Körperliche Aktivität und Alterungsprozesse im Kontext des demographischen Wandels
Editorial der #7/2021 der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin (DZSM) von Dr. Patrick Müller, Prof. Stefanie Schreiber, Dr. Dörte Ahrens, und Prof. Rüdiger Braun-Dullaeus. Die Autoren beschäftigen sich mit der Zunahme chronischer Krankheiten im Kontext des demographischen Wandels und zeigen, dass insbesondere körperliche Aktivität und Sport mit Hinblick auf diese Veränderungen immer wichtiger werden.
Ein zentrales Thema für die Gesellschaft im Allgemeinen und die Gesundheitspolitik im Speziellen ist die Zunahme chronischer Krankheiten im Kontext des demographischen Wandels. Diesbezüglich gewinnen nicht-pharmakologische Präventions- und Therapiekonzepte, insbesondere körperliche Aktivität und Sport, zunehmend an Bedeutung. Der demographische Wandel in westlichen Ländern ist charakterisiert durch geringe Geburtenzahlen bei kontinuierlich ansteigender Lebenserwartung. Folglich wird der Anteil der älteren Bevölkerung in Deutschland in den kommenden Jahren stark ansteigen. Prognosen des statistischen Bundesamtes zufolge wird sich die Altersgruppe der über 80-Jährigen von 5% im Jahr 2015 auf 13% im Jahr 2060 fast verdreifachen. Da das Alter für zahlreiche nicht-infektiöse Erkrankungen einen Hauptrisikofaktor darstellt, kommt es zu einem Anstieg des individuellen Krankheitsrisikos. Im Zusammenspiel biologischer Alterungsprozesse und des demographischen Wandels ist so mit einer drastischen Zunahme altersassoziierter Erkrankungen des Herz- und Kreislaufsystems (z. B. Herzinsuffizienz, Hypertonie, Koronare Herzkrankheit), des metabolischen Systems (z. B. Diabetes mellitus Typ 2, Adipositas), des zentralen Nervensystems (z. B. Demenzen, Parkinson) und des Bewegungsapparates (z. B. Osteoporose, Sarkopenie) zu rechnen.
Körperliche Aktivität in der Prävention und Therapie chronischer Krankheiten
Risikofaktoren für die Entstehung zahlreicher chronischer Krankheiten sind neben dem Alter auch beeinflussbare Lebensstilfaktoren, wie z. B. körperliche Inaktivität, „westliche Ernährung” und Nikotinkonsum. Hauptfokus dieses Beitrags ist die Rolle der körperlichen (In-)Aktivität. Die Mehrzahl der europäischen und internationalen Leitlinien empfiehlt mindestens 150 Minuten moderate bzw. 75 Minuten hochintensive Aktivität und ergänzendes Krafttraining pro Woche. Jedoch ist zu konstatieren, dass über 40% der erwachsenen Bevölkerung in westlichen Ländern nicht diese Mindestanforderungen erreichen (3). Noch dramatischer ist die körperliche Inaktivität bei Jugendlichen. Aktuelle Daten zeigen, dass lediglich 20% der 11- bis 17-Jährigen die für Jugendliche empfohlenen 60-Minuten körperliche Aktivität pro Tag erreichen (4).
Dabei ist körperliche Aktivität als eine kostengünstige Intervention sowohl in der Prävention als auch der Therapie zahlreicher kardiovaskulärer, neoplastischer, metabolischer und neurodegenerativer Erkrankungen einzustufen (7, 8, 10). Bereits 1953 berichteten Morris und Heady in einer Landmark-Studie von der Beziehung zwischen körperlicher Aktivität und Mortalität basierend auf epidemiologischen Daten (6). In zahlreichen folgenden prospektiven Studien konnte der positive Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und Mortalität belegt werden (10). Ebenfalls 1953 konstatieren Morris und Kollegen im Lancet ein erhöhtes Risiko für das Auftreten einer koronaren Herzerkrankung bei körperlich inaktiven Busfahrern. In den darauffolgenden Jahrzehnten konnten die positiven Effekte körperlicher Aktivität in zahlreichen Studien belegt werden. Die aktuelle Datenlage zeigt sehr eindrücklich, dass körperliche Aktivität und Sport die Lebensspanne verlängern und zahlreiche chronische Krankheiten präventiv verhindern bzw. deren Auftreten verzögern und den Verlauf positiv beeinflussen können. In einem Übersichtsartikel listen Ruegsegger und Booth die positiven Effekte körperlicher Aktivität auf über 40 Krankheiten (u. a. Koronare Herzkrankheit, Sarkopenie, Diabetes mellitus Typ 2, Mammakarzinom, Kolonkarzinom, kognitive Dysfunktionen, Schlaganfall) auf (8).
Die klinisch relevante Bedeutung von Lebensstilfaktoren in der Prävention zeigt unter anderem das Beispiel der Demenzen. Statistischen Analysen zufolge sind ein Drittel der globalen Alzheimer-Erkrankungen auf modifizierbare Risikofaktoren zurückzuführen. Den höchsten prognostizierten Einfluss hat dabei in Deutschland die körperliche Inaktivität. Einem Rechenszenario zufolge könnte eine 10- bis 50-%ige Reduktion der modifizierbaren Risikofaktoren die Anzahl der Alzheimer-Demenz-Erkrankungen in Deutschland um 23.000 bis 130.000 Fälle mindern (5).
Aber nicht nur in der Prävention, auch in der Therapie zahlreicher chronischer Krankheiten können körperliche Aktivität und Sport einen wichtigen klinischen Beitrag leisten. Lange Zeit wurde chronisch kranken Patienten (insbesondere Patienten mit Herz- und Kreislauferkrankungen) körperliche Schonung und die Meidung von Sport empfohlen. Seit Jahren gibt es jedoch einen Paradigmenwechsel in der Medizin und Sekundärprävention. Dazu beigetragen haben zahlreiche randomisiert kontrollierte Interventionsstudien, welche die positiven Auswirkungen von körperlicher Aktivität und aeroben Ausdauertrainings in der Sekundärprävention zahlreicher chronischer Erkrankungen demonstriert haben (8, 10).
Welche Sportart mit welchen Belastungsparametern (Trainingsintensität, Trainingsdauer, Trainingshäufigkeit) in der Prävention und Therapie am effizientesten ist, ist eine noch offene Forschungsfrage. Hauptfokus bisheriger Interventionsstudien war der Einfluss eines moderaten Ausdauertrainings (insbesondere Laufen und Fahrradfahren). In aktuellen Studien wird aber zunehmend auch der Einfluss hochintensiver Trainingsmethoden (u. a. auch bei Patienten mit Herzinsuffizienz) untersucht. Deren Sicherheit wurde in mehreren randomisiert kontrollierten Interventionsstudien bestätigt.
Ein weiterer aktueller Forschungsschwerpunkt sind die zu Grunde liegenden molekularen Mechanismen körperlicher Aktivität, welche bis heute nur rudimentär verstanden sind. Basierend auf den pleiotropen Effekten körperlicher Aktivität kann jene als „polypill“ eingestuft werden. So beeinflusst körperliche Aktivität exemplarisch positiv die Endothelfunktion, die Insulinsensitivität, den arteriellen Blutdruck, das Immunsystem und die Neuroplastizität (9).