Schmerz-Selbsthilfe per Youtube – wie gut sind die Videos?

Schmerz-Selbsthilfe per Youtube – wie gut sind die Videos?

Jeder kennt es: Mal schmerzt beim Radfahren das Knie, mal der Nacken, der untere Rücken, der obere Rücken, die Schulter, das Handgelenk… Betreibt man intensiv Sport, sind verschiedenartige körperliche Beschwerden an der Tagesordnung. Doch soll man deswegen immer gleich zum Arzt? Oder kann man sich vielleicht auch selbst behandeln? Das Internet ist voll mit Tipps und Videos zur Schmerz-Selbsthilfe. Mit dem Suchwort „Knieschmerzen“ auf Google werden über 43 000 Videos gefunden. Youtube, die meist genutzte Videoplattform, lädt ein zum „3-Minuten-Trick gegen Knieschmerzen“, „OHNE nervige Übungen – Knieschmerzen effektiv loswerden“, „Knieschmerzen innen (ist kein Knorpelschaden!) | Ursache & Lösung durch Übungen“, „Läuferknie in 17 Sekunden loswerden“ und vielem mehr.

Häufig ähnelt sich das vorgeschlagene Vorgehen, beispielsweise die empfohlenen Übungen, doch auch eine Reihe von Einzelmeinungen sind vertreten. Angebote von Personen mit mutmaßlich vorhandener Fachkenntnis (Ärzte, Physiotherapeuten, Osteopathen, (angehende) Sportmediziner stehen neben Videos von Fitness-Trainern, Sportlern, selbst Betroffenen und Anbietern mit wirtschaftlichem Interesse. Wie gut, sinnvoll und evidenzbasiert die Inhalte sind, ist für den Durchschnitts-Schmerzgeplagten nicht zu entscheiden. Dass die Informationen häufig nicht den aktuellen Therapieempfehlungen entsprechen, haben brasilianische Wissenschaftler untersucht (8). Von 200 analysierten Youtube-Videos zu Rückenschmerzen enthielten 50 Prozent Informationen, die mit klinischen Leitlinien in Einklang waren. Aber ausprobieren kann man es doch trotzdem einfach mal, oder?

„Wenn Online-Schmerz-Selbsthilfe nicht funktioniert, wird ein Arzt konsultiert“

Prof. Dr. Sven Reuter ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sportmediziner sowie Physiotherapeut und betreut als Mannschaftsarzt das deutsche Leichtathletik Mehrkampfteam. In seiner Praxis arbeitet er im Team mit Sportphysiotherapeuten, um die Patienten von der Diagnose bis zur Reha eng begleiten zu können. „Wir sehen immer wieder Patienten, die zuvor mit Online-Selbsthilfevideos versucht haben, die Beschwerden in den Griff zu bekommen. Wenn das nicht funktioniert hat, oder die Beschwerden sich dadurch sogar verschlechtert haben, wird ein Arzt konsultiert“, erzählt er. Die Autorin dieses Artikels hat zusammen mit Prof. Reuter einige – vor allem nach Anzahl der Abonnenten des Kanals, ausgewählte – Selbsthilfevideos zum Suchbegriff „Frozen Shoulder“ angesehen, um einen Eindruck zu bekommen, ob die Angebote für Betroffene hilfreich sein können. Klar ist, dass diese Auswahl nicht repräsentativ oder vollständig ist und nicht nach wissenschaftlichen Kriterien im Detail analysiert wurden. Dennoch wurden die Videos hinsichtlich folgender Fragen angesehen:

  • Evidenz für das Vorgehen
  • Ausführung der Übungen
  • Qualität der Anleitung zur Durchführung
  • Gefahr für fehlerhafte Ausführung

Drücken und Dehnen

Beschäftigt man sich mit Online-Schmerz-Selbsthilfe, kommt man um das Liebscher & Bracht-Imperium nicht herum. Mit über 1,3 Millionen Abonnenten auf Youtube scheinen L&B bei weitem die größte Followerschaft zu haben. In der Fachcommunity wird die Arbeit von L&B bestenfalls belächelt, doch sehr viele Menschen lindern mithilfe der Übungen ihre Schmerzen. „Im Prinzip ist das, was in diesem  Video (7) gemacht wird, eine Kombination aus Drücken und Dehnen in verschiedenen (endgradigen) Positionen. Das ist vielerorts noch der Standard in der passiv orientierten Physiotherapie. Ergänzt wird das bei Liebscher & Bracht durch die Postisometrische Relaxation, PIR, eine alte Methode in der Physiotherapie“, erklärt Prof. Reuter. Auch in den meisten anderen ausgewählten Videos (3, 6, 1) werden vor allem Dehnungen und leichte Mobilisationen durchgeführt. „Auch wenn die Angaben in den Videos nicht der aktuellen Evidenz entsprechen, so kann es natürlich sein, dass das subjektiv hilft“, meint Prof. Reuter. „Problematisch kann es vor allem dann werden, wenn keine sichere Diagnose vorliegt. Hat der Patient beispielsweise keine Frozen Shoulder, sondern eine Omarthrose, können endgradige Positionen die Beschwerden verstärken“, ergänzt er.

