In Balance bleiben: Sturzprophylaxe bei Senioren

In Balance bleiben: Sturzprophylaxe bei Senioren
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Jeder Mensch stürzt dann und wann im Verlauf seines Lebens. Doch es passiert in höherem Alter häufiger und die Folgen sind meist beträchtlich schwerer. Ein Sturz wird definiert als »ein Ereignis, bei dem der Betroffene unbeabsichtigt auf dem Boden oder auf einer anderen tieferen Ebene aufkommt«. Die Zahlen belegen, dass es sich um ein bedeutendes Gesundheitsrisiko im Alter handelt. Mindestens ein Drittel aller 65-Jährigen und über 50 Prozent der über 80-Jährigen stürzt jährlich mindestens einmal, viele häufiger. Im Vergleich zu Gleichaltrigen haben Mehrfachstürzende ein um 60 Prozent erhöhtes Mortalitätsrisiko (5). Verbunden mit Stürzen ist nicht nur eine hohe Gefahr für Verletzungen (in bis zu 40 Prozent der Stürze kommt es zu Schürfwunden, Hämatomen, Verstauch­ungen, Schädel-Hirn-Traumen oder Knochenbrüchen); auch die Angst vor weiteren Stürzen kann sich manifestieren und die Lebensqualität massiv beeinträchtigen. Sturzprophylaxe bei Senioren ist aber nicht nur hinsichtlich der medizinischen Folgen ein schwerwiegendes Problem, sondern auch vor dem Hintergrund der sich verändernden Altersstruktur in der Bevölkerung.

Die Anzahl der Europäer, die 65 Jahre und älter sind, wird sich in den nächsten 50 Jahren von 85 Millionen in 2008 auf 151 Millionen in 2060 fast verdoppeln. Der Anteil der 75- bis 85-Jährigen und der Hochbetagten (älter als 85 Jahre) ist die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe. In Anbetracht des demografischen Wandels wird die Sturzinzidenz stark zunehmen. Bereits jetzt gehen 0,85 bis 1,5 Prozent aller Gesundheitsausgaben auf dieses Problem zurück (3); 2009 wurden die Kosten auf mehr als zwei Milliarden Euro geschätzt.

Doch muss man einfach so hinnehmen, dass alte Menschen stürzen? Ist das wirklich »normal« und unabänderlich? Das Thema Sturzprävention bei alten Menschen bekommt erst seit wenigen Jahren verstärkte Aufmerksamkeit. Dass das bisher nicht so war, mag unter anderem daran liegen, dass die Forschung im Bereich alte Menschen bisher deutlich unterrepräsentiert war, aber nun durch die Politik stärker gefördert wird. Es mag aber auch daran liegen, dass man sich vorschnell dem Gedanken hingibt, der Aufwand würde sich doch »in dem Alter nicht mehr lohnen« und ein Effekt wäre zu niedrig, um etwas bewirken zu können.

Die Risikofaktoren

Es gibt ca. 350 bekannte Gründe, warum ältere Menschen stürzen. Die Top Ten, die in einer Vielzahl von Studien (1) belegt werden konnten, sind folgende:

1. Abnehmende Muskelkraft in den Beinen (erhöht das Sturzrisiko um das Vierfache)

2. Sturzhistorie (bei einem Sturz in den letzten 12 Monaten ist das Risiko, im nächsten Jahr zu stürzen, um das Dreifache erhöht)

3. Gangunsicherheiten (dreifach erhöhtes Sturzrisiko)

4. Abnehmende Gleichgewichts­fähigkeit

5. Verwendung von Gehhilfen

6. Eingeschränkte Sehfähigkeit

7. Arthrose

8. Eingeschränkte Alltagsbeweglichkeit

9. Depression

10. Kognitive Einschränkungen

Die gute Nachricht: Mit Ausnahme einiger weniger dieser Faktoren können sie durch Training oder andere Anpassungen (z. B. Sehhilfen) beeinflusst und verbessert werden! Darum – auch das zeigen zahlreiche Studien – sind gezielte Programme zur Sturzprophylaxe auch in hohem Alter wirksam.

