Künstliche Intelligenz als neuer Teamplayer im Spitzensport

Künstliche Intelligenz als neuer Teamplayer im Spitzensport
© C Malambo/peopleimages.com / Adobe Stock

Künstliche Intelligenz (KI) hat längst Einzug in viele Bereiche unseres Lebens gehalten – vom Smartphone-Assistenten bis zur automatisierten Bilderkennung. Auch im Spitzensport wird KI zunehmend interessant: Sie soll helfen, Trainingspläne zu optimieren, Bewegungsabläufe zu analysieren und zu optimieren und Verletzungen vorzubeugen. Sinnvolle Methoden zur Prävention und präzise Vorhersagen von Verletzungsrisiken sind für die Gesundheit und Leistungsfähigkeit von Spitzenathletinnen und -athleten essenziell – denn sie sind keine Roboter.

Die Herausforderung kleiner Fallzahlen

Hochkomplexe KI-Modelle liefern besonders dann zuverlässige Ergebnisse, wenn sie auf große Datenmengen zurückgreifen können. Im Spitzensport ist das unvermeidlich nicht gegeben: »Nur eine begrenzte Zahl an hoch spezialisierten Athletinnen und Athleten steht für Studien zur Verfügung. Verletzungen sind unter Spitzensportlern zwar relativ häufig, die absoluten Zahlen sind aber klein. Darum sind nur relativ kleine Datenmengen vorhanden«, erklärt Prof. Dr. Anne Hecksteden, Professorin für Sportmedizin an der Medizinischen Universität Innsbruck und der Universität Innsbruck, die an der Individualisierung im Spitzensport forscht. Gleichzeitig ist der Bedarf an präzisen Analysen als Entscheidungsgrundlage hoch – denn im Leistungssport entscheidet häufig ein Detail über Verletzungsfreiheit oder lange Ausfallzeiten.

Warum brauchen komplexe Modelle große Datenmengen (1)?

– Overfitting als Risiko: KI-Verfahren können große Mengen an Daten »hypothesenfrei« analysieren. Beim Erkennen von Mustern in Daten ist künstliche Intelligenz dem Menschen weit überlegen. Für zuverlässige Ergebnisse werden allerdings enorme Fallzahlen benötigt. Wenn hochdimensionale, flexible Modelle auf zu wenige Fälle angewandt werden, »finden« sie Muster, die zwar in diesem Datensatz existieren, aber nicht verallgemeinert werden können.

– Hochleistungssportler sind per Definition Ausnahmeerscheinungen. Dies erschwert die Generalisierung von Lernergebnissen, die auf sich wiederholenden Mustern basieren. Gleichzeitig wird es dadurch schwieriger, unplausible Modellprognosen zu identifizieren.

Prof. Dr. Anne Hecksteden
Prof. Dr. Anne Hecksteden, Professorin für Sportmedizin an der Medizinischen Universität Innsbruck und der Universität Innsbruck © florianlechner.com

Zusammenarbeit von KI, Fachpersonal und Athlet: »Interpretierbares maschinelles Lernen«

Der Einsatz von KI im Spitzensport zeigt schnell die Grenzen rein datenbasierter Prognosen auf. Insbesondere dort, wo wenige Fälle zur Verfügung stehen, ist das sogenannte »Overfitting« ein Problem: Muster, die der Algorithmus in den (kleinen) Trainingsdaten erkennt, lassen sich nicht immer auf neue Situationen übertragen. Eine bewährte Strategie zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit von KI-Modellen, für deren Training nur eine relativ kleine Datenmenge zur Verfügung steht, ist daher die bewusste Begrenzung der Modellkomplexität. Zusätzlich sind die Vorhersagen von Modellen, die nur wenige Parameter und einfache Entscheidungsregeln beinhalten, für den Menschen nachvollziehbar.

Einige Wissenschaftler setzen zusätzlich auf »hybride Intelligenz«, also die Verknüpfung von maschinellem Lernen und dem Erfahrungswissen von Trainern, Physiotherapeuten und Ärzten. »Wir unterstützen quasi die Daten, indem wir diese Lernlast ein bisschen von ihnen wegnehmen. Das geschieht durch die Einbindung menschlichen Erfahrungswissens in die KI-Modelle«, erklärt Prof. Hecksteden. »Die Möglichkeiten, menschliches Erfahrungswissen für Algorithmen zugänglich zu machen, sind vielfältig. Ein Beispiel ist die Auswahl und Berechnung informativer erklärender Variablen (‚feature engineering‘).«

Ein zentrales Element ist dabei das sogenannte »interpretierbare maschinelle Lernen« (Interpretable Machine Learning). »Wir nutzen interpretierbare Algorithmen, die ein überschaubares Set an Prädiktoren ausgeben, etwa als Score. Trainer, Physiotherapeuten, Sportmediziner und Athleten können dann genau erkennen, welche Faktoren das Verletzungsrisiko bestimmen, und es für den Einzelfall justieren«, erzählt Prof. Hecksteden aus Forschungsprojekten mit Profifußballern.

