Optimierung durch Selbstvermessung? Wie Lifelogging und Online-Fitness unser Leben (nicht) verändern.

Optimierung  durch Selbstvermessung? Wie Lifelogging und Online-Fitness unser Leben (nicht) verändern.
© Syda Productions/fotolia

Viele tun es und viele lassen es (bald wieder): Self-Tracking, Lifelogging, die Vermessung des eigenen Körpers mittels Wear­ables mit unterschiedlichsten Funktionen und Apps. Doch wie nachhaltig sind diese Methoden? Bereits 1890 vermutete der französische Soziologe Gabriel Tarde, dass der Mensch durch die Verbesserung der statistischen Möglichkeiten künftig »bei jedem Schritt und mit jedem Blick von statistischen Informationen und präzisen, gebündelten Auskünften über alle Details des gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustands bedrängt« werden würde. Was damals noch Spekulation war, verdichtete sich in den letzten Jahren aufgrund verschiedener Einflüsse gerade im Gesundheitsbereich zu einem mittlerweile nicht mehr übersehbaren Trend zur Selbstvermessung.

Zwar gibt es Blutdruck-, Schmerz-, Trainings- und Ernährungstagebücher schon lange als Hilfmittel zur Vermessung des eigenen Körpers. Sogar das Pentagon machte sich den Ansatz im Rahmen des Projekts »Life log« zunutze. Nach dem Grundsatz, dass jedes Detail wichtig sein könnte, sollten Werte von Soldaten möglichst umfangreich erfasst werden, damit das Einsatzkommando jederzeit über den Status der Truppe Bescheid weiß. Ein Massenphänomen wurde die Selbstvermessung des Körpers dennoch lange Zeit nicht. Dies änderte sich erst mit den neuen Technologien.

Selbst-Vertrauen versus Technik-Hörigkeit

Inzwischen tragen viele Menschen freiwillig entsprechende Sensoren am Körper und erfassen Herzfrequenz, Blutdruck, Schlafphasen, sportliche Aktivität, Schritte oder Ernährungsgewohnheiten und vergleichen die Daten mit anderen Nutzern. Die Diskussion über Sinn und Unsinn bzw. Nutzen und Schaden dieses Trends ist bereits entbrannt. Kritiker bemängeln die »Verobjektivierung« des Körpers, welche u. a. zu einer Entfremdung von der Intuition führe.

Dr. Karolin Eva Kappler, die sich im Rahmen des DFG-Projekts »Taxonomien des Selbst« der Fernuniversität in Hagen mit dem Quantified Self beschäftigt, berichtet von einem Athleten, der Trainingsumfang und -intensität allein von der Angabe der maximalen Sauerstoffaufnahme (VO2max) seiner Pulsuhr abhängig macht – unabhängig von seinem Körpergefühl. Müde, erschöpft, fit: egal. Seine Schlussfolgerung sei gewesen, dass man sich auf die Rückmeldung seines Körpers nicht verlassen könne. Das ist auch die Leitidee der Self-Tracker: Deinem Körper kannst du nicht vertrauen; verlass dich lieber auf objektive Daten.

Befürworter der Quantified-Self-Bewegung hingegen betonen, dass detaillierte Kenntnisse über den Körper den Weg zu wahrer Individualität überhaupt erst ermöglichen. Dr. Kappler erläutert dies an einem anderen Beispiel, in dem ein Angestellter an seinem Arbeitsplatz einen Clip am Ohr verwendete, der die Variabilität des Herzschlags erfasste und so das Stresslevel anzeigte. Über die visuelle Rückmeldung des Geräts, wann er besonders gestresst war, lernte die Person, die Stress-Signale des Körpers erst (oder wieder) wahrzunehmen und entsprechende Entspannungsstrategien im Arbeitsalltag zu etablieren.

Bild Karolin Eva Kappler
Dr. Karolin Eva Kappler, Institut für Soziologie, Fernuniversität Hagen © Kappler

Wer nutzt was, wie und warum?

Die beiden Beispiele zeigen, dass es kein einfaches Urteil über gut oder schlecht, nützlich oder schädlich geben kann. Die Art der Nutzung und der Umgang damit sowie die Aussagekraft sind stark vom einzelnen Nutzer, seiner Zielsetzung und seiner Motivation abhängig. Dennoch lässt sich nicht abstreiten, dass es bei allen Geräten und Apps letztendlich um Verbesserung und Optimierung geht: Man will Gewicht reduzieren, effizienter Sport treiben, mehr Muskulatur aufbauen, erholsamer schlafen, zielführender trainieren etc.

Klar ist auch, dass die Fokussierung auf nur einen einzigen Messwert sehr viele andere relevante Parameter vernachlässigt. Für eine umfassende Bewertung des eigenen Status, seiner Merkmale und der individuellen Bedürfnisse wäre neben der Erhebung verschiedenster Werte vor allem eine Reflexion darüber notwendig, was genau gemessen wird und welche Bedeutung die Informationen haben. »Bei der Befragung von Nutzern stellten wir überrascht fest, dass die Aussagen der Geräte und Apps, z. B. über ein wie auch immer berechnetes Aktivitätslevel, sehr unreflektiert aufgenommen werden. Nach unserer Erfahrung werten die meisten User die gewonnenen Daten auch nicht aus, sondern orientieren sich an den über die Software ausgegebenen Durchschnittswerten, mit denen sie sich vergleichen. Mit Individualität hat das natürlich nichts mehr zu tun«, erklärt Dr. Kappler.

