiegen die depressiven Symptome sehr stark, kann die adjuvante Gabe von Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern erwogen werden. Gegen Schlafstörungen kann ggf. vorübergehend Tradozon gegeben werden. Fühlt sich der Athlet besser, kann er langsam wieder ins Training der eigenen Sportart einsteigen, anfangs bei 20 bis 30 Minuten täglich mit ein bis zwei freien Tagen pro Woche und Erhöhung in kleinen Schritten (8).

Kann man Resilienz trainieren?

Am besten kennt ein Athlet sich selbst. Auch bei optimaler Begleitung durch Trainer, Physiotherapeuten und Sportmediziner hat deshalb er die Aufgabe, im richtigen Moment Signale zu geben – noch bevor die ernsthafte Gefahr eines Übertrainings entsteht. Dr. Fleckenstein sieht diese Selbstwirksamkeit als wichtigen Aspekt von Resilienz: »Eine gute psychische Widerstandskraft und der offene Umgang mit eigenen Grenzen beugt definitiv der Entstehung stressinduzierter Erkrankungen vor, wozu auch das Übertrainingssyndrom gehört.« Er kann sich eine Integration entsprechender sportpsychologischer Interventionen in den Trainingsalltag gut vorstellen, denn: »Resilienz lässt sich durchaus üben!«

Das A und O: Prävention

Damit es erst gar nicht zu Überlastung kommt, sollten passende Präventionstools regelhaft zur Anwendung kommen, am besten im Rahmen sportpsychiatrischer Screenings. Dr. Fleckenstein wünscht sich spätestens auf Wettkampfebene ein standardisiertes Vorgehen, das nur Vorteile hätte: »Neben dem Übertrainings-Risiko sind Sportlerinnen und Sportler auf Leistungsebene ja erfahrungsgemäß auch anfälliger für manchen Substanzmissbrauch sowie psychiatrische Erkrankungen.«

Und was ist mit Nahrungsergänzungsmitteln? »Adäquate Ernährung ist essenziell für eine gesunde Homöostase«, sagt Dr. Fleckenstein. »Trotzdem spielen Mikronährstoffe beim Übertrainingssyndrom nur dann eine Rolle, wenn eklatante Mängel bestehen. Sie sollten nur im Rahmen eines therapeutischen Plans eingenommen werden, nicht auf eigene Faust.« Hinweise auf signifikant leistungssteigernde oder erholungsrelevante Wirkungen von Supplementen gibt es ohnehin nicht (1). Dr. Jakowski betont schließlich, dass Athletengesundheit eine kollektive Aufgabe ist: »Es ist enorm wichtig, dass das Thema Gesundheit ganzheitlich betrachtet wird und alle Beteiligten interdisziplinär zusammenarbeiten. Trainerinnen und Trainer können diese Aufgabe nicht allein übernehmen.«

Priv.-Doz. Dr. med. Johannes Fleckenstein, Akademischer Oberrat und Facharzt für Anästhesiologie an der Goethe-Universität Frankfurt.
Dr. Johannes Fleckenstein, Facharzt für Anästhesiologie, Sportmedizin und Schmerztherapie, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Institut für Sportwissenschaften (Abteilung Sportmedizin) © Fleckenstein
Weiterführende Literatur

Tim Meyer, Alexander Ferrauti, Michael Kellmann, Mark Pfeiffer (Hrsg.): Regenerationsmanagement im Spitzensport. REGman – Ergebnisse und Handlungsempfehlungen. Sportverlag Strauß, 2016
(Kostenloser Download unter www.bisp.de)

Tim Meyer, Alexander Ferrauti, Michael Kellmann, Mark Pfeiffer (Hrsg.): Regenerationsmanagement im Spitzensport (Teil 2). REGman – Ergebnisse und Handlungsempfehlungen. Sportverlag Strauß, 2020
(Kostenloser Download unter www.bisp.de)

Cover: Kellmenn, Kölling. Das Akutmaß und die Kurz­skala zur Erfassung von Erholung und Beanspruchung im SportMichael Kellmann, Sarah Kölling. Das Akutmaß und die Kurz­skala zur Erfassung von Erholung und Beanspruchung im Sport. 1. Aufl., Sportverlag Strauß, 2020

 

 

■ Kura L

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Quellen:

  1. Academy of Nutrition and Dietetics (AND), Dietitians of Canada (DC), and American College of Sports Medicine (ACSM). Nutrition and Athletic Performance, Medicine & Science in Sports & Exercise. 2016; 48: 543-568. doi:10.1249/MSS.0000000000000852

  2. Bumann A, Banzer W, Fleckenstein J. Prevalence of Biopsychosocial Factors of Pain in 865 Sports Students of the DACH (Germany, Austria, Switzerland) Region - A Cross-Sectional Survey. J Sports Sci Med. 2020; 19: 323-336.

  3. Hecksteden A, Skorski S, Schwindling S, Hammes D, Pfeiffer M, Kellmann M, et al. Blood-Borne Markers of Fatigue in Competitive Athletes – Results from Simulated Training Camps. 2016; PLoS ONE 11: e0148810. doi:10.1371/journal.pone.0148810

  4. Kellmann M, Bertollo M, Bosquet L, Brink M, Coutts AJ, Duffield R, Erlacher D, Halson SL, Hecksteden A, et al. Recovery and Performance in Sport: Consensus Statement. Int J Sports Physiol Perform. 2018; 13: 240-245. doi:10.1123/ijspp.2017-0759

  5. Meeusen R, Duclos M, Foster C, Steinacker J, et al. Prevention, diagnosis, and treatment of the overtraining syndrome: joint consensus statement of the European College of Sport Science and the American College of Sports Medicine. Med Sci Sports Exerc. 2013; 45:186-205. doi:10.1249/MSS.0b013e318279a10a

  6. Nässi A, Ferrauti A, Meyer T, Pfeiffer M, Kellmann M. Psychological tools used for monitoring training responses of athletes. Performance Enhancement & Health. 2017; 5: 125-133. doi:10.1016/j.peh.2017.05.001

  7. Projekt Regenerationsmanagement im Spitzensport (REGman) [abgerufen am 20.01.2022]

  8. Schorb A, Niebauer J, Aichhorn W, Schiepek G, Scherr J, Claussen MC. Overtraining from a sports psychiatry perspective. Dtsch Z Sportmed. 2021: 72: 271-279. doi:10.5960/dzsm.2021.496