Schmerzempfindung: Neue Methode zur Unterscheidung physischer und psychosozialer Faktoren

Schmerzempfindung: Neue Methode zur Unterscheidung physischer und psychosozialer Faktoren
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Chronische Schmerzen können die Lebensqualität stark verschlechtern und ihr Ausmaß zu quantifizieren, ist höchst komplex. Zu viele individuelle Faktoren beeinflussen die Schmerzempfindung, als dass Selbsteinschätzungen belastbare Ergebnisse liefern könnten. Und nicht nur das: Neben der rein körperlichen Dimension von Schmerz spielen auch psychosoziale Faktoren in das Gesamtbild mit hinein. Die objektive Zusammenschau dieser Elemente und physiologischen, messbaren Reaktionen wäre entscheidend für die Entwicklung wirksamer Behandlungsstrategien abseits nebenwirkungsträchtiger Langzeit-Analgesien. Weil traditionelle Schmerzbeurteilungen diese Lebensrealität nicht ausreichend abbilden können, hat ein schweizerisch-österreichisches Forscherteam eine auf maschinellem Lernen (ML) basierende Methode entwickelt, mit der sich physische und psychosoziale Schmerzanteile sauberer voneinander trennen lassen (1). So könnte man künftig im Rahmen eines multimodalen biopsychosozialen Therapiekonzepts bessere Vorhersagen für das individuelle Ansprechen auf einzelne Maßnahmen treffen und wenig erfolgversprechende Behandlungen zügig durch Alternativen ersetzen.

Der Einfluss psychosozialer Faktoren auf die Schmerzempfindung

Psychosoziale Faktoren modulieren nachweislich die Schmerzempfindung. Dazu gehören beispielsweise die Verfügbarkeit sozialer Unterstützung, depressive Verstimmungen oder manifeste Depression, andere psychische Vorerkrankungen, Erschöpfungszustände, beruflicher und privater Stress, Vorerfahrungen mit Schmerz, Katastrophisierungsneigung oder aber auch falsch verstandene Tapferkeit. Diese Komponenten können Schmerzberichte stark verzerren, was zu einer Diskrepanz zwischen nozizeptiven Signalen und subjektiver Schmerzerfahrung führt.

Die vorliegende Arbeit identifizierte zunächst wichtige physiologische Biomarker für die Schmerzklassifizierung. Diese tragen zwar mit relativ hoher Genauigkeit gegenüber nichtschmerzhaften Grundzuständen zur objektiven Quantifizierung von Schmerzreaktionen bei, ergeben aber dennoch ein zu vereinfachtes eindimensionales Bild.

Um auch den Einfluss relevanter biopsychosozialer Faktoren in die Outcome-Vorhersage ausreichend zu würdigen, haben sich die Forscher deshalb sogenannte Machine Learning Enhanced Models (MEM) zunutze gemacht. MEMs erkennen Muster, Regeln und Kausalbeziehungen innerhalb großer Datensätze und haben gegenüber Biomarkern und herkömmlichen Selbstbeurteilungsskalen einen entscheidenden Vorteil: Sie berücksichtigen Diskrepanzen zwischen physiologischen Schmerzreaktionen und subjektivem Empfinden und liefern ein weitaus differenzierteres Verständnis der Schmerzerfahrung (Mittelwertfehler RMSE ­~2,7 vs. ~1,3 mit p=0,01; lineare Regression R² ~0,2 vs. ~0,8).

Neue Messgrößen für objektive Outcome-Vorhersagen

Untersucht wurden die Daten von 81 Patienten (aus 40 Studien) mit chronischen muskuloskelettalen, komplexen regionalen und neuropathischen Schmerzen; als Kontrollgruppe diente eine Kohorte von 37 gesunden Probanden. Alle Teilnehmer unterzog man jeweils 40 experimentell induzierten Hitze-Schmerzreizen, deren physiologische Effekte aufgezeichnet wurden und in das ML-Modell einflossen. Mittels Post-hoc-Analyse klassifizierte man dann die gewonnenen Biomarker nach ihrer Aussagekraft (am relevantesten: EDA = elektrodermale Aktivität an Hand und Fuß; p<0,001 und EEG = elektroenzephalographische Signale; p<0,001). Zusätzlich zu diesem klassischen Regressionsansatz füllten die Probanden psychologische Questionnaires aus, mit deren Daten das neu entwickelte Modell ebenfalls trainiert wurde. Es rechnete also auch hochindividuelle biopsychosoziale Variablen mit ein.

Aus den MEM-Modellen gingen zwei neue Messgrößen für das Schmerzniveau hervor, die das biopsychosoziale Verzerrungsrisiko realistisch integrieren:

  • Φ (physiologischer Index bzw. Niveau des physiologischen Schmerzes ausschließlich anhand EDA und EEG)
  • TIP (subjektiver Schmerzindex bzw. Diskrepanz zwischen selbstberichtetem Schmerzniveau und physiologischer nozizeptiver Reaktion).

Implikationen für die Praxis

Die neuen Metriken erfassen erstmals sowohl die physiologischen als auch die psychosozialen Dimensionen von Schmerz. Es stellte sich z. B. heraus, dass Patienten mit hohen TIP-Werten Schmerzen als signifikant stärker und beeinträchtigender erleben als solche mit niedrigem TIP-Index. Sie würden vermutlich sehr von psychotherapeutischer Begleitung ihrer Schmerzbehandlung profitieren, während Patienten mit hohen Φ-Werten möglicherweise besser auf pharmakologische Behandlungen ansprechen. Bei den gesunden Kontrollpersonen stellten die Forscher auch bei höheren TIP-Scores keine signifikanten Unterschiede in der Schmerzwahrnehmung fest.

Kura L

Quellen:

  1. Gozzi N, Preatoni G, Ciotti F, Hubli M, Schweinhardt P, Curt A, Raspopovic S. Unraveling the physiological and psychosocial signatures of pain by machine learning. Med. 2024: S2666-6340(24)00298-8. doi:10.1016/j.medj.2024.07.016