Transparenz statt Black Box

Diese Transparenz und Nachvollziehbarkeit verhindert das sogenannte »Black Box«-Phänomen: Statt eines undurchsichtigen KI-Urteils, dessen Entstehung unklar bleibt, erhalten alle Beteiligten verwertbare Hinweise. So kann das medizinische Fachpersonal gezielt weitere Informationen hinzunehmen – etwa das psychische Befinden oder aktuelle Lebensumstände, die sich in den reinen Daten nicht widerspiegeln. Gerade im Spitzensport ist dies entscheidend, da dort viele Einflussfaktoren vorliegen, die statistisch schwer zu greifen sind. Wenn der Algorithmus beispielsweise ein erhöhtes Risiko für Muskelschäden anzeigt, kann der betreuende Physiotherapeut oder der Mannschaftsarzt diese Einschätzung im Gespräch mit dem Sportler verifizieren und individuelle Maßnahmen einleiten – von speziellen Dehnübungen bis hin zur Anpassung der Trainingsbelastung.

»Interpretierbares maschinelles Lernen« wird auch in der Forschung zunehmend als Schlüsselstrategie gesehen, um die Akzeptanz von KI im medizinischen Bereich zu steigern und Fehleinschätzungen zu vermeiden (2). Indem KI-Ergebnisse nachvollziehbar bleiben, lassen sie sich optimal mit dem wertvollen Erfahrungswissen der Sportexperten verbinden. So entsteht eine enge Zusammenarbeit zwischen Datenanalyse und menschlicher Expertise, bei der sich beide Seiten ergänzen: Die künstliche Intelligenz liefert datengetriebene Risikoeinschätzungen, während das Trainer- und Betreuerteam den situativen Kontext – einschließlich Athletenpsychologie und sportartspezifischen Besonderheiten – beisteuert.

»Selbst wenn ein Modell Verletzungsrisiken anhand mehrerer Parameter (z. B. Trainingsintensität, Vorverletzungen) berechnet, bleibt immer Raum für subjektive Feinjustierung – beispielsweise, wenn ein Athlet eine unsichere Vertragssituation hat oder in einer schwierigen familiären Situation steckt. Dann kann er sich mutmaßlich nicht so gut auf das Spiel konzentrieren und man würde das Verletzungsrisiko etwas hochsetzen«, gibt Prof. Hecksteden zu bedenken. Die Daten für das von ihr und Kollegen im Profifußball entwickelte Vorhersagemodell zur Verletzungswahrscheinlichkeit kommen aus der direkten Zusammenarbeit mit Vereinen und Spielern.

Komplexe Bewegungsanalysen mit dem Smartphone erstellen

Ein weiterer vielversprechender Ansatz, um Verletzungen im Spitzensport vorzubeugen, liegt in der detaillierten Erfassung und Analyse von Bewegungen mithilfe von Sensoren und Kameras. Prof. Dr. Björn Eskofier, Leiter des Lehrstuhls für Maschinelles Lernen und Datenanalytik an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen, setzt hier an und kombiniert biomechanische Messungen (z. B. mithilfe von Wearables oder Elektromyografie-Sensoren) mit KI-Methoden, um riskante Bewegungsmuster zu erkennen und rechtzeitig zu korrigieren. »Wir verwenden Kameratechnologien, um Bewegungen automatisch zu analysieren. Eine künstliche Intelligenz erkennt Fehlhaltungen oder ungünstige Winkel, die verletzungsfördernd sind – beispielsweise beim Sprung in der Halfpipe oder beim Golfschwung. Über das Feedback durch Trainer können Athleten ihre Bewegungsmuster verbessern«, erklärt er.

In Stanford arbeitete Prof. Eskofier an kamerabasierten Systemen, die Anhaltspunkte für präventive Trainingsmaßnahmen liefern sollen, etwa bei Meniskus- und Kreuzbandverletzungen. Die in Stanford entwickelte Open-Source-Software OpenCap (www.opencap.ai) erstellt anhand von einfachen Videoaufnahmen, z. B. via Smartphone, Bewegungsanalysen und berechnet die wirkenden Kräfte. Bisher waren diese Methoden nur in wenigen hoch spezialisierten Einrichtungen und nur für wenige Athleten verfügbar. Mit OpenCap kann jeder sehr einfach Bewegungen aufzeichnen und cloudbasiert auswerten lassen.

