Wettkampfvorbereitung – Individualität statt Einheitstraining
Die kurz-, mittel- und langfristige Wettkampfvorbereitung wird von vielen Faktoren beeinflusst – Mannschafts- oder Individualsport, Kraft- oder Ausdauerdisziplin usw. Daneben gibt es eine große Anzahl weiterer Stellschrauben, an denen für die optimale Leistungsfähigkeit gedreht werden kann. Die Kernfrage ist, wie ein Sportler mithilfe des Trainers die maximale Leistung erbringen kann. Im besten Fall basiert die Strategie auf der individuellen Sichtweise und Situation des Athleten ebenso wie auf einem für die Person optimierten Trainingsmodell. Doch es geht auch um Geld. Die Sportförderung des Bundes investierte allein im Jahr 2016 fast 170 Mio. € in den Leistungssport (2), doch die Konkurrenzfähigkeit scheint international bei vielen Sportarten bzw. in der Breite in den letzten Jahren nicht mehr gegeben.
Die Angst vor dem Defizit
Faris Al-Sultan ist Gewinner der Ironman World Championship auf Hawaii im Jahr 2005 und zahlreicher weiterer Langdistanzwettkämpfe. Seit seinem Karriereende trainiert er Profi-Triathleten, u. a. den Sieger des Hawaii-Ironman 2017, Patrick Lange. Er bringt ein entscheidendes Problem im Triathlon, aber auch im Sporttraining allgemein, auf den Punkt: »Der Triathlet ist per se immer im Defizit. Kein Athlet kann in drei Disziplinen plus Kraft-, Motorik- und Koordinationstraining immer am Ball bleiben. In meiner Funktion als Trainer versuche ich, dem Athleten die Angst vor dem Defizit zu nehmen, denn das muss auch jeder andere Athlet eingehen.« So erstellt Al-Sultan für derzeit vier Profiathleten Trainingspläne, mit denen sowohl das Ziel als auch die Lücke im Blick behalten wird. Er nennt das »Struktur ins System bringen«. Das System ist ein wichtiges Stichwort. Denn manchmal passen System (im Großen oder im Kleinen) und Athlet nicht zusammen.
Die Reaktion auf regelmäßige körperliche Aktivität ist heterogen. Gleiche Trainingsbelastungen können bei einem Sportler eine deutliche Verbesserung der Leistungsfähigkeit bewirken, während ein anderer in eine schwere Überlastung bis zum Übertraining gerät. Dazu tragen Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft, genetische Variabilität und ganz wesentlich die Trainingshistorie bei. Es erscheint daher mehr als logisch, dass die Trainingsbelastung individuell an die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit des Athleten angepasst werden sollte. Doch trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse wird dies heutzutage im deutschen Spitzensport noch immer unzureichend umgesetzt, wie Sportmediziner und Sportwissenschaftler immer wieder kritisieren (3, 4).
Dr. Gunnar Treff, wissenschaftlicher Koordinator des Deutschen Ruderverbandes und Trainingswissenschaftler, sieht das differenzierter: »Hinsichtlich der Determinanten der Wettkampfleistung sind sich die Sportler im Hochleistungsbereich relativ ähnlich. Doch genau diese geringen Unterschiede sind von großer Bedeutung. Gute Trainer finden Wege zur Individualisierung, vor allem wenn alle Beteiligten, also Sportler, Diagnostiker und Betreuer, professionell und kompetent auf den Erfolg hinarbeiten.«
Innovationen im Training für den entscheidenden Vorsprung
Selbstverständlich ist, dass jede Sportart eigene Trainingsschemata und -inhalte hat. Viele Fachverbände nutzen die Unterstützung des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaften (IAT) in Leipzig für die Erstellung so genannter Rahmentrainingspläne. Meist werden die Trainingsinhalte für die Kaderathleten vom Bundestrainer vorgegeben. Engagierte und gut qualifizierte Heimtrainer, die ihre Schützlinge gut kennen und wissen, welches Trainingssystem bei ihnen gut funktioniert, müssen »ihre« Sportler an in der Hierarchie übergeordnete Landes- und Bundestrainer abgeben. Die weitgehende Monopolstellung des IAT trägt nach Aussagen von Kuno Hottenrott (4) nicht dazu bei, innovative Trainingsmethoden auszuprobieren. Glaubt man den Daten einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2012 (5), investieren Bundestrainer weniger als fünf Prozent ihrer Arbeitszeit für Fortbildung.
