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Geschlechts­spezifische Verletzungsmuster im Sport

Geschlechts­spezifische Verletzungsmuster im Sport
© Romario Ien/fotolia

Vom »schwachen Geschlecht« kann im Sport schon lange nicht mehr die Rede sein. Frauen drängen in ehemals ausschließlich männliche Sportarten und erbringen vergleichbare Leistungen. Überholt sind die Zeiten, in denen es als unweiblich galt, sich anzustrengen oder sportlich aktiv zu sein. Waren 1955 knapp 650 000 Mädchen und Frauen und etwa fünfmal so viele Jungen und Männer Mitglieder in Sportvereinen, so liegt die Zahl heute bei rund 10 Millionen Frauen und 14 Millionen Männern. Doch jede erfreuliche Entwicklung bringt auch Schattenseiten mit sich: Bei den Sportverletzungen haben Frauen ebenfalls aufgeholt. Es steht die Frage im Raum, ob es zwischen Männern und Frauen grundsätzliche Unterschiede im Verletzungsrisiko und ob es typische geschlechtsspezifische Verletzungsmuster gibt. Zwar liegen verhältnismäßig wenige vergleichende Studien vor, doch die vorhandenen Auswertungen zeigen, dass Frauen sich anders verletzen als Männer. Für die meisten untersuchten Sportarten lässt sich feststellen, dass Frauen sich häufiger verletzen als Männer. Außerdem ziehen sich die Damen häufig andere Verletzungen zu als die Herren.

Sportartspezifische Verletzungsmuster

Im Schwimmsport beispielsweise sind bei Frauen Überlastungsverletzungen und Sehnenentzündungen der Schulter häufiger als bei Männern (5). Beim Cross-Country-Lauf erleiden Frauen relativ häufig Verletzungen der Hüfte und Leiste, während sich Männer eher Verletzungen des Sprunggelenks zuziehen (6). Beim Sportklettern fallen Frauen mit einem 56,6 Prozent höheren Anteil an Bandverletzungen der Füße in der Statistik auf, Männer mit einer 54,9 Prozent höheren Rate an Bandverletzungen der Finger.

Ähnlich sieht es bei anderen Traumata in dieser Sportart aus: Sehnenverletzungen der Finger (51,6 versus 30,0 Prozent), Rückenprellungen (22,2 versus 12,5 Prozent) und Frakturen der Füße (52,9 versus 30,0 Prozent). Mehrere Untersuchungen zeigen, dass nur 30 Prozent der Kletterverletzungen auf Frauen entfallen (9, 10). Eine Analyse von Drastig und Küpper (2) zeigte hingegen keine Unterschiede in der Verletzungshäufigkeit von weiblichen und männlichen Sportkletterern.

Unterschiede zwischen den Sportarten gibt es auch bei der Schwere der Verletzungen. Im Profifußball könnte man meinen, Männer verletzten sich schwerer als Frauen. Betrachtet man die Zeit, die gefoulte Spieler scheinbar schwer leidend auf dem Boden verbringen, so ist sie bei Männern auch tatsächlich signifikant länger als bei Frauen. Doch das hat, wie Untersuchungen zeigen, nichts mit der Schwere der Verletzungen zu tun als vielmehr mit einem stärkeren Grad der Inszenierung bei Männern (4).

Dabei hätten die Damen allen Grund, länger auf dem Rasen zu liegen, denn Risse an den vorderen Kreuzbändern sind, bezogen auf Trainings- und Spielzeiten, bei Frauen drei- bis sechsmal (je nach Studie) häufiger als bei den männlichen Kollegen (8). Ähnliches gilt für Verletzungen des Meniskus und des Knöchels. Worin liegen aber die Ursachen für den Fakt, dass Frauen für bestimmte Verletzungen anfälliger sind als Männer?

Die weibliche Anatomie

Ein typisches Argument, das für die unterschiedliche Verteilung der Verletzungen angeführt wird, sind die Unterschiede im Körperbau. In der Tat gibt es davon einige. Frauen sind im Durchschnitt 10 bis 15 Zentimeter kleiner und 10 bis 20 Kilogramm leichter als Männer. Das weibliche Skelett ist im Durchschnitt um 25 Prozent leichter als das männliche. Auch die trajektorielle Ausrichtung der Trabekelstruktur der großen Röhrenknochen ist schwächer – bereits bei geringerer Krafteinwirkung kommt es zum Bruch.

Bei Frauen trägt die Rumpflänge zu 38 Prozent zur Körperlänge bei, bei Männern nur zu 36 Prozent. Die Schultern sind schmaler, die Muskelfasern dicker. Die größten Skelettunterschiede finden sich aber im Bereich des Beckens. Das Becken der Frau im Gesamten ist breiter, die Beckenschaufeln sind breiter und weniger steil gestellt und das Becken weist eine stärkere Kippung nach vorne auf. Als Folge ergeben sich eine physiologische X-Bein-Stellung sowie andere Kräfteverhältnisse im Knie und Sprunggelenk.

Auch muskulär gibt es große Unterschiede. Die vorderseitige Streckmuskulatur am weiblichen Bein ist sehr gut ausgeprägt, die hintere Beugemuskulatur hingegen nicht. Das belastet das vordere Kreuzband. Eine Analyse geschlechtsspezifischer Differenzen der Biomechanik des Laufens erklärt, warum Frauen aufgrund dieser Unterschiede weit häufiger vom Patellofemoralen Syndrom geplagt werden als Männer (7). Frauen sind außerdem beweglicher als Männer. Das liegt an weicheren Bandstrukturen in Kombination mit weniger Muskelkraft, um die schwächeren Strukturen auszugleichen. Erfahrungswerte zeigen, dass bei großen, schlanken Frauen tendenziell eine größere Verletzungs- und Überlastungsgefahr besteht. Häufig ist das Muskelkorsett nicht stark genug entwickelt; die langen Hebel tun ihr Übriges.

Östrogen und Kreuzbandrisse

Weiterhin wird diskutiert, ob und welchen Einfluss der Menstruationszyklus auf Verletzungen hat. Einige Studien haben gezeigt, dass in der ersten Zyklushälfte deutlich mehr Kreuzbandrisse auftreten als in der postovulatorischen Phase (3). Erklärt wird das mit den fluktuierenden Sexualhormonen. Das Östrogen, das vermehrt in der ersten Zyklushälfte gebildet wird, soll die Festigkeit von Bandstrukturen signifikant herabsetzen. Dadurch vergrößert sich der Bewegungsspielraum im Knie und in anderen Gelenken. Während der Ovulationsphase soll zudem die Muskelentspannung verlangsamt ablaufen und die Muskelermüdung schneller erfolgen. Weitere Folgen der hormonellen Schwankungen wie veränderte Thermoregulation und psychische Auswirkungen könnten indirekt beteiligt sein. Ebenfalls diskutiert wird, ob die Einnahme der »Pille« sich für Athletinnen günstig auswirkt, da die Schwankungen im Hormonhaushalt entfallen. Die Hypothese steht im Raum, ob Sportlerinnen, die orale Kontrazeptiva einnehmen, weniger Kreuzbandrisse erleiden als Sportlerinnen, welche kein Hormonpräparat einnehmen.

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