Neuroathletiktraining (NAT): Was Schielen und Summen mit Bewegungsqualität zu tun haben

Neuroathletiktraining (NAT): Was Schielen und Summen mit  Bewegungsqualität zu tun haben
© Nils Schwarz

Seit einigen Jahren erobert eine neue Trainingsform die Sportstätten der Hochleistungsathleten. Mit Neuroathletiktraining (NAT) versuchen sie, die eigene Leistung weiter zu verbessern. Ziel ist es, vernachlässigte oder eingeschränkte Funktionen im Nervensystem wieder zu aktivieren und gezielt zu trainieren. Wenn man sich mit Neuroathletik auseinandersetzt, kommt man um den Namen Lars Lienhard nicht herum. Der Athletiktrainer und ehemalige Leistungssportler hat, ausgehend von dem neurowissenschaftlich basierten Ausbildungssystem Z-Health von Dr. Eric Cobb, ein für die sportliche Praxis angepasstes, praktisch anwendbares Trainingssystem entwickelt.

Dieser neurozentrierte Ansatz basiert auf der Annahme, dass jede Position des Körpers und jede Bewegung an das zentrale Nervensystem (ZNS) des Athleten gewisse Anforderungen stellt. Limitierend für die Leistungsfähigkeit ist demnach, wie gut das Gehirn den Anforderungen gerecht werden kann. Beeinflusst wird die Bewegungsqualität nicht nur durch die Summe der »sichtbaren« Kraft- und Ausdauer­parameter sowie sportartspezifische Fähigkeiten und Talent, sondern maßgeb­lich auch durch im Hintergrund ablaufende neurophysiologische Vorgänge.
Im Kern geht es darum, potenzielle Gefahren, die das Gehirn zu erkennen glaubt, zu entlarven und Schutzreaktionen zu bearbeiten.

»Diese Schutzmaßnahmen können unterschiedlich ausfallen, beispielsweise in Einschränkungen der Kraft oder Bewegungsweite, in Schmerzen, muskulären Spannungen oder langfristig in Angstzuständen, immunologischen oder endokrinen Veränderungen. Dass dadurch die Leistungsfähigkeit eingeschränkt wird, ist nicht überraschend«, erklärt Lars Lienhard das Modell des »Gefahrenfilters«. In dieser Sichtweise sind die oben genannten Faktoren nicht die Ursache für schlechtere Bewegungsqualität, sondern ein Ergebnis der neuronalen Prozesse im Hintergrund – also ein Symptom, an dem sich die Defizite der zentralnervösen Bewegungssteuerung zeigen. Forschungsergebnisse belegen, dass ein Gefühl der Bedrohung zu defensivem Verhalten führt und die Durchführung anderer Aufgaben verschlechtert (6, 7).

Sportliche Höchstleistung steht in der Prioritätenliste des Gehirns nicht weit oben. Sie wird vielmehr toleriert, wenn es keine dem entgegenstehenden, wichtigeren Aufgaben sieht. NAT hat daher zum Ziel, die Situationen, in denen das Gehirn Verunsicherung empfindet, in einem ersten Schritt zu identifizieren. Anschließend wird es mittels gezielter Übungen trainiert, so dass das (unbewusste) Sicherheitsgefühl zunimmt und die Bewegung ohne Beeinträchtigung durchgeführt werden kann. Ob das funktioniert, ist wissenschaftlich jedoch umstritten.

Lars Lienhard, ehemaliger Leistungssportler und Neuroathletiktrainer
Lars Lienhard, ehemaliger Leistungssportler und Neuroathletiktrainer © Lienhard
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Hirnareale gezielt ansprechen – wie soll das funktionieren?

Lars Lienhard und Ulla Schmid-Fetzer (ehemalige Profitänzerin und Neuroathletiktrainerin) erklären: »Aus Imaging-Untersuchungen der angewandten Neuro­anatomie und Neurologie ist an sich schon lange bekannt, welche Gehirnstrukturen welche Aufgaben haben und wie und in welcher Reihenfolge die Strukturen miteinander kommunizieren. Wir wissen, welche Afferenzen wir nutzen können, um ein bestimmtes Hirnareal mit Informationen zu bombardieren. Die von uns angewandten Übungen setzen die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte anwendbar um.« Wenn das gelingt, soll das Gehirn nach einem ausreichenden Reiz mit der Bildung neuer Synapsen, also neuroplastisch, reagieren.

