Bewegung & Neuroplastizität: Das Gehirn – kein Muskel und doch unglaublich trainierbar

Bewegung & Neuroplastizität: Das Gehirn –  kein Muskel und doch unglaublich trainierbar
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Von dicken Mauern umgeben, residiert das Gehirn im Kopf und regiert von oben herab. Der Supercomputer, der viel leistungsstärker und ausgefeilter ist als jede vom Menschen erdachte Maschine, ermöglicht ihm überhaupt erst das Leben und Wirken in einer komplexen Umwelt. Die Zutrittsbeschränkungen in Form der Blut-Hirn-Schranke sind hart, viele Prozesse noch immer weitgehend unverstanden. Nachdem lange Zeit geglaubt wurde, das Gehirn wäre ein weitgehend starres und unflexibles Gebilde, hat die Forschung der letzten 100 Jahre, besonders aber die Arbeiten der letzten drei Jahrzehnte, gezeigt, dass das Gehirn sehr flexibel und plastisch ist. Fällt beispielsweise eine Sinneswahrnehmung aus, strukturiert es sich um. In den letzten Jahren versuchen Forscher auch zu ergründen, welchen Einfluss Bewegung auf das Gehirn und die Kognition hat.

Prof. Dr. Gerd Kempermann vom Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Dresden formuliert eine zentrale These: »Gehirne sind entstanden, um Bewegung zu ermöglichen. Egal, was wir denken oder tun, Bewegung ist das Ergebnis. Auch Sprache entsteht letztlich nur durch Bewegung.« Vor diesem Hintergrund ist die Kognition – evolutionsbiologisch betrachtet – eng an Bewegung gekoppelt. Eine Anpassungsfähigkeit des Gehirns ist entsprechend dieser Sichtweise eine Grundlage, um das Ausmaß der Erfahrungen und der Motilität verarbeiten und einen Nutzen daraus ziehen zu können.

»Die Bewegung in der freien Wildbahn und größer werdende Radien an Bewegung signalisierten den Gehirnen unserer Vorfahren, dass eventuell neue und unbekannte Situationen auftreten könnten, die (Re)Aktionen erforderten, welche im üblichen Verhaltensrepertoire nicht fest verankert waren«, erklärt Prof. Kempermann. Heutzutage sind Kognition und Bewegung häufig weitgehend entkoppelt: Einerseits sitzt man den ganzen Tag quasi bewegungslos am Schreibtisch und verrichtet geistige Arbeit, andererseits bewegt man sich mitunter quasi reizlos auf einem Laufband. »Wir dissoziieren, was in der Evolution eigentlich miteinander verbunden war«, erklärt Kempermann.

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Prof. Dr. Gerd Kempermann, Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen, Dresden © Kempermann
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Bewegung wirkt primär auf das Gehirn

Doch was passiert denn nun bei Bewegung im oder mit dem Gehirn? Dazu ist es notwendig, den Begriff »Bewegung« etwas klarer zu umreißen. In der Forschung wird unterschieden zwischen der Wirkung chronischer und akuter Bewegung. Bei akuter Bewegung geht es darum, ob die parallel bzw. sehr zeitnah ausgeführte Bewegung einen direkten Einfluss auf einen Prozess hat, z. B. das Lernen von Vokabeln. Bei chronischer Anwendung soll herausgefunden werden, ob Bewegung, die ganz unabhängig von solch akutem Nutzen ist, langfristig positive Auswirkungen auf das Gehirn hat. Um letztere geht es in diesem Artikel.

Die ursprünglichen Arbeiten zu Bewegung und Kognition beim Menschen betrachteten so genannte Exekutivfunktionen, also Funktionen, die die Kontrolle von Handlungen steuern (z. B. Verhaltenskontrolle oder Arbeitsgedächtnis). Diese Funktionen sind an den Frontalkortex gekoppelt. Prof. Dr. Arthur Kramer vom Beckman Institute an der Universität von Illinois (USA) fand heraus, dass bei körperlich fitten älteren Menschen die exekutiven Funktionen weniger stark von Alterungsprozessen betroffen waren als bei weniger fitten Senioren. Die graue Substanz wird weniger stark abgebaut, wenn regelmäßig Gesundheits-/Breitensport betrieben wird (1).