Zeitnah neue Erkenntnisse auf trainings- und sportwissenschaftlicher Forschung umzusetzen, ist aber unbedingte Voraussetzung, um den Anschluss an die Weltspitze nicht zu verpassen. Zugleich werden aber neue Erkenntnisse aus der Sportwissenschaft offenbar auch dann nicht umgesetzt, wenn sie an die Betreuer herangetragen werden. Das mag einerseits an einem gewissen Unwillen liegen, sich Neuerungen zu öffnen, andererseits liegt es wohl aber auch daran, dass Wissenschaftler und Trainer nicht dieselbe »Sprache« sprechen. Sportwissenschaftler sollten das aus Daten generierte Wissen so aufbereiten können, dass Trainer und Betreuer verstehen, welche günstigen Effekte welche Änderungen mit sich bringen (1).
Zudem ist ein Trainingsmodell auch immer in einen Kontext eingebettet, wie beispielsweise den Grad der Professionalisierung, den gesellschaftlichen Status einer Sportart oder den Umfang der Sportförderung. Wenig erfolgversprechend ist es, ein bestehendes System einfach um Inhalte zu erweitern, wenn diese nicht harmonisch und sinnvoll eingebunden werden. Gut geplante und umgesetzte Änderungen können jedoch signifikante Effekte haben. So wurde, wie Dr. Treff berichtet, vor einigen Jahren im Ruderverband vom bis dato durchgeführten Kraftausdauertraining zu einem maximalkraftorientierten Training gewechselt – mit der Folge, dass sich das spezifische Kraftniveau verbandsweit verbessert hat.
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Kommunikation im Team – das A und O
Der Trainer hat große Verantwortung gegenüber seinen Athleten und ein gutes Verhältnis untereinander ist die Grundlage für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Je nach Sportart oder Leistungsniveau besteht das Team um den bzw. die Athleten aus einem größeren Betreuerstab aus Sportwissenschaftlern, Physiotherapeuten, Trainern mit bestimmten Schwerpunkten und Sportärzten.
Die ewige Angst vor dem Defizit, aber auch (individuell) falsche Trainingsbelastungen sind ein häufiger Grund für schlechte Ergebnisse oder nicht optimalen Formaufbau. Dr. Ulrich Kau, leitender Verbandsarzt des Deutschen Ruderverbands und Verbandsarzt des Deutschen Boxverbands, blickt mit den Augen des Mediziners und als langjähriger Vertrauter für Trainer und Sportler auf das Thema: »Entscheidend ist eine gute Kommunikation zwischen Athlet, Trainer und Arzt. Besteht zu allen Beteiligten ein gutes Vertrauensverhältnis, kommen die Aktiven frühzeitig zu mir oder den anderen Mitgliedern des medizinisch-therapeutischen Teams.« Während der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung zeigt den Betreuern die Frühroutine, bei der jeden zweiten Tag verschiedene Werte gemessen werden, sowie die Laktatwerte bei Belastung an, ob jemand aus der Mannschaft in die Überbelastung rutscht. Auch wenn Verletzungen oder Infekte auftreten, ist Kau der erste Ansprechpartner. »Dann wird gemeinsam besprochen, welche Maßnahmen für den Einzelnen oder die Mannschaft zu treffen sind«, erklärt der Mediziner.