Gefährdete Personen früh erkennen

Entscheidend ist, dass gefährdete Personen frühzeitig erkannt und entsprechende Kurse oder Anleitungen vermittelt werden. Hier sind die behandelnden Ärzte eindeutig in der Pflicht, denn alte Menschen sind sich häufig ihres erhöhten Sturzrisikos nicht bewusst. Sie erkennen mögliche Risikofaktoren bei sich selbst nicht und berichten deswegen dem Arzt auch nicht darüber. Es gibt die Empfehlung, dass jeder über 65 Jahre einmal pro Jahr gefragt werden soll, ob er/sie gestürzt oder gefallen ist. Dr. Ellen Freiberger, Privatdozentin am Institut für Biomedizin des Alterns an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, weiß aus eigener Forschung, dass weniger als einem Prozent der Senioren jemals diese Frage gestellt wurde: »Sowohl in der Bevölkerung als auch in der Ärzteschaft ist die Meinung noch weit verbreitet, dass Stürze im Alter normal wären. Doch dass Stürze nicht nur Knochen brechen, sondern auch das Selbstvertrauen älterer Menschen, ist den wenigsten bewusst. Mit einem selbst oder in der Peergroup erlebten Sturz kann bei alten Menschen eine Abwärtsspirale beginnen, die im Pflegeheim endet.« Denn ein Sturz führt zur Angst vor weiteren Stürzen. Der Betroffene bewegt sich weniger, dadurch nehmen Muskelmasse und -kraft ab, die Unsicherheit wird größer, das Gleichgewicht schlechter und er stürzt noch schneller. Irgendwann traut sich der Betroffene dann nicht mehr aus dem Haus, nimmt nicht mehr am öffentlichen Leben teil und muss fremdversorgt werden.

Fallen und Stürzen – ein wichtiger Unterschied

Im Deutschen gibt es eine sprachliche Besonderheit, die Ärzte bedenken müssen: Ein »Sturz« ist im Deutschen (besonders bei älteren Menschen) mit einer größeren Schwere des Ereignisses und mit einer Verletzung assoziiert. Ansonsten spricht man von »Hinfallen«. Über einfaches Hinfallen werden Senioren aber eben nicht berichten, wenn man sie nach Stürzen fragt! »Im Deutschen müssen daher unbedingt beide Begrifflichkeiten verwendet werden. Hier liegt auch eine Problematik der Sturz­prophylaxe: Viele Ärzte wissen nicht genau, wie ältere Menschen gefragt werden müssen, bzw. verzichten darauf, konkret nach einem Sturz oder Hinfallen zu fragen, wenn ein Patient mit einem Hämatom in die Sprechstunde kommt«, erklärt Dr. Freiberger.

Sturzprophylaxe – Kombination aus Gleichgewichtstraining und Muskelkräftigung

In Studien wurde untersucht, welche Vor­aussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Training zur Sturzprävention wirksam ist. Das international am besten untersuchte Modell mit der meisten Evidenz ist das Otago Exercise Programme (2). Es wurde in Neuseeland als Programm zum Training zu Hause entwickelt und als Ulmer Modell zur Sturzprävention für das Training in der Gruppe angepasst. In Deutschland wird dieses Programm von den Krankenkassen gefördert. Auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hat zwei Broschüren zur Sturzprophylaxe im Programm, deren Inhalte auf den Erkenntnissen des Otago-Programms beruhen.

Im Kontext der Sturzprophylaxe ist besonders die Verbesserung des Gleichgewichts von großer Bedeutung (4). Die Übungen müssen individuell fordernd und progressiv sein, also mit abnehmenden Festhalte- und Unterstützungsmöglichkeiten. Außerdem muss das Gleichgewichtstraining im Stehen erfolgen. Es sollten darüber hinaus Elemente zur Gangschulung und zur Kräftigung der Bein- und Haltemuskulatur enthalten sein. Diese Ziele können entweder über ein gezieltes Gleichgewichts- und Funktionstraining erfolgen oder auch über ausgewählte Trainingsinhalte wie etwa Tai-Chi-Chuan. Erstrebenswert ist ein Dauerangebot, denn die erworbene gesteigerte Funktionsfähigkeit lässt nach, wenn das Training ausgesetzt wird. Besonders hohe Effekte brachten Programme, bei denen zwei Stunden pro Woche über einen Zeitraum von sechs Monaten trainiert wurde. Ausdauerbelastungen und Dehnungsübungen haben für die Gesundheit älterer Menschen zwar ebenfalls sehr wünschenswerte Effekte, doch tragen sie nicht dazu bei, das Sturzrisiko zu verringern.