Sowohl sensor- als auch kamerabasierte Technologien sind darauf ausgelegt, dass sie in Kombination mit dem Fachwissen von Trainern, Therapeuten und Athleten ausgewertet und zu einem stimmigen (Präventions-)Konzept zusammengefügt werden. »Die Stärke der KI liegt zum einen in der schnellen und hypothesenfreien Analyse großer Datenmengen, zum anderen in der Möglichkeit, die Ergebnisse automatisiert aufzubereiten«, sagt Prof. Eskofier. Dadurch lassen sich Routinediagnosen oder Screeningprozesse im Training effektiver gestalten. Gerade in großen Leistungszentren oder bei der Betreuung vieler Athleten kann sich so die Effizienz erhöhen.

Prof. Dr. Björn Eskofier, Lehrstuhl für Maschinelles Lernen und Datenanalytik, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen
Prof. Dr. Björn Eskofier, Lehrstuhl für Maschinelles Lernen und Datenanalytik, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen © Eskofier

Wenn die Vorhersagen nicht stimmen

Tatsächlich ist die Zusammenarbeit zwischen KI und Mensch im Umfeld des Hochleistungssports nicht nur den zu geringen Datenmengen geschuldet. Denn obwohl es bereits eine Reihe kommerziell verfügbarer sogenannter Injury Mitigation Systems auf dem Markt gibt und diese auch eingesetzt werden, ist keines davon wissenschaftlich nachvollziehbar validiert. Die von den Herstellern unter Verschluss gehaltenen Algorithmen können bisher keine zuverlässige und praxisrelevante Vorhersage von neuen Verletzungen machen, obwohl sie das behaupten.

Das ist nicht nur bei Verletzungsprognosen im Sport so. Auch andere KI-basierte Modelle, die im Gesundheitswesen eingesetzt werden, beispielsweise zur Wahrscheinlichkeit einer Sepsis in Krankenhäusern oder zur Erkennung von intrakraniellen Blutungen, sind bisher den Beweis ihrer Effektivität gegenüber anderen Einschätzungssystemen schuldig geblieben (3, 4) »Wir versuchen, mit transparenten Algorithmen tatsächlich konkrete Vorhersagen für Nichtkontaktverletzungen für einzelne Athleten zu treffen: Wie groß ist das Verletzungsrisiko von Spieler A im Verhältnis zu Spieler B?«, stellt Prof. Hecksteden klar. »Das gelingt mit sparsamen Algorithmen häufig besser als mit komplexen«.

Trotz technologischer Fortschritte wird der Sport am Ende immer ein menschliches Zusammenspiel bleiben: Wenn eine künstliche Intelligenz vermeintlich berechnet, wie hoch das Verletzungsrisiko für Spielerin X oder Spieler Y gerade ist, kann ein kurzer Blickkontakt des Trainers oder ein gutes Körpergefühl des Athleten genau die gegenteilige Entscheidung herbeiführen. Gerade diese Mischung aus analytischer Präzision und menschlicher Intuition macht den Hochleistungssport so faszinierend. Künstliche Intelligenz kann also dazu beitragen, Risikofaktoren frühzeitig zu erkennen, Trainingsstrategien zu personalisieren und Verletzungen zu reduzieren – ersetzen lassen sich das Fingerspitzengefühl und die Erfahrung von Sportmedizinern, Trainern und Athleten selbst aber nicht. Vielleicht ist das aber auch exakt das die große Stärke der »hybriden Intelligenz«: Mit jeder Saison, jedem Sprung und jeder Spielminute entsteht neues Wissen, das sich nie ganz in Zahlen fassen lässt – und genau das hält den Sport lebendig.

■ Hutterer C

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Quellen:

  1. Hecksteden A, Keller N, Zhang G, Meyer T, Hauser T. Why Humble Farmers May in Fact Grow Bigger Potatoes: A Call for Street-Smart Decision-Making in Sport. Sports Med Open. 2023; 9: 94. doi:10.1186/s40798-023-00641-0

  2. Rudin C. Stop Explaining Black Box Machine Learning Models for High Stakes Decisions and Use Interpretable Models Instead. Nat Mach Intell. 2019; 1: 206-215. doi:10.1038/s42256-019-0048-x

  3. Voter AF, Meram E, Garrett JW, Yu JJ. Diagnostic Accuracy and Failure Mode Analysis of a Deep Learning Algorithm for the Detection of Intracranial Hemorrhage. J Am Coll Radiol. 2021; 18: 1143-1152. doi:10.1016/j.jacr.2021.03.005

  4. Wong A, Otles E, Donnelly JP, Krumm A, McCullough J, et al. External Validation of a Widely Implemented Proprietary Sepsis Prediction Model in Hospitalized Patients. JAMA Intern Med. 2021; 181: 1065-1070. doi:10.1001/jamainternmed.2021.2626