Der kolumbianische Tour de France-Sieger Egan Bernal: Sportphysiologische Hintergründe

Editorial von Prof. Dieter Böning aus der Ausgabe #9/2019 der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin (DZSM). Sein Beitrag beschäftigt sich mit dem Kolumbianer Egan Bernal – dem Sieger der Tour de France 2019. Prof. Böning beleuchtet Umwelteinflüsse und genetische Faktoren, die für die Leistungen des Ausnahmeathleten mit verantwortlich sind.

Der kolumbianische Tour de France-Sieger Egan Bernal: Sportphysiologische Hintergründe
Egan Bernal © imago images / Belga

Egan Bernal, der 22-jährige Überraschungssieger der diesjährigen Tour de France wurde Anfang August mit großer Begeisterung in seinem Geburtsort Zipaquirá nahe der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá in Gegenwart mehrerer legendärer Radsportler empfangen. Er ist schon seit mehreren Jahren aufgefallen und wurde deshalb in das britische Team Ineos aufgenommen. Sowohl Umwelteinflüsse als auch genetische Faktoren dürften sehr einflussreich für seine überragende Leistungsfähigkeit sein.

In Kolumbien war Radfahren bis vor etwa 20 Jahren als Alltagsfortbewegungsmittel wenig verbreitet. Wegen der Landesnatur mit den großen Gebirgsketten der Anden ist es in vielen Gegenden mühsam. Allerdings liegen mehrere Großstädte wie Bogotá oder Cali auf größeren Ebenen. Dort wird das Fahrrad inzwischen wegen der regelmäßigen Staus und fehlender U-Bahnen häufig im Alltag benutzt.

Als Sportgerät ist das Fahrrad allerdings schon länger beliebt. In Bogotá werden an Sonntagen große autobahnähnliche Durchgangsstraßen für den Verkehr mit Kraftfahrzeugen gesperrt und zur sogenannten „Ciclovia“ (Fahrradweg) gemacht, dort bewegen sich Tausende von Radlern und Rollschuhläufern.

Sehr beliebt ist schon seit vielen Jahren der Radleistungssport. Die Trainingsbedingungen sind ausgezeichnet. Einerseits kann man auf den großen Ebenen lange flache Strecken zurücklegen, andererseits extreme Anstiege überwinden. So liegt Bogotá auf einer 90km langen Ebene in 2600m Höhe, wo die Durchschnittstemperaturen ganzjährig (es gibt in Äquatornähe keine Jahreszeiten!) tagsüber etwa so hoch wie bei uns im Herbst sind (18°). Bei Sonnenuntergang stets zur gleichen Tageszeit zieht man einen Pullover oder die traditionelle Ruana (Poncho) an. Die umgebenden Gipfel ragen bis auf etwa 3300m auf. Nach Osten geht es steil abwärts bis auf etwa 300m zu den Llanos, den großen Ebenen, die sich bis zum Orinoco erstrecken. Im Westen führen die Straßen hinunter zum Magdalenenstrom bis auf etwa 400m Höhe. Unten steigen die Tagestemperaturen über 30°. Man kann also auf langen ebenen Strecken ebenso wie auf Anstiegen trainieren, dabei ein Höhen- und Hitzebelastungstraining kombinieren.

Die erfolgreichen Ausdauersportler in Kolumbien stammen meistens aus den Hochlagen. Egan Bernal wurde in Bogotá geboren und lebt in Zipaquirá, einer Stadt auf gleicher Höhe etwa 40km südlich von Bogotá. Sein Vater war bereits Amateurradsportler, er selbst bekam mit fünf Jahren sein erstes Rad. Die Bedingungen ähneln also denen in Kenia und Äthiopien, wo die Kinder im Gebirge leben (allerdings meist unter 2500m) und regelmäßig auf dem Schulweg trainieren.

Für die Höhenanpassung spielen genetische Änderungen eine wichtige Rolle (1). Die Indianer erreichten vor etwa 10000 Jahren das Gebiet von Bogotá und hatten damit Zeit für die Zunahme von Allelen, die vorteilhaft in Hypoxie sind. Der Stamm der Muisca lebte in zwei Fürstentümern und hätte wohl ohne die spanischen Eroberungen nach der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus im Jahr 1492 ein ähnliches Großreich wie in Mexiko (Azteken) oder Peru (Inkas) gegründet.