Hinzu kommt, dass die digitale Selbstvermessung bei vielen Bewegungsformen und Sportarten wie beispielsweise Schwimmen, Handball oder Turnen technisch noch nicht gut funktioniert. Bei Sportarten, in denen Ästhetik eine wichtige Rolle spielt, wie z. B. Ballett oder andere Tänze, haben derartige Daten gar keine Bedeutung; ebenso im Kampfsport, wo gemacht wird, »was der Trainer sagt«.

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Vom Handgelenk in die Schublade

Das Nutzungsverhalten zeigt, dass viele Anwender sich offenbar nicht die umfassende Selbstüberwachung wünschen, sondern einzelne, als problematisch erachtete Verhaltensweisen ändern möchten, also beispielsweise Gewicht reduzieren, mit dem Rauchen aufhören oder Muskeln aufbauen wollen. Unterwirft man sich mit einem Wearable am Handgelenk oder einer App auf dem Smartphone also doch nicht einem allgemeinen Fitnesswahn und Gesundheitszwang? Dafür spricht, dass laut einer Untersuchung etwa jeder dritte Wearable-Besitzer innerhalb von sechs Monaten wieder aufhörte, das Gadget zu nutzen. Offenbar gelingt es also auch trotz technischer Geräte und Apps nicht, den inneren Schweinehund dauerhaft zu überwinden und eine Verhaltensänderung umzusetzen.

Ähnliche Beobachtungen macht auch Dr. Daniel Gärtner, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fakultät für Sport und Gesundheitswissenschaften der TU München, im Bereich Online-Fitness. Virtuelle Fitnessstudios bieten gegen eine monatliche Gebühr, äquivalent zu einem klassischen Studio, Fitnesskurse an, die über das Internet gestreamt werden können. Daneben gibt es auch eine Reihe kostenloser Fitness-Channels auf YouTube wie zum Beispiel Fitness Blender, der mit über drei Millionen Abonnenten beliebteste Kanal, oder Xhit mit über zwei Millionen Beziehern. Der User ist dabei komplett unabhängig von Öffnungs- oder Kurszeiten.

»Bei diesen Angeboten, welche ohne spezielles Ziel und ohne Laufzeit gebucht werden können, lässt die Motivation häufig schnell nach und die User machen die Programme nicht mehr. Kurse mit begrenzter Laufzeit hingegen, die gezielt auf ein bestimmtes Ergebnis ausgerichtet sind, z. B. Marathontraining oder Gewichtsreduktion, und die dafür einen umfassenden Service in Form von variierenden Trainings- und Ernährungsplänen oder Rezepten anbieten, werden von einem Großteil der Abonnenten bis zum Schluss durchgehalten«, schildert Dr. Gärtner die Ergebnisse von Untersuchungen des Fachbereiches sowie Erfahrungen mit seinem eigenen Online-Fitnessprogramm, das er kostenpflichtig im Internet anbietet.

Bild Daniel Gärtner
Dr. Daniel Gärtner, Sportwissenschaftler, TU München © Gärtner

Selbstvermessungs-Hopping statt Verhaltensänderung

Vor allem Erwachsene mit stressigem Alltag und wenig Zeit, aber auch Jugendliche, die sich von dem in vielen Medien zelebrierten Kult um den »idealen« Körper beeinflussen lassen, zieht es verstärkt hin zur virtuellen Fitness-Szene und weg von den klassischen (Vereins-)Sportarten. Deren Mitgliederzahlen sind im Gegensatz stark rückläufig. So sehr man befürworten mag, dass sich eine Vielzahl von Menschen mithilfe von Online-Fitnessprogrammen, Apps und Wearables der Bewegung und körperlichen Aktivität öffnet, so kritisch ist diese Entwicklung im Hinblick auf das Verletzungsrisiko zu betrachten. »Viele Online-Fitnessprogramme versprechen schnelle Erfolge in kurzer Zeit. Das ist nur mit sehr intensivem Training möglich. Diese Übungen sind aber oft sehr komplex und benötigen bereits eine gute Konstitution. Für Einsteiger sind sie häufig nicht zu empfehlen. So kommt es schnell zu Überlastungen und Verletzungen, welche wiederum zum Abbruch des Programms führen«, erklärt der Sportwissenschaftler Gärtner.

Allgemein scheint sich zu bestätigen, dass die treibende Kraft für die genannten Entwicklungen der Wunsch ist, in kurzer Zeit und mit wenig Aufwand einen fitten, gesunden und gut aussehenden Körper zu bekommen, Wird das nicht erreicht oder ist der Aufwand zu hoch, hört man eben wieder auf oder probiert die nächste App. »Selbstvermessungs-Hopping« nennt das Dr. Kappler und zweifelt daher an der Nachhaltigkeit der Methoden. Die Trägheit, die jeden einzelnen seit Monaten, Jahren oder Jahrzehnten davon abhielt, ein ungeliebtes Verhalten zu ändern, lässt sich halt nicht so leicht austricksen, wie einem die Hersteller von Wearables, und die Entwickler von Apps und Online-Programmen glaubhaft machen möchten. Irgendwie hat das auch etwas Beruhigendes.

■ Hutterer C

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Quellen:

  1. Tarde G. Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt a.M., Suhrkamp. 2008.

  2. Wolf G. The Data-Driven Life. New York Times, 28.04.2010. http://www.nytimes.com/2010/05/02/magazine/02self-measurement-t.html?_r=0

  3. Chiauzzi E, Rodarte C, DasMahapatra P. Patient-centered activity monitoring in the self-management of chronic health conditions. BMC Medicine, 2015; 13: 77. doi:10.1186/s12916-015-0319-2

  4. Duttweiler S, Gugutzer R. »Ich habe das gute Gefühl, etwas Wichtiges für mich und meine Zukunft zu tun.« Self-Tracking im Sport – mehr als kurzfristige Selbstbefriedigung? Forschung Frankfurt, 2015; 1: 28–33.