Soft Skills – zwischen Papa und Psyche
»Im obersten Leistungsbereich braucht jeder Athlet jemanden für die Birne, nicht unbedingt für die Beine«, erklärt Al-Sultan. »Viele Athleten brauchen keine Erklärungen, sondern jemanden, der sie bestätigt und begleitet«, erklärt er weiter. Auf der anderen Seite gibt es sehr wohl Athleten, die an die Hand genommen werden müssen; besonders bei jungen Sportlern ist das der Fall, wie Kau weiß: »In der Mannschaft bin ich auch wie ein Papa. Auf der einen Seite öffnen sie ihr Herz und erzählen viel Privates, auf der anderen Seite muss ich darauf achten, dass im Sommer jeder in der Sonne seine Mütze aufhat und rechtzeitig ins Bett geht. Trotz eines so vertrauensvollen und nahen Verhältnisses müssen manchmal auch unliebsame Entscheidungen getroffen werden.«
Individualisierung – aber wie?
Der Ruf nach einer stärkeren Individualisierung der Trainingsinhalte ist weithin zu hören. Umgesetzt wird er im Rahmen des geförderten Leistungssports noch immer zu wenig. Die Frage ist jedoch, wie viel Individualisierung überhaupt nötig und möglich ist. »Individualisierung bedeutet nicht, alles verschieden zu machen, sondern ein grundsätzliches Trainingskonzept individuell anzupassen. Das Ziel besteht darin, limitierende Schwächen der Individuen abzubauen und Stärken beizubehalten oder sogar auszubauen«, erklärt Treff. In einem Editorial der DZSM weist Professor Billy Sperlich (6) darauf hin, dass die Erfassung vielfältiger Biodaten mittels Wearables in Kombination mit der athletennahen Labordiagnostik, der so genannten Point-of-Care-Diagnostik (POCT), Möglichkeiten bietet, Sportler individuell zugeschnittene Programme durchführen zu lassen und über die Auswertung der Daten den Erfolg der Maßnahmen zu verfolgen.
Technische Hilfsmittel sind immer nur dann hilfreich, wenn auch geeignete Daten extrahiert und in ein Trainingsprogramm übersetzt werden. Zweifellos erfordert das von Trainern und Betreuern neues Wissen, ein Umdenken und größere Flexibilität. Doch es wäre im Sinne aller Beteiligten, dass Sportler, die einen Großteil ihrer Zeit in eine sportliche Karriere investieren und manchmal sogar in der Schul- und Berufsausbildung zurückstecken (müssen), das Training bekommen, das ihnen beste Voraussetzungen für optimale Leistungen bietet. Im Idealfall unterstützt ein gut funktionierendes System aus Trainer und Betreuern die Athleten mit einem jeweils höchst individuell angepassten Training.
■ Hutterer C
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Quellen:
Buchheit M. Want to see my report, coach? Sport science reporting in the real world. Aspetar. Sports Medicine Journal. 2017; 2: 36-43.
Bundesministerium des Inneren. Die Finanzierung des Sports. [letzter Zugriff: 07.02.2018]
Hottenrott K. Potenziale der Individualisierung im Sport und Gesundheitscoaching stärker nutzen. Dtsch Z Sportmed. 2017; 68: 187-188. doi:10.5960/dzsm.2017.294
Hottenrott K, Braumann KM. Aktuelle Situation im deutschen Spitzensport. Sportwiss. 2015; 45: 111-115. doi:10.1007/s12662-015-0372-1
Muckenhaupt M, Grehl L, Lange J, Knee R. Wissenskommunikation und Wissensmanagement im Leistungssport. Empirische Befunde und Entwicklungsperspektiven. Schorndorf: Hofmann Verlag, 2012
Sperlich B. Trainingswissenschaft - Integrativ & Experimentell. Dtsch Z Sportmed. 2016; 67: 25-26. doi:10.5960/dzsm.2016.217