Neue und andere Trainingsinhalte

Neben dem Otago-Programm gibt es mittlerweile eine Reihe von Modellen und Untersuchungen zur Sturzprophylaxe. Die internationale vivifrail-Studie hat zum Ziel, bestehende Programme zur Sturzprophylaxe weiter zu verbessern und noch mehr darüber zu lernen, mit welchen Trainingsinhalten die besten Effekte erzielt werden können. So wird darin auch Widerstandstraining mit guten Ergebnissen eingesetzt. Ein wichtiger Aspekt des Projekts liegt darin, das Wissen in regionalen Schulungskursen zu vermitteln, so dass eine größere Reichweite erzielt wird und die Kurse die Zielgruppen besser erreichen. Bislang werden evidenzbasierte Kurse für alte Menschen in Deutschland noch nicht flächendeckend angeboten – unter anderem deswegen, weil es zu wenig Sportwissenschaftler, Trainer und Übungsleiter gibt, die sich für die Arbeit mit alten Menschen interessieren und spezielle Weiterbildungen besuchen. Zugleich wird die Komplexität der Sturzproblematik unterschätzt.

Denn nicht nur harte Faktoren wie die bereits benannten spielen eine Rolle, auch das individuelle Verhalten hat einen Einfluss. Menschen, die im Alter (oder schon immer) sportlich inaktiv waren, befeuern den Teufelskreis des Sturzrisikos und fallen, weil die nötigen Fähigkeiten grundsätzlich fehlen. Andererseits überschätzen sich sehr aktive betagte Menschen leicht und gehen daher ein zu hohes Risiko ein oder verdrängen, dass bestimmte Dinge nicht mehr so funktionieren wie früher.

Die Studien zeigen, dass ein Training zur Sturzprophylaxe dauerhaft das Risiko für Stürze und alle damit verbundenen Folgen verringern kann. Nun braucht es noch verstärkt Motivatoren aus der Ärzteschaft, die diese frohe Botschaft an die Zielgruppe herantragen sowie gut ausgebildete Trainer, Übungsleiter und Betreuer … und natürlich Senioren, die fleißig trainieren.

Weitere Informationen

Bundesinitiative Sturzprävention: https://www.dtb.de/sturzprophylaxe/

■ Hutterer C

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Quellen:

  1. American Geriatrics Society, British Geriatrics Society, and American Academy of Orthopaedic Surgeons Panel on Falls Prevention. Guideline for the Prevention of falls in older persons. J Am Geriatr Soc. 2001; 49: 664-672.

  2. Campbell AJ, Robertson MC, Gardner MM, Norton RN, Tilyard MW, Buchner DM. Randomised controlled trial of a general practice programme of home based exercise to prevent falls in elderly women. BMJ. 1997; 25; 315: 1065-1069.

  3. Heinrich S, Rapp K, Rissmann U, Becker C, König HH. Cost of falls in old age: A systematic review. Osteoporos Int. 2010; 21: 891–902. doi:10.1007/s00198-009-1100-1

  4. Sherrington C, Whitney JC, Lord SR, Herbert RD, Cumming RG, Close JC. Effective exercise for the prevention of falls: a systematic review and meta-analysis. J Am Geriatr Soc. 2008; 56: 2234-2243. doi:10.1111/j.1532-5415.2008.02014.x

  5. Sylliaas H, Idland G, Sandvik L, Forsen L, Bergland A. Does mortality of the aged increase with the number of falls? Results from a nine-year follow-up study. Eur JEpidemiol. 2009; 24: 351–355. doi:10.1007/s10654-009-9348-5