Die Muisca hinterließen Unmengen von Kunstwerken und Schmuckstücken aus Gold, einiges kann man im „Museo de Oro“ in Bogotá bewundern. Die Gerüchte vom „Eldorado“ (ursprünglich der Vergoldete, ein mit Goldstaub geschmückter Mann, dann aber als Goldland interpretiert, da im Spanischen das Wort doppeldeutig ist) lockten im Jahr 1538 gleich drei Konquistadoren (Eroberer) an: Zunächst erreichte Jimenez de Quesada die Hochebene, der deshalb der Gründer der spanischen Stadt Bogotá wurde, dann Sebastian de Belalcazar, schließlich der Deutsche Nikolaus Federmann, Feldhauptmann der Kolonie Venezuela, die anfänglich den Welsern in Augsburg als Belohnung für Kredite an die Habsburger zugesprochen war.

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Demzufolge ist heutzutage ist die Bevölkerung stark mit überwiegend männlichen Einwanderern aus Spanien durchmischt (7), aber die bereits vorhandenen, in der Höhe vorteilhaften Allele verbreiten sich auch bei Neuankömmlingen. Die Nachkommen von Weißen und Indianern (Mestizen) leben vor allem im Hochland von Kolumbien. Da offensichtlich wenig Frauen den Konquistadoren folgten, stammen die mitochondrialen Gene überwiegend von Indianerinnen (10). Dies dürfte von zusätzlicher Bedeutung für die Hypoxieanpassung sein, da in den Mitochondrien die aerobe Adenosintriphosphatsynthese erfolgt. Egan Bernal sieht sehr indianisch aus, eine Genanalyse könnte abklären, welche leistungsrelevanten Allele aus dieser Gruppe er besitzt.

Unsere Arbeitsgruppe hat seit vielen Jahren enge Kontakte zu kolumbianischen Sportphysiologen und -medizinern vor allem in Bogotá, aus denen eine Reihe von Veröffentlichungen entstanden. U. a. wurden die Leistungsfähigkeit, die Atmung, der O2 und CO2-Transport im Blut, die Hämoglobinmasse und die Pufferung gegen Milchsäure bei Untrainierten und Trainierten in Deutschland und Kolumbien verglichen (2, 3, 5, 11). In Tabelle 1 ist eine Auswahl von Ergebnissen betr. Hämoglobin und maximale Sauerstoffaufnahme dargestellt. Die arterielle Sauerstoffsättigung in Ruhe liegt etwa 5-6% niedriger als in Deutschland. Die Hämoglobinmasse und damit das Erythrocytenvolumen sind sowohl bei Untrainierten wie bei Sportlern in Bogotá deutlich erhöht.

Vergleich Bluteigenschaften Sauerstoffaufnahme, deutsche und kolumbianische Männer
Bluteigenschaften und maximale Sauerstoffaufnahme von deutschen (Höhe 30-340m) und (Höhe 2600m) kolumbianischen Männern. SaO2=Sauerstoffsättigung in Ohrläppchenblut, ut=untrainiert. Mittelwerte + Standardabweichung. © DZSM 2019

Im Vergleich zu untrainierten Männern in Deutschland (11-12g/kg Körpergewicht) betrug die Hb-Masse in Bogotá über 13g/kg Körpergewicht, bei trainierten Läufern fast 15g/kg, bei sehr gut trainierten Radsportlern sogar 17,0g/kg. Das führt aber nicht zu einer sehr hohen Hb-Konzentration wegen einer gleichzeitigen Zunahme des Plasmavolumens – ein typischer Trainingseffekts in allen Höhenlagen! Die maximale Sauerstoffaufnahme erreichte bei den Sportlern 55,2 bzw. 69,9ml/(kg*min). Nach einer akuten Zunahme des inspiratorischen O2-Drucks auf den Wert in Meereshöhe dürften die Werte von Gebirgsbewohnern um weniger als 8% steigen (6), d. h. auf etwa 60 bzw. 76ml/(kg*min). Egan Bernal liegt noch wesentlich höher: Bei ihm wurden nach einem Zeitungsbericht in Mailand 88,8 ml/(kg*min) gemessen (9).

