Placebo – eine mächtige Unbekannte
Der menschliche Körper funktioniert Tag für Tag, ein Leben lang. Das Herz schlägt ohne Pause, die Nieren arbeiten, das Hirn feuert, die Augen blinzeln, wir atmen Zug um Zug. Das verleitet manchmal dazu, zu glauben, »der Mensch«, seine Körperfunktionen und Reaktionen wären standardisiert und vorhersagbar. Doch Placebo- und Noceboeffekte zeigen immer wieder deutlich, dass dem nicht so ist.
In der Blackbox »Mensch« trifft die Medizin einerseits auf individuelle Physiologie, andererseits auf psychische Einflussfaktoren, wie persönliche Erfahrungen oder Erwartungen. Um den tatsächlichen Wirkeffekt eines Medikaments oder einer therapeutischen Maßnahme möglichst genau eruieren zu können, gelten prospektive, randomisierte, placebokontrollierte, doppelt verblindete Studien mit hohen Teilnehmerzahlen als Mittel der Wahl. In den meisten Fällen bilden sie die Grundlage der Leitlinien, die von wissenschaftlichen Fachgesellschaften erarbeitet werden, um die Versorgung von Patienten zu verbessern oder eine optimale Therapie sicherzustellen. Solange es sich um einen Vergleich von verschiedenen Medikamenten und Placebo handelt, lässt sich dieser Ansatz relativ gut anwenden. Doch in einigen Bereichen der Medizin ist die Umsetzung schwierig – beispielsweise in der Chirurgie, der Sportmedizin oder bei Präventionsinterventionen.
Der Glaube, der Berge versetzt
Die Placeboforschung hat gezeigt, dass die Erwartungshaltung – einer der Schlüsselfaktoren des Placeboeffekts – mitunter eine bedeutendere Rolle spielen kann als die tatsächliche Wirkung der Therapie. Bei Medikamentengaben können bis zu 70 Prozent der Symptomverbesserung auf unspezifische Placeboeffekte zurückzuführen sein (3). Zwei Studien, die hier beispielhaft genannt werden, haben das eindrucksvoll gezeigt.
Die Studie von Mosely et al., bei der Teilnehmern eine Knie-OP sehr glaubhaft vorgespielt wurde, ergab, dass es Patienten, die tatsächlich eine arthroskopische Lavage des Kniegelenks erhalten hatten, nicht besser ging als denen, die nur eine Schein-OP bekommen hatten (2). Eine andere wegweisende Arbeit waren die German Acupuncture Studies (GERAC), in denen für Migräne, Spannungskopfschmerz, chronische Schmerzen des unteren Rückens und Osteroathritis des Kniegelenks jeweils Akupunktur mit Scheinakupunktur sowie der leitliniengerechten Therapie verglichen wurde. Kurz gefasst fand man heraus, dass Akupunktur zwar nur geringfügig besser wirkt als Scheinakupunktur, aber beide besser abschnitten als die leitliniengerechte Therapie.
Das muss man sich noch einmal bewusst machen: Eine nicht durchgeführte Operation wirkte genauso gut wie eine tatsächlich vorgenommene! Auch wenn dieses Ergebnis natürlich nicht auf alle Operationen übertragbar ist, so stellen sich doch zwei entscheidende Fragen.
1. Für wie viele standardmäßig durchgeführte und auch leitliniengerechte Therapien gibt es die klare Evidenz, dass sie besser sind als Placebo – also für den Patienten einen messbar höheren Nutzen bringen?
2. Wie könnte man sich in der täglichen Praxis die Erkenntnisse der Placeboforschung so zu Nutzen machen, dass Patienten von einer Therapie – oder sogar von objektiv betrachtet weniger Therapiemaßnahmen – stärker profitieren?