Bewegung wirkt aber auch auf den Hippocampus. Dieser ist wahrscheinlich die plastischste und am stärksten veränderbare Struktur im Gehirn. Er wird auch als »Tor zum Gedächtnis« bezeichnet, weil ein Großteil der Informationen, die dort langfristig gespeichert werden sollen, zuerst den Hippocampus durchlaufen. Er ist die einzige Struktur im menschlichen Gehirn, in der in nennenswertem Umfang lebenslang neue Neuronen gebildet werden. Normalerweise ist die Bildung der Nervenzellen nach der ersten Hälfte der Schwangerschaft abgeschlossen. Doch im Hippocampus findet lebenslang die so genannte adulte Neurogenese statt.

Wie Prof. Kempermann und andere Forscher herausfinden konnten, erhöht Bewegung die Bildung neuer Neuronen im Hippocampus. Die Bildung neuer Nervenzellen aktivitätsabhängig zu steuern, könnte notwendig sein, um neue Informationen flexibel verarbeiten zu können, beispielsweise wenn bekannte Informationen in einen neuen Kontext eingebaut werden müssen. Denn genau diese Flexibilität und Möglichkeit der Adaptation ist für das Überleben vorteilhaft. Das zeigt, dass das Gehirn nicht einfach eine große »Festplatte« ist, sondern ein Netzwerk, dessen Bahnen und Verknüpfungen entsprechend aktueller Anforderungen veränderbar sind, um die Zukunft in einem gewissen Rahmen vorherzusagen und sich darauf einzustellen.

Qualität und Quantität: Was bevorzugt das Gehirn?

Dass Bewegung das Hirn auf Trab bringt, ist also bereits bewiesen. Doch wie viel und welche Bewegung sind besonders förderlich? Wenn die Hypothese richtig ist, dass aus evolutionsbiologischer Sicht Bewegung und Kognition zusammengehören, sollte vielfältige, abwechslungsreiche Bewegung das Mittel der Wahl sein. Tatsächlich sprechen Untersuchungen dafür, dass das Gehirn davon profitiert, wenn es einer Vielzahl von Stimuli ausgesetzt wird. Dennoch gibt es noch keinen Konsens darüber, ob bestimmte Sportarten für das Gehirn besonders zu empfehlen sind.

Auf internationaler Ebene befasst sich das Global Council on Brain Health (GCBH) mit dem Komplex aus körperlicher Aktivität und Hirngesundheit, um die Denkfähigkeit auch im Alter möglichst aufrechtzuerhalten. Dazu haben die Wissenschaftler im Juli 2016 einen Konsens veröffentlicht (2).

1. Körperliche Aktivität hat einen positiven Einfluss auf die Hirngesundheit.
a. Ein körperlich aktiver Lebensstil
(z. B. Gehen, Treppensteigen, Gartenarbeit) fördert die Hirngesundheit.
b. Sportliche Aktivität (z. B. Walking, Radfahren, Krafttraining usw.) fördert die Hirngesundheit.
2. Menschen können körperliche Aktivität in jedem Alter aufnehmen.
3. Randomisierte kontrollierte Studien zeigen, dass Sport günstige Veränderungen der Gehirnstruktur und der Hirnfunktion zur Folge hat.
4. Epidemiologische Studien zeigen, dass körperlich aktive Menschen ein geringeres Risiko für kognitiven Abbau haben.
5. Obwohl es eine Verbindung zwischen körperlicher Aktivität und Hirngesundheit gibt, kann nicht mit wissenschaftlicher Evidenz gesagt werden, dass körperliche Aktivität das Risiko für Erkrankungen des Gehirns verringert, welche Demenz auslösen.

Prof. Dr. Brigitte Röder, Leiterin der Arbeitsgruppe Biologische Psychologie und Neuropsychologie der Universität Hamburg, formuliert es so: »Das Gehirn ist ein Teil des Körpers und profitiert von Sport genauso wie der Rest des Körpers. Epidemiologische Studien zeigen, dass im Leben frühzeitiger Sport und kontinuierliche körperliche Aktivität günstig sind. Das Risiko für kognitive Einbußen ist bei regelmäßigem Sport geringer als bei Menschen, die erst spät damit begonnen haben. Allerdings nimmt der positive Effekt ab, wenn mit dem Sport aufgehört wird.«

Meta-Analysen haben ergeben, dass nur drei Sporteinheiten von weniger als einer Stunde pro Woche notwendig sind, um positive Effekte auf das Gehirn zu erzielen (3). Damit deckt sich diese Erkenntnis mit den Empfehlungen zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Prof. Röder und ihr Team haben in einem Vergleich von Probanden, die ein Ausdauertraining absolvierten, zu denen, die ein Stretching-Programm durchführten, festgestellt, dass ein Anstieg in der maximalen Sauerstoffsättigung VO2max mit Veränderungen in der Gedächtnisleistung korreliert.

