Fortsetzung Neuroathletiktraining (NAT): Was Schielen und Summen mit Bewegungsqualität zu tun haben
Hirnareale gezielt ansprechen – wie soll das funktionieren?
Lars Lienhard und Ulla Schmid-Fetzer (ehemalige Profitänzerin und Neuroathletiktrainerin) erklären: »Aus Imaging-Untersuchungen der angewandten Neuroanatomie und Neurologie ist an sich schon lange bekannt, welche Gehirnstrukturen welche Aufgaben haben und wie und in welcher Reihenfolge die Strukturen miteinander kommunizieren. Wir wissen, welche Afferenzen wir nutzen können, um ein bestimmtes Hirnareal mit Informationen zu bombardieren. Die von uns angewandten Übungen setzen die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte anwendbar um.« Wenn das gelingt, soll das Gehirn nach einem ausreichenden Reiz mit der Bildung neuer Synapsen, also neuroplastisch, reagieren.
Die Übungen, die Lienhard und Schmid-Fetzer anwenden, sollen besonders das visuelle, vestibuläre und propriozeptive System beeinflussen. Vor der Auswahl der Übungen wird mithilfe von Tests ermittelt, welche Systeme von Dysbalancen betroffen sind oder Defizite aufweisen. Es entsteht ein »neuronales Profil« des Athleten. In der Folge werden beispielsweise die Akkommodation der Augen, das binokulare Sehen oder der vestibulookuläre Reflex (ermöglicht ein Objekt auch bei Bewegung des Kopfes zu fixieren) trainiert. Kopfschütteln oder Kopfnicken zum Aktivieren und Trainieren der Gleichgewichtsorgane, Zungenkreisen oder Atemübungen zum Aktivieren des Vagusnervs, Schielen und Übungen mit Lochbrille oder Augenklappe gehören ebenfalls zum Repertoire und können im Schwierigkeitsgrad variiert werden. »Um wirklich etwas zu verändern, ist regelmäßiges Training nötig. Mindestens 20 Minuten pro Themenkomplex und Tag über sechs bis acht Wochen können nachhaltige Umstrukturierungen im Gehirn bewirken«, betont Lienhard.
Kritisch sehen dagegen manche Wissenschaftler den Ansatz. »Auch wenn das Konzept in Teilen logisch klingt, so basieren die Aussagen und vor allen Dingen die postulierten Effekte methodisch, physiologisch und anatomisch bislang leider überwiegend auf Hypothesen. Es ist weitgehend unklar, ob die mit dem Training anvisierten Strukturen tatsächlich leistungsphysiologisch relevant sind und ob Effekte auch dort auftreten, wo Neuroathletiker das postulieren. Es gibt bisher keine wissenschaftlichen Untersuchungen, die bildgebend, physiologisch oder auf Ebene der Neurotransmitter die Effekte an den entsprechenden Stellen zeigen«, erklärt Prof. Claus Reinsberger, Institutsleiter des Departments Sport und Gesundheit an der Universität Paderborn.
Dabei ist der Neurologe nicht grundsätzlich gegen die Trainingsform: »Die Ansätze sind oft gut und spannend, aber ich fürchte, dass das ZNS hier stark vereinfacht wird und anatomische und physiologische Aspekte selektiv herausgegriffen werden, weil wir sie dann glauben trainieren zu können.« Reinsberger und seine Kollegen nutzen die Physiologie als Ausgangspunkt. Sie messen beispielsweise die physiologische Funktion des vestibulookulären Reflexes und des dynamischen Visus‘, der die Sehfähigkeit beschreibt, wenn sich der Kopf bewegt. Anhand der Messungen können relative Defizite festgestellt werden. »Wir wissen allerdings noch nicht, wie die physiologischen Parameter mit Training veränderbar sind und welchen Einfluss ein Training auf das Ausüben der Sportart hat«, gibt Prof. Reinsberger zu bedenken.