Die Übungen, die Lienhard und Schmid-Fetzer anwenden, sollen besonders das visuelle, vestibuläre und propriozeptive System beeinflussen. Vor der Auswahl der Übungen wird mithilfe von Tests ermittelt, welche Systeme von Dysbalancen betroffen sind oder Defizite aufweisen. Es entsteht ein »neuronales Profil« des Athleten. In der Folge werden beispielsweise die Akkommodation der Augen, das binokulare Sehen oder der vestibulookuläre Reflex (ermöglicht ein Objekt auch bei Bewegung des Kopfes zu fixieren) trainiert. Kopfschütteln oder Kopfnicken zum Aktivieren und Trainieren der Gleichgewichtsorgane, Zungenkreisen oder Atemübungen zum Aktivieren des Vagusnervs, Schielen und Übungen mit Lochbrille oder Augenklappe gehören ebenfalls zum Repertoire und können im Schwierigkeitsgrad variiert werden. »Um wirklich etwas zu verändern, ist regelmäßiges Training nötig. Mindestens 20 Minuten pro Themenkomplex und Tag über sechs bis acht Wochen können nachhaltige Umstrukturierungen im Gehirn bewirken«, betont Lienhard.

Neuroathletik Binokulares Sehen mit dem Brockstring
Binokulares Sehen mit dem Brockstring © Lienhard
Neuroathltik Vagusnervaktivierung im Training
Vagusnervaktivierung im Training © Lienhard

Kritisch sehen dagegen manche Wissenschaftler den Ansatz. »Auch wenn das Konzept in Teilen logisch klingt, so basieren die Aussagen und vor allen Dingen die postulierten Effekte methodisch, physiologisch und anatomisch bislang leider überwiegend auf Hypothesen. Es ist weitgehend unklar, ob die mit dem Training anvisierten Strukturen tatsächlich leistungsphysiologisch relevant sind und ob Effekte auch dort auftreten, wo Neuroathletiker das postulieren. Es gibt bisher keine wissenschaftlichen Untersuchungen, die bildgebend, physiologisch oder auf Ebene der Neurotransmitter die Effekte an den entsprechenden Stellen zeigen«, erklärt Prof. Claus Reinsberger, Institutsleiter des Departments Sport und Gesundheit an der Universität Paderborn.

Dabei ist der Neurologe nicht grundsätzlich gegen die Trainingsform: »Die Ansätze sind oft gut und spannend, aber ich fürchte, dass das ZNS hier stark vereinfacht wird und anatomische und physiologische Aspekte selektiv herausgegriffen werden, weil wir sie dann glauben trainieren zu können.« Reinsberger und seine Kollegen nutzen die Physiologie als Ausgangspunkt. Sie messen beispielsweise die physiologische Funktion des vestibulookulären Reflexes und des dynamischen Visus‘, der die Sehfähigkeit beschreibt, wenn sich der Kopf bewegt. Anhand der Messungen können relative Defizite festgestellt werden. »Wir wissen allerdings noch nicht, wie die physiologischen Parameter mit Training veränderbar sind und welchen Einfluss ein Training auf das Ausüben der Sportart hat«, gibt Prof. Reinsberger zu bedenken.

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Zunge am Gaumen – 30 Prozent mehr Kraft?

Eine Untersuchung, in der das Knieflexionsmoment bei unterschiedlicher Zungen­position gemessen wurde, kam zu beeindruckenden Ergebnissen (5). 18 Freizeitsportler führten den Test je dreimal mit unterschiedlicher Position der Zunge im Mund durch. Entweder lag die Zunge während der Durchführung im Unterkiefer (LOW), direkt hinter den Schneidezähnen (MID) oder im Oberkiefer am Gaumenbein an (UP). Die Kraftwerte unterschieden sich zwischen der LOW- und MID-Position nicht signifikant. Wurde die Zunge während des Tests jedoch in der UP-Position am Gaumen angelegt, war das maximale Spitzendrehmoment um 34 Prozent höher. Weitere Untersuchungen, die diese Effekte bestätigen, gibt es allerdings nicht. Man fragt sich warum, wenn doch durch einen einfachen Trick die Leistung derart massiv beeinflusst werden könnte? Unklar ist, ob die Ergebnisse nicht reproduzierbar sind, methodische Schwächen vorliegen oder der Effekt durch andere Parameter zustande kam.

Nach dem Hochleistungssport drängt NAT auch in den Breitensport, die Prävention und Rehabilitation. »Breitensportler gehen gerne um ihre Defizite herum. Das führt, neben viel sitzender Tätigkeit, dazu, dass unsere neuronalen Systeme, beispielsweise das Gleichgewichts- und das visuelle System, permanent unzureichend und einseitig gebraucht bzw. unterfordert werden. Da es dieses große Defizit in den Afferenzen gibt, können schon kleine Veränderungen große Effekte haben«, so Schmid-Fetzer.

