Prävention von Kletterverletzungen

Prävention von Kletterverletzungen
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Der Klettersport macht seit Jahren eine sehr dynamische Entwicklung durch, die mit der Aufnahme in das Register der olympischen Sportarten sicherlich nicht enden wird. Nicht nur, dass immer mehr Menschen in ihrer Freizeit klettern (und das immer ambitionierter) – auch die Nachwuchskader im Leistungsklettern verzeichnen Mitgliederzuwächse. Diese Entwicklung lässt sich bis zu einem gewissen Grad auch an der Art der Kletterverletzungen bzw. den Verletzungsbildern ablesen. Früher waren bei Kletterern vor allem Fingerverletzungen typisch (2). Bestimmte Veränderungen im Klettersport scheinen nun auch die Verletzungsbilder zu verändern. Hinzugekommen sind Verletzungen der Schultern und Ellbogen.

»Wir beobachten zunehmend Beschwerden des unteren Rückens, die wir vor zehn Jahren noch kaum gesehen haben«, erklärt Dr. Andreas Vantorre, Sportwissenschaftler und hessischer Landestrainer für Wettkampfklettern. Zusammen mit einem Netzwerk aus Fachärzten aus den Bereichen der Orthopädie, Sportmedizin, Radiologie und Chirurgie betreut er verletzte Kletterer in der Rehabilitation und im Trainingsmanagement. Auch Knie- und Sprunggelenksverletzungen kommen vor, die aber hauptsächlich auf die Technik des Eindrehens und hohen Aufhockens (z. B. Meniskusverletzungen) oder Stürze (z. B. Frakturen) zurückzuführen sind.

Dr. Andreas Vantorre
Dr. Andreas Vantorre, bietet Fortbildungen für die Landeskammer Hessen an (Zusatzausbildung Sportmedizin). © Vantorre

Charakteristika von Bouldern und Seilklettern

Unter der Bezeichnung »Klettern« subsummieren sich Bouldern, also seilfreies Klettern in Absprunghöhe (bis ca. 4 m, in Kletterhallen oder an Felsen), und Seilklettern. Bouldern ist kraftlastig mit häufig submaximalem Charakter. Seilklettern kann man grob in Sportklettern (in Kletterhallen und am Fels) und Alpinklettern (im alpinen Berggelände) unterteilen. Sportklettern ist gekennzeichnet durch kurze Routen (i. d. R. 10–30 m), die alpinistisch wenig, dafür sportlich mitunter sehr anspruchsvoll sowie gut abgesichert sind. Alpinkletterer wollen hingegen einen Berg oder eine Felswand (meist mehrere hundert Meter) kletternd erklimmen. Die beiden Arten unterscheiden sich vor allem durch die Länge der Routen, die Art der Absicherung (je alpiner, desto weniger Absicherung ist vorhanden) und objektive Gefahren wie Felsqualität, Frequentierung der Routen, Steinschlag etc. Klar ist, dass Kletterverletzungen meist umso schwerer ausfallen, je alpiner das Gelände ist. Nachfolgend soll es jedoch um typische Kletterverletzungen beim Bouldern und Sportklettern gehen, die beim Klettern an künstlichen Anlagen und in Klettergärten vorwiegend auftreten.

Häufige Verletzungen beim Bouldern und Sportklettern

Die Verletzungsrisiken beim Bouldern und Klettern sind vergleichsweise gut untersucht, obwohl es sich um eine situative Sportart handelt (1, 3). Allein mehr als 100 Publikationen gehen auf Prof. Dr. Volker Schöffl zurück, der selbst im 10. Schwierigkeitsgrad am Fels unterwegs ist. »Die zahlenmäßig meisten Schäden beim Klettern sind Überlastungsverletzungen insbesondere in der oberen Körperhälfte, an den Fingern, Armen und Schultern. Daneben gibt es spontane Verletzungen, beispielsweise eine Ringbandruptur im Finger, und durch Traumata verursachte Verletzungen, vor allem durch Stürze«, erklärt der Sektionsleiter der Sportorthopädie, Sporttraumatologie, Sportmedizin und Chirurgie der oberen Extremität am Klinikum Bamberg (8).

Stürze können nicht immer verhindert werden. Zwar kann man beim Bouldern das Aufkommen auf der Matte und das Abrollen üben, doch ist die Verletzungsgefahr trotzdem gegeben. Beim Seilklettern sind Stürze ins Seil meist wenig verletzungsträchtig und Sturz- und Sicherungstraining können das Risiko weiter verringern. Dennoch sind Verletzungen – etwa Frakturen – bei weitem Sturz und hartem Anprall an die Wand oder sogar auf dem Boden manchmal nicht zu verhindern. Die Prävention setzt deshalb vor allem an anderer Stelle an.