Das ist im Bereich der höchsten jemals beim Menschen gemessenen Werte. Im Gegensatz zu Hochlandbewohnern ist die Abnahme der maximalen Sauerstoffaufnahme bei Sportlern aus dem Tiefland viel stärker, nach Messungen von Clark et al. (4) schätzungsweise -18% bei einem Aufstieg auf 2600m Höhe. Das ist ein zusätzlicher Vorteil für Hochlandbewohner auf den Gebirgsetappen.

Eine Rolle dürfte auch das verstärkte Training der Atemmuskeln in Hypoxie spielen. Es vergrößert deren Ausdauer (8), so dass man später „außer Atem“ kommt. Es gibt also einige physiologische Gründe dafür, dass ein Kolumbianer so erfolgreich werden konnte. Der Rest ist Vorbereitung, Organisation und Psychologie. In Zukunft dürfen wir noch einiges von Egan Bernal erwarten. „Mucha suerte, Egan!“ (Viel Glück, Egan).

■ Böning D

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Quellen:

  1. Böning D. Physical exercise at altitude – acclimation and adaptation effects in highlanders on different continents. Dtsch Z Sportmed. 2019; 70: 135-140. doi:10.5960/dzsm.2019.379

  2. Böning D, Rojas J, Serrato M, Reyes O, Coy L, Mora M. Extracellular pH defense against lactic acid in untrained and trained altitude residents. Eur J Appl Physiol. 2008; 103: 127-137. doi:10.1007/s00421-008-0675-0

  3. Böning D, Rojas J, Serrato M, Ulloa C, Coy L, Mora M, Gomez J, Hütler M. Hemoglobin mass and peak oxygen uptake in untrained and trained residents of moderate altitude. Int J Sports Med. 2001; 22: 572-578. doi:10.1055/s-2001-18530

  4. Clark SA, Bourdon PC, Schmidt W, Singh B, Cable G, Onus KJ, Woolford SM, Stanef T, Gore GJ, Aughey GJ. The effect of acute simulated moderate altitude on power, performance and pacing strategies in well-trained cyclists. Eur J Appl Physiol. 2007; 102: 45-55. doi:10.1007/s00421-007-0554-0

  5. Cristancho E, Riveros A, Sanchez A, Penuela O, Böning D. Diurnal changes of arterial oxygen saturation and erythropoietin concentration in male and female highlanders. Physiol Rep. 2016; 4: e12901. doi:10.14814/phy2.12901

  6. Favier R, Spielvogel H, Desplanches D, Ferretti G, Kayser B, Hoppeler H. Maximal exercise performance in chronic hypoxia and acute normoxia in high-altitude natives. J Appl Physiol. 1995; 78: 1868-1874. doi:10.1152/jappl.1995.78.5.1868

  7. Jaramillo-Correa JP, Keyeux G, Ruiz-Garcia M, Rodas C, Bernal J. Population genetic analysis of the genes APOE, APOB(3‘VNTR) and ACE in some black and Amerindian communities from Colombia. Hum Hered. 2001; 52: 14-33. doi:10.1159/000053351

  8. Katayama K. Effects of respiratory muscle endurance training in hypoxia on running performance. Med Sci Sports Exerc. 2019; 51: 1477-1486. doi:10.1249/MSS.0000000000001929

  9. Llamas F. La ‚bestia‘ que viene. In: `Marca.com 2016. https://www.marca.com/ciclismo/2016/01/24/56a4fa71ca474159048b45c4.html [3rd September 2019].

  10. Rodas MC, Keyeux G, Gelvez N. Amerindian admixture in Afrocolombian and Mestizo populations as inferred from mitochondrial DNA haplogroup studies. Hum Biol. 2003; 75: 13-30. doi:10.1353/hub.2003.0026

  11. Schmidt W, Heinicke K, Rojas J, Gomez JM, Serrato M, Mora M, Wolfarth B, Schmid A, Keul J. Blood volume and hemoglobin mass in endurance athletes from moderate altitude. Med Sci Sports Exerc. 2002; 34: 1934-1940. doi:10.1097/00005768-200212000-00012