Ulla Schmid-Fetzer, ehemalige Profitänzerin und Neuroathletiktrainerin
Ulla Schmid-Fetzer, ehemalige Profitänzerin und Neuroathletiktrainerin © Schmid-Fetzer

Erste Forschungsarbeiten zum Neuroathletiktraining

Langsam springt auch die Forschung auf den Zug auf und versucht, den Trend mit wissenschaftlichen Methoden zu untersuchen. Der Deutsche Fußball-Bund etwa hat in der DFB-Akademie einen Bereich Neuroathletik eingerichtet und finanziert eine Doktorandenstelle zum Thema. An der Uni Regensburg evaluiert eine Doktorandin am Lehrstuhl für Unfallchirurgie »Neuroathletische Pre-Season-Tests zur Beurteilung des individuellen Risikoprofils für Verletzungen der unteren Extremität bei Mannschaftssportlern«.

Ebenfalls mit Verletzungsprävention haben sich bereits Wissenschaftler der University of Cincinnati beschäftigt. Sie haben über vier Jahre lang jeweils in der Saisonvorbereitung mit den Spielern der American- Football-Mannschaft ein auf die Spielposition abgestimmtes visuelles Training durchgeführt und die Rate der Gehirnerschütterungen während der Saison mit vier Jahren verglichen, in denen das visuelle Training noch nicht etabliert war (4). Das Ergebnis ist eindrucksvoll: Die durchschnittliche Zahl an diagnostizierten Gehirnerschütterungen sank von 8,75 ± 1,7 pro 100 Spieleinsatzzeiten in den Jahren vor dem visuellen Training auf 1,5 ± 1,0 in den vier Spielzeiten mit visuellem Training in der Saisonvorbereitung. Eine Übersicht über das Trainingsverfahren findet sich bei Clark et al. (3).

So vielversprechend die ersten Ergebnisse und Einzelfallberichte von Sportlern auch klingen, es ist noch weit bis zur wissenschaftlichen Evidenz. Diese wäre aber gut, um zu wissen, was wirklich funktioniert. Bis jetzt ist noch nicht systematisch gezeigt worden, dass die Effekte durch spezifisches NAT über denen von Placebo liegen. Im Sport wurden Leistungssteigerungen von bis zu acht Prozent durch Placebo und eine Effektstärke von 0,2 bis 0,4 gefunden (1, 2). »Wenn die Erwartungen an die Effekte zu hoch sind, könnte Neuroathletiktraining trotz guter Ansätze bald wieder verschwunden sein. Es wäre schade, wenn diese Chance verpufft, weil die wissenschaftliche Basis fehlt«, meint Prof. Reinsberger.

Bild: Prof. Claus Reinsberger
Prof. Claus Reinsberger, Institutsleiter des Department Sport und Gesundheit an der Universität Paderborn © Reinsberger

■ Hutterer C

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Quellen:

  1. Beedie CJ, Foad AJ. The Placebo Effect in Sports Performance: A Brief Review. Sports Med. 2009; 39: 313–329. doi:10.2165/00007256-200939040-00004

  2. Bérdi M, Köteles F, Szabó A, Bárdos G. Placebo effects in sport and exercise: A meta-analysis. Eur J Ment Health. 2011; 6: 196–212. doi:10.5708/EJMH.6.2011.2.5

  3. Clark JF, Colosimo A, Ellis JK, Mangine R, Bixenmann B, Hasselfeld K, Graman P, Elgendy H, Myer G, Divine J. Vision training methods for sports concussion mitigation and management. J Vis Exp. 2015; 99. doi:10.3791/52648

  4. Clark JF, Graman P, Mangine RE, Rauch JT, Bixenmann B, Hasselfeld KA, Divine JG, Colosimo A, Myer GD. An Exploratory Study of the Potential Effect of Vision Training on Concussion Incidence in Football. Optom Vis Perf. 2015; 3: 116-125.

  5. Di Vico R, Ardigo LP, Salernitano G, Chamari K, Padulo J. The acute effect oft he tongue position in the mouth on knee isokinetic test performance: a highly surprising pilot study. Muscles Ligaments Tendons J. 2014; 3: 318-323.

  6. Fernandes O Jr, Portugal LC, Alves RC, Campagnoli RR, Mocaiber I, David IP, Erthal FC, Volchan E, de Oliveira L, Pereira MG. How you perceive threat determines your behavior. Front Hum Neurosci. 2013; 7: 632. doi:10.3389/fnhum.2013.00632

  7. Pichon S, de Gelder B, Grèzes J. Threat prompts defensive brain responses independently of attentional control. Cereb Cortex. 2012; 22: 274–285. doi:10.1093/cercor/bhr060