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Fortsetzung Neurologische Sportmedizin – weit mehr als Gehirnerschütterungen und periphere Nervenschäden!

Periphere Nervenschäden, zentrale und periphere Überbeanspruchung

Komplettiert wird das sportneurologisch-traumatologische Spektrum zudem von peripheren Nervenverletzungen. Durch die klinisch-neurologische Untersuchung unter Berücksichtigung von sportartspezifischen Bewegungsabläufen lassen sich dabei bereits wichtige diagnostisch-lokalisatorische Erkenntnisse gewinnen (18). Elektrophysiologische Zusatzuntersuchungen helfen darüber hinaus bei Charakterisierung des Schadens (z.B. axonal vs. demyenisierend) und damit bei Prognose und Therapiesteuerung, wenngleich systematische Analysen rar sind und oftmals kaum evidenzbasierten Aussagen zulassen. In den letzten Jahren hat sich ebenfalls die MR-tomografische Evaluation peripherer Nervenschädigungen etabliert (14).

Von akuten sportinduzierten Verletzungen abzugrenzen sind Überlastungsschäden, die neben dem muskuloskeletalen Apparat auch periphere Nerven zum Beispiel im Rahmen von Engpasssyndromen betreffen können (17). Auch hierbei gilt es, durch entsprechende Früherkennung ggfs. in Trainingsprozesse einzugreifen, um protrahierte klinische Verlaufsformen zu verhindern. Wichtig sind hier neben der diagnostischen Aufarbeitung bzgl. Lokalisation und Ausmass des Schadens fundierte Kenntnisse über die individuellen sportartspezifischen Besonderheiten von Trainings-/und Bewegungsabläufen der Patienten. Deren Modifikation stellen nämlich neben der initialen Bewegungsruhe den entscheidenden therapeutischen Ansatz dar. Weniger bekannt (und prävalent) als die typischen peripheren Überlastungsschäden (zum Beispiel Engpasssyndrome am Handgelenk bei Radfahrern oder an der Schulter bei Wurfsportarten) sind überlastungsinduzierte zentrale Schädigungen wie die vermutlich ischämisch bedingte Surfer-Myelopathie im Rückenmark (klassischerweise auf Hawaii erstbeschrieben) (3) oder die Fußdystonie bei Läufern (5), die noch häufig unerkannt bleiben. Letztere lassen sich ebenso wie die in vielen Sportarten vorzufindenden (Typ 1) Yips den zentral bedingten fokalen Dystonien zuordnen, bei deren Genese neben Überbeanspruchung auch genetische und erworbene Faktoren eine Rolle spielen.

Darüber hinaus bestehen bereits seit ca. 20 Jahren Hinweise darauf, dass Übertraining und Übertrainingssyndrom mit einer Fehlregulation im Rahmen einer Überbeanspruchung in den zentralen Anteilen des autonomen Nervensystems (ANS) assoziiert sind (9), was bei adäquater Berücksichtigung von Anatomie und Physiologie des ANS klinisch und wissenschaftlich interessante Perspektiven eröffnet. Aus sportneurologischer Sicht sind somit mehrdimensionale Betrachtungsweisen in den verschiedenen Anteilen des Nervensystems (inkl. ANS) elementar beim Management von (Über-)Beanspruchung im Sport. Dabei ist allerdings die Berücksichtigung von inter- und intraindividueller Variabilität im ANS von größter Bedeutung. Eine Übersimplifizierung dieses hochgradig komplexen Systems würde zu einer Scheinsicherheit bei der Interpretation von ANS-Daten und damit zu nicht validen Aussagen führen. Unter adäquater Einbeziehung der Kontrollmechanismen im ANS bieten entsprechende Auswertmethodiken und -algorithmen jedoch erhebliche diagnostische und therapeutische Chancen und Möglichkeiten, nicht nur für Patienten sondern auch im Rahmen von Trainings- und Leistungssteuerung.

Neurologische Sporttherapie

Die rasanteste Entwicklung bis hin zum Paradigmenwechsel hat jedoch in den letzten Jahrzehnten im Bereich von Sport (und körperlicher Aktivität) bei neurologischen und neurodegenerativen Erkrankungen stattgefunden, die nicht zuletzt aufgrund von steigenden Inzidenzen und Prävalenzen nicht nur ein für den betroffenen Patienten individuelles, sondern auch bereits ein gesellschaftlich relevantes Problem darstellen. Wurde früher Patienten bei vielen neurologischen Krankheiten vom aktiven Sport treiben abgeraten, lässt sich heute evident belegen, dass die meisten Patienten ohne im Vergleich zur Normalbevölkerung signifikant erhöhtes Risiko Sport treiben dürfen, ggfs. unter Treffen von krankheitsadaptierten Sicherheitsvorkehrungen. Beispielhaft seien hier Multiple Sklerose (12) und Epilepsien (2) genannt. Bei Letzteren ist die individuelle Anfallssituation der Patienten besonders wichtig für eine sportneurologische Beratung, da ggfs. potenziell gefährliche Sportarten zu meiden sind. Allerdings lässt das breite Spektrum der verschiedenen Sportarten fast immer eine Alternative zu, so dass es auch nach Empfehlung der Task Force „Sports and Epilepsy“ der Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE) keine Patientengruppe mit Epilepsie gibt, die kategorisch vom Sport auszuschließen ist (2).

Obwohl Sport also im Rahmen von neurologischen Erkrankungen sicher ausgeführt werden kann, bewegen sich die meisten neurologischen Patienten deutlich weniger als die Normalbevölkerung (2, 12). Diesen Patienten bleiben also nicht nur die allgemein-präventiven Effekte von Sport und körperlicher Aktivität vorenthalten, sondern auch therapeutische Effekte, die die eigene Erkrankung betreffen. Das Konzept der Schlaganfallprävention durch Sport und körperlicher Aktivität hat sich nicht zuletzt auf Grund der vaskulären Ätiologie bereits seit längerem erschlossen und findet praktische Anwendung. Dass die Effekte in der Senkung der Mortalität möglicherweise sogar die der medikamentösen Therapien übertreffen (13), ist jedoch genauso beeindruckend wie überraschend, wenn man berücksichtigt, wie wenig Patienten bislang regelmäßig Sport treiben.

Ebenso ermutigend sind Studien, die belegen, dass sich das relative Risiko, eine Demenz vom Alzheimer Typ zu erleiden, durch regelmäßigen Sport und körperliche Aktivität um bis zu 45% senken lässt (7). Ähnliche epidemiologische und meta-analytische Daten lassen sich mittlerweile für viele neurologische und neurodegenerative Erkrankungen finden. Neben den symptomatischen Effekten verschmelzen dabei die Grenzen von präventiven und therapeutischen Wirkungen. Wie sonst als durch immunologische Prozesse ist es zu erklären, dass sich durch regelmäßiges Sporttraining die Schubrate bei Multiple Sklerose um 27% verringern lässt (15)?

Für Sport und körperliche Aktivität gibt es prinzipiell unter den neurologischen Patienten keine ‚No-Go’s‘ mehr. Wie auch in nahezu jedem anderen Fachgebiet lassen sich in jedem Krankheitsstadium auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichem Ausmaß positive Effekte beschreiben. Es geht vielmehr darum, ein dem Patienten und Krankheitsstadium angepasstes Maß an Sport und körperlicher Aktivität zu finden. Da hier jedoch die Möglichkeiten grenzenlos sind, wäre es zielführend, zukünftig noch zahlreicher diese therapeutischen Chancen in Behandlungspläne zu integrieren.

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