Wieviel Schmerz ist erlaubt?
Editorial der Ausgabe #3/2022 der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin. In seinem Beitrag geht der Mediziner Prof. Holger Schmitt auf Schmerzen ein, die als nützliches Signal von Menschen sehr unterschiedlich erlebt werden. Über psychosoziale Faktoren kann das Schmerzempfinden positiv beeinflußt werden. Auch sportliche Aktivität spielt dabei eine Rolle.
Schmerz ist ein nützliches Signal, das uns vor drohenden oder tatsächlichen Gewebeschäden warnen soll. Schmerz wird von Menschen sehr unterschiedlich erlebt und hat eine situationsabhängige Komponente. Stress, Ärger, Ängste und Depression können Schmerz verstärken. Über psychosoziale Faktoren wie Selbstvertrauen, Zuversicht, Anpassungsfähigkeit, ein intaktes familiäres und berufliches Umfeld sowie stabile soziale Kontakte kann das Schmerzempfinden positiv beeinflusst werden. Es ist davon auszugehen, dass auch sportliche Aktivität Einfluss auf diese Faktoren nimmt und somit auf unterschiedliche Weise eine Rolle bei der Schmerzwahrnehmung einnimmt. Auch wenn grundsätzlich Sport mit zahleichen positiven Effekten verbunden wird, die sich in einer gesunden Lebensführung und den damit verbundenen Auswirkungen auf Gesundheit, Persönlichkeitsentwicklung, Wohlempfinden und Fitness ausdrücken, können gerade im Leistungssport Bereiche berührt werden, die sich in Stress und Ängsten äußern können.
Nehmen Sportler Schmerzen anders wahr als körperlich wenig Aktive?
Es gibt Hinweise dafür, dass bei sportlicher Aktivität durch hohe Anspannung eine stressinduzierte Analgesie verursacht wird, die Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung hat. Hierdurch wird erklärt, dass teilweise trotz Verletzung im Sport mit struktureller Gewebeschädigung die Handlungsfähigkeit erhalten bleibt und die sportliche Aktivität fortgesetzt werden kann. Betrachten Sie die Fussball- Bundesligaprofis, die nach einem Foulspiel und dem in Super- Zeitlupe nachvollziehbaren Vollkontakt eines Gegenspielers kurz danach wieder uneingeschränkt das Spiel fortsetzen können. Die Schmerzwahrnehmung kann herunterreguliert werden. Hierbei scheinen die Endorphine und auch Adrenalin, aber auch die individuellen psychosozialen Faktoren die entscheidende Rolle zu spielen. Studien an Ausdauerathleten haben im Kontrollgruppenvergleich gezeigt, dass die Athleten eine geringere Schmerzwahrnehmung haben und höhere Schmerztoleranzschwellen aufweisen (4). Regelmäßiges Training hat somit einen Einfluss auf die Schmerztoleranz. Sportler empfinden Schmerzen als weniger dominant.
Brauchen Sportler weniger Schmerzmittel?
Alarmierend sind Publikationen über regelmäßige Schmerzmitteleinnahme bei Hochleistungssportlern. Vier von 10 Hochleistungssportlern nehmen regelmäßig Schmerzmittel. Bei der Fussball- WM 2010 nahmen 60% der befragten Spieler regelmäßig Schmerzmittel, 39% vor jedem Spiel. Bei Marathonveranstaltungen nehmen fast 50% der befragten Athleten vor dem Lauf Schmerzmittel ohne akute Beschwerdesymptomatik (1). Studien von Collegesportlern in den USA konnten sportartübergreifend aufzeigen, dass 25% der Frauen und 20% der Männer regelmäßig Schmerzmittel einnehmen (NCAA College, (2)).
Das Problem der Nebenwirkungen wird häufig verdrängt. Die Zahlen zeigen, wie unkritisch mit diesen Präparaten umgegangen wird. Dass diese Umgangsform nicht ausschließlich ein Problem des Sports ist, zeigen Daten aus Krankenkassenberichten. Ca. 20 % der Studierenden an den Hochschulen nehmen regelmäßig Substanzen, in den meisten Fällen Schmerzmittel, um die Handlungsfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern ebenso wie Führungskräfte in deutschen Unternehmen. 12% der Berufstätigen wollen ihre kognitive Leistungsfähigkeit durch verschreibungspflichtige Substanzen stärken (3). Unter den 20 meist verkauften Arzneimitteln in deutschen Apotheken finden sich allein zwölf Schmerzmittel. Untersuchungen des Robert- Koch- Institutes haben gezeigt, dass 30-40% der Bevölkerung in Deutschland Schmerzmittel einnehmen, ohne das schmerzbedingte Einschränkungen vorhanden sind.
Welche Konsequenzen können daraus abgeleitet werden?
Regelmäßige Einnahme von Schmerzmitteln kann langfristig zu chronischen Organschäden führen. Problematisch in unserer Gesellschaft ist sicherlich die hohe Rate an unkontrollierter Selbstmedikation. Schmerzmittel werden als „normal und ungefährlich („nimmt doch jeder“)“ eingestuft und, wie eine der in diesem Heft abgedruckten Arbeiten zeigt, bereits bei Heranwachsenden unkritisch eingesetzt. Leistungsorientierte Sportler kommen in Training und Wettkampf zwangsläufig in Grenzbereiche der körperlichen und mentalen Leistungsfähigkeit. Weitere Studien sind erforderlich, um den sportartspezifisch unterschiedlichen Umgang mit Schmerzmitteln aufzudecken. Trainer, Athleten und insbesondere auch das familiäre Umfeld müssen instruiert und sensibilisiert werden.
Wir als die betreuenden Ärzte der Sportlerkollektive sollten als positives Beispiel vorangehen und insbesondere bei der Betreuung der Athleten ein besonders wachsames Auge auf diesen Bereich richten, um die Athleten und Athletinnen gesund durch den Sport zu begleiten.
■ Schmitt H
Quellen:
Brune K, Niederweis U, Krämer B. Sport und Schmerzmittel: Unheilige Allianz zum Schaden der Niere. Dtsch Arztebl. 2008; 105: A 1894-1897.
Christopher S, Tadlock BA, Veroneau BJ, Harnish C, Perera NKP, Knab AM, Vallabhajosula S, Bullock GS. Epidemiological profile of pain and non-steroid anti-inflammatory drug use in collegiate athletes in the United States. BMC Musculoskelet Disord. 2020; 21: 561. doi:10.1186/s12891-020-03581-y
DAK-Gesundheitsreport 2015. DAK Forschung. 2015. [21 March 2022]
Geisler M, Alexander Ritter, Marco Herbsleb, Karl-Jürgen Bär, Thomas Weiss. Neural mechanisms of pain processing differ between endurance athletes and nonathletes: A functional connectivity magnetic resonance imaging study. Hum Brain Mapp. 2021; 42: 5927-5942. doi:10.1002/hbm.25659