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Prof. Dr. Brigitte Röder, Leiterin der Arbeitsgruppe Biologische Psychologie und Neuropsychologie, Universität Hamburg © Röder
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Verlust von Fähigkeiten kompensieren

Viele der Forschungsergebnisse stammen aus Untersuchungen darüber, wie der Verlust von Fähigkeiten oder eines Sinnes kompensiert werden können. Man stellt dann fest, dass massive Reorganisationen im Gehirn geschehen. Diese Veränderungen sind lebenslang möglich. Untersuchungen mit Schlaganfall-Patienten, die körperliche Beeinträchtigungen hatten, zeigen, dass diese stark von intensiver Physiotherapie profitieren (4). Das liegt einerseits sicherlich an der Bewegung an sich, die wieder »geübt« wird, andererseits deutet vieles darauf hin, dass körperliche Aktivität unmittelbare Auswirkungen auf das Gehirn hat, um die Defizite soweit möglich auszugleichen.

Kinder mit Cerebralparese, also einer Bewegungsstörung aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung, profitieren sehr davon, wenn sie sich bewegen, und sogar davon, wenn sie bewegt werden. In einer Untersuchung wurden betroffene Kinder auf Rüttelplatten bewegt, was zu signifikanten Verbesserungen von Gangbild, Ganggeschwindigkeit, maximalem Winkel im Sprunggelenk und Umfang der Fuß- und Wadenmuskulatur führte. Prof. Röder und ihre Arbeitsgruppe führen derzeit ein Forschungsprojekt durch, um zu eruieren, in welchem Umfang Bewegung für die Kompensation eines Sinnessystems förderlich ist und wie sie gezielt in der Rehabilitation eingesetzt werden kann. Denn dass Bewegung dabei positiven Nutzen bringen wird, hält sie für sicher: »Wir haben noch nie irgendwelche negativen Effekte von Sport auf das Gehirn gefunden. Es gibt – was das Gehirn angeht – also keinen Grund, keinen Sport zu machen!«

Praktisches Beispiel der Neuroplastizität: Video über Andrew Short, einen jungen Mann mit Cerebralparese, der durch intensives körperliches Training seine Behinderung kontrolliert.
The brain that changed: Walking the Great Wall of China with cerebral palsy – The Feed.
https://youtu.be/0G4GMaxHuUQ

■ Hutterer C

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Quellen:

  1. Kramer AF, Hahn S, Cohen NJ, Banich MT, McAuley E, Harrison CR, Chason J, Vakil E, Bardell L, Boileau RA, Colcombe A. Ageing, fitness and neurocognitive function. Nature. 1999; 400: 418-419. doi:10.1038/22682

  2. The Brain-Body Connection: GCBH Recommendations on Physical Activity and Brain Health. Global Council on Brain Health (GCBH). http://www.aarp.org/content/dam/aarp/health/brain_health/2016/05/gcbh-the-brain-body-connection.pdf

  3. Hötting K, Röder B. Beneficial effects of physical exercise on neuroplasticity and cognition. Neurosci. Biobehav. Rev. 2013; 37: 2243-2257. doi:10.1016/j.neubiorev.2013.04.005

  4. Lo AC, Guarino PD, Richards LG, Haselkorn JK, Wittenberg GF, Federman DG, Ringer RJ, Wagner TH, Krebs HI, Volpe BT, Bever CT Jr, Bravata DM, Duncan PW, Corn BH, Maffucci AD, Nadeau SE, Conroy SS, Powell JM, Huang GD, Peduzzi P. Robot-assisted therapy for long-term upper-limb impairment after stroke. N Engl J Med. 2010; 362: 1772-1783. doi:10.1056/NEJMoa0911341