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Ursachen von Kletterverletzungen: Überlastung durch »Ausprobieren« statt Technik

Bouldern und Klettern sind bewegungsphysiologisch komplexe Sportarten. Sie zeichnen sich durch einen hohen Kraft- und Beweglichkeitsanteil und eine Gewichtskomponente aus (5). Besonders Bouldern verleitet aber dazu, einfach mal auszuprobieren. Teilweise wenig trainierte und/oder auf die kletterspezifischen Bewegungen nicht vorbereitete Personen suchen nach schnellen Erfolgserlebnissen. »Anfänger ‚ziehen‘ gerne über Armkraft, anstatt in Spannung zu stehen. Dadurch wirken hohe Kräfte auf Schultern, Ellbogen und Finger,« erklärt Dr. Vantorre. Und weiter: »Leider werden die Routen heute auch so geschraubt: Ein großer Griff und ein hoher Tritt, dann kann man sich mit einer klimmzugartigen Bewegung, also hohem Krafteinsatz, hochziehen. Die Leute würden besser geschützt, wenn es einen schlechteren Griff, aber dafür mehr Trittmöglichkeiten gäbe.« Dann bräuchten sie eine verbesserte Technik und auch andere Muskulatur. Eine gute körperliche Vorbereitung auf kletterspezifische Anforderungen ist auch deshalb sinnvoll, weil die meisten Beschwerden und Schäden aus Überlastung resultieren und mit besserer Vorbereitung und Technik vermeidbar wären. Präventionsstudien im Klettern gibt es wenige, doch mit verbesserter Klettertechnik, guter Rumpf- und Schulterstabilisation ließe sich die Belastung auf die Finger reduzieren.

Die Trainerausbildung ist nicht reguliert

Prof. Schöffl empfiehlt Ausgleichstraining, das auf kletterspezifische Belastungen ausgerichtet ist. Zusammen mit einem Klettertrainer und Therapeuten und einem Sportwissenschaftler hat der Mediziner ein solches Trainingsmanual für alle im Klettersport wichtigen Körperregionen und Muskelketten erstellt. Das »Adjunct Compensatory Training for rock climbers« (kurz ACT) kann man auf www.act.clinic als E-Book downloaden. Mit diesem Training wurden signifikante Verbesserungen im Schulterbereich nachgewiesen. So konnte das Bewegungsausmaß verbessert und langanhaltende Schmerzen bei Impingement und Überlastung der Supraspinatussehne gemindert werden. Prof. Schöffl sieht aber noch ein anderes Problem: »Da Klettern oft nicht vereinsgebunden stattfindet, gibt es in kommerziell betriebenen Boulder- und Kletterhallen keine verpflichtende Struktur in der Ausbildung von Trainern oder Kursleitern. Im Prinzip kann jeder, von Anfängerkursen bis in den Leistungssportbereich, Kurse anbieten. Das ist ein großes Problem und da gehört Struktur hinein.«

Prof. Dr. Volker Schöffl, Sektionsleiter der Sportorthopädie, Sporttraumatologie, Sport­medizin und Chirurgie der oberen Extremität am Klinikum Bamberg.
Prof. Dr. Volker Schöffl, Sektionsleiter der Sportorthopädie, Sporttraumatologie, Sport­medizin und Chirurgie der oberen Extremität am Klinikum Bamberg. © Sozialstiftung Bamberg

Zusätzlichen Regulierungsbedarf sieht Dr. Vantorre im Kinder- und Jugendbereich, wo es bislang keine Jugendschutzrichtlinien gibt, die festlegen, welche Trainingsmethoden in welchem Alter entsprechend der körperlichen Voraussetzungen trainiert werden dürfen. Dabei zeigen Untersuchungen, dass beispielsweise die Teilnahme an Boulder-Wettkämpfen und spezifisches Fingerkraft-Training (z. B. am Campusboard) für junge Kletterer nicht empfohlen ist und langfristig das Arthroserisiko erhöht (4).

Gefahren durch spektakuläre Routencharakteristik

Insgesamt hat sich die Art, wie Routen geschraubt werden, in den letzten zehn Jahren stark verändert. Im Prinzip stellt jede Boulderroute erst einmal ein Bewegungsproblem dar. Die Routenschrauber in Kletterhallen möchten diese natürlich interessant gestalten. »Ich beobachte, dass in den letzten Jahren in den Routen Bewegungen dazukommen, die zwar spektakulär sind, aber der Physiologie nicht zuträglich. Dadurch steigt die Verletzungsgefahr vor allem beim Bouldern«, sagt Dr. Vantorre. Sein Eindruck ist, dass vermehrt Routen geschraubt werden, in denen starke Rotationen mit Biegungen der Wirbelsäule und sehr hohes Antreten vorkommen, wodurch große Belastungen im Lendenwirbelbereich entstehen. So könnte sich die steigende Zahl von Kletterern mit Rückenproblemen erklären. Hinzu kommt, dass bei Beschwerden die Zeit, bis ein Arzt konsultiert wird, bei Kletterern sehr lang ist. »Oft werden Beschwerden erst ignoriert, dann wird ohne spezifische Therapie pausiert und irgendwie weitergemacht. Bis zum Arztbesuch vergehen nach unseren Erhebungen oft über 100 Tage. So werden Beschwerden unnötig chronifiziert«, berichtet Schöffl.