Prof. Dr. Sven Reuter, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie Physiotherapeut, Mannschaftsarzt des deutschen Leichtathletik- Mehrkampfteams
Prof. Dr. Sven Reuter, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie Physiotherapeut, Mannschaftsarzt des deutschen Leichtathletik- Mehrkampfteams © Reuter

Korrekte Diagnose ist Voraussetzung

Eine korrekte pathoanatomische Diagnose ist also relevant, weil dadurch einerseits entschieden werden kann, welche Therapie notwendig ist. Andererseits weil durch die Diagnose und beispielsweise den Schweregrad eine Prognose auf den Verlauf möglich ist, beispielsweise ob ein phasenhafter Verlauf zu erwarten ist, ob die Beschwerden selbstlimitierend sind oder wann mit Besserung zu rechnen ist.

Für den Behandler, z. B. den Physiotherapeuten, ist die pathoanatomische Diagnose besonders zu Beginn einer Behandlung von Bedeutung, da sie anhand der Biologie gewissenmaßen den Fahrplan vorgibt, mit dem in die Behandlung gestartet wird. Im Verlauf der Behandlung wird die ursprüngliche Diagnose unwichtiger, weil der Physiotherapeut die individuell (noch) vorhandenen Funktionseinschränkungen (z. B. Kraft- oder Flexibilitätsdefizit) optimalerweise evidenzbasiert behandelt.

Qualität versus schnelle Versprechungen?

„Von den angesehenen Videos finden sich die besten Informationen und die mit der höchsten Evidenz bei E3 Rehab“ (2), stellt Prof. Reuter fst. E3 Rehab wird von drei studierten Physiotherapeuten aus Kanada betrieben. Die Videos zeichnen sich dadurch aus, dass die medizinischen Grundlagen ebenso gezeigt werden, wie aktuelle Forschungsergebnisse, evidenzbasierte Übungen mit Angaben der Übungsintensität, aber auch weitere Tipps zu Lebensstilinterventionen. Zudem vermitteln die Betreiber keine falschen Erwartungen, was Dauer und Linderungsgrad der Beschwerden angeht. Im Gegensatz zu Videos anderer Anbieter, sind die Videos und Empfehlungen von E3 Rehab „anstrengend“. Hier wird kein Erfolg in wenigen Minuten versprochen.

Qualitäts-Stempel für gute Trainingsvideos

Dass es schwierig ist, sich im Dschungel der Gesundheitsinformationen zurecht zu finden, hat auch das British Journal of Sports Medicine (BJSM) erkannt. Es vergibt seit einiger Zeit einen Stempel (bjsm Education Stamp of Approval) für „empfehlenswerte“ Veranstaltungen der Sport- und Bewegungsmedizin und Sportphysiotherapie. Daneben gibt es „BJSM approved“ Videos mit Übungs- und Trainingsempfehlungen für derzeit (Stand Oktober 2021) zwei Bereiche: Eines zur Prävention von Schulterverletzungen in Wassersportarten, produziert vom Weltschwimmverband FINA (4), ein weiteres zum Krafttraining für ältere Personen (9). Die Idee ist gut, ein Qualitätssigel für evidenzbasierte und gute Gesundheitsinformationen oder Trainingsempfehlungen bei Beschwerden zu vergeben. Doch wenn die Entscheidung darüber in den Händen einer einzigen Zeitschrift liegt, ist das problematisch.

Intention der Anbieter

Wie können denn Betroffene gute Informationen finden? Die Anzahl der Abonnenten oder Follower bzw. die Anzahl der Likes ist per se kein Qualitätskriterium. Im Gegenteil! Eine aktuelle Untersuchung von 50 Youtube-Videos zu Rückenschmerzen zeigte, dass beliebtere Videos (anhand der Anzahl an Likes) schlechtere Qualitätswerte aufwiesen als weniger beliebte Videos (5).

Ein Aspekt ist auch, welche Absichten die Anbieter der Informationen oder Videos verfolgen. Eine Klinik, ein Arzt oder Physiotherapeut verfolgt wahrscheinlich mit der Präsentation im Internet das Ziel, die eigene Expertise zu zeigen und neue Patienten zu gewinnen. Andere Anbieter zeigen in den Videos Produkte (z. B. Faszienrollen, Gummibänder), die sie vertreiben. Zusätzlich dient das kostenlos verfügbare Angebot häufig als Teaser für kostenpflichtige (Online-) Trainings- oder Therapieprogramme.

Subjektiv hilfreich

Aber sind nicht evidenzbasierte Programme wie beispielsweise von Liebscher & Bracht deswegen schlecht oder schädlich? „Der Nutzen solcher Programme ist schwer nachweisbar. Für die meisten gibt es keine wissenschaftlichen Studien, die die Aussagen und Erfolgsversprechen belegen. Doch auch die empirische Forschung mit großen Datensätzen bildet die Realität nicht komplett ab. Der Nutzen für den einzelnen Patienten wird ausgeblendet. Es gibt sicher Patienten, die profitieren“, erklärt Prof. Reuter. „Dabei ist es oft nicht entscheidend, ob eine Übung zu 100 Prozent korrekt ausgeführt wird. Wichtiger ist die Frage nach den Grundsätzen der Therapie, warum etwas gemacht werden soll.“ Ansonsten besteht durchaus die Möglichkeit, Beschwerden zu verstärken.

■ Hutterer C

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