Doch warum gehen Kletterer mit Schmerzen nicht zum Arzt? »Kletterer sind selten«, beginnt Dr. Vantorre eine Erklärung. Und weiter: »Die meisten Orthopäden haben kaum Erfahrung mit Kletterern und deswegen keine Vorstellung von den Belastungen und Kletterverletzungen. Wenige Radiologen sehen regelmäßig kletterspezifische Veränderungen im MRT. Hören die Betroffenen dann noch die Frage, ob sie denn wirklich unbedingt klettern müssten oder ob sie sich nicht eine andere Sportart suchen könnten, ist das Vertrauen dahin.«

Prof. Schöffl bestätigt, dass der Arztkontakt häufig frustrierend verläuft und Sportler dann nicht mehr hingehen. »Spätestens seit Klettern olympisch ist und in allen Medien vorgestellt wurde, sollten auch Ärzte eine Vorstellung von dem Sport haben. Ich selbst gebe seit über 15 Jahren sportmedizinische Fortbildungen, aber in der Breite kommt das scheinbar nicht an. Es gibt einfach sportartspezifische Verletzungen, die in anderen Sportarten nicht vorkommen, beispielsweise der Ringbänder. Wenn man keine Vorstellung von dem Sport hat, weiß man auch nicht, wie man damit umgehen soll«, so Schöffl. Hinzu kommt, dass die Diagnostik bestimmter Kletterverletzungen, beispielsweise an den Ringbändern, nicht immer einfach ist. »Standardmäßig wird eine MRT-Aufnahme der Hand in gestrecktem Zustand gemacht. Da kann man bestimmte Schadensbilder, unter anderem der Ringbänder, schlechter einschätzen als mit einer gehaltenen Aufnahme bei gebeugter Handstellung gegen Widerstand«, erklärt Dr. Vantorre (6).

Grundsätzlich, das betonen beide Experten, ist Klettern eine Sportart mit hohem gesundheitlichem Wert, die bis ins hohe Alter ausgeübt werden kann. Eine prospektive Studie ermittelte während eines Fünfjahres-Zeitraums eine Verletzungsrate von 0,02 pro 1000 Kletterstunden (7), die Dunkelziffer ist wahrscheinlich jedoch höher. Kommen großer Ehrgeiz, mangelnde Klettertechnik und nicht ausreichende Konstitution zusammen, können aber Beschwerden und Verletzungen auftreten. Dann sollte ärztliche Hilfe gesucht werden, gegebenenfalls so lange, bis man einen Arzt mit entsprechender Erfahrung, einen medizinisch kompetenten Klettertrainer oder am besten beides gefunden hat. Die beste Prävention bestünde jedoch darin, sportmedizinische Kompetenz bereits in die Trainingsgestaltung mit einfließen zu lassen.

■ Hutterer C

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Quellen:

  1. Grønhaug G. Self-reported chronic injuries in climbing: who gets injured when? BMJ Open Sport & Exercise Medicine. 2018; 4: e000406. doi:10.1136/bmjsem-2018-000406

  2. Hochholzer T, Schöffl V. Degenerative Veränderungen der Fingergelenke bei Sportkletterern. Dtsch Z Sportmed. 2009; 60: 145-149.

  3. Jones G, Schöffl V, Johnson MI. Incidence, Diagnosis, and Management of Injury in Sport Climbing and Bouldering: A Critical Review. Curr Sports Med Rep. 2018; 17: 396-401. doi:10.1249/JSR.0000000000000534

  4. Morrison AB, Schöffl VR. Physiological responses to rock climbing in young climbers. Br J Sports Med. 2007; 41: 852-861. doi:10.1136/bjsm.2007.034827

  5. Saul D, Steinmetz G, Lehmann W, Schilling AF. Determinants for success in climbing: A systematic review. J Exerc Sci Fit. 2019; 17: 91-100. doi:10.1016/j.jesf.2019.04.002

  6. Schöffl VR, Hoffmann G, Küpper T. Acute injury risk and severity in indoor climbing – a prospective analysis of 515,337 indoor climbing wall visits in 5 years. Wilderness Environ Med. 2013; 24: 187-194. doi:10.1016/j.wem.2013.03.020

  7. Schöffl V, Simon M, Lutter C. Finger and shoulder injuries in rock climbing. Orthopäde. 2019; 48: 1005-1012. doi:10.1007/s00132-019-03825-3