Reha: Zweite Kreuzbandverletzung durch Förderung der Neuroplastizität vermeidbar?

Reha: Zweite Kreuzbandverletzung durch Förderung der Neuroplastizität vermeidbar?
© romaset / AdobeStock

Die Wahrscheinlichkeit, sich nach einer Kreuzbandverletzung eine zweite Verletzung dieser Art zuzuziehen, ist hoch. Unter 25-jährige Sportler sind mit 23 Prozent Wiederverletzungsrate am häufigsten betroffen, gefolgt von Athleten jeden Alters (20 Prozent) (4). Über alle Kreuzbandverletzungen betrachtet, liegt die Rate bei 15 Prozent. Nur 65 Prozent der Betroffenen können auf das Leistungsniveau vor der Verletzung zurückkehren (1). Trotz einer operativen Wiederherstellung oder Nachbildung der Fasern sind auch anhaltende Schmerzen und funktionelle Defizite nicht unüblich. Aktuelle Studien deuten darauf hin, dass Letzteres auf Veränderungen bestimmter Verarbeitungsprozesse im Gehirn zurückzuführen sein könnte. „Nach einer Operation haben viele Patienten Schwierigkeiten, die gewohnte Stabilität im Kniegelenk zu erreichen und weisen so eine verminderte Gleichgewichtsfähigkeit oder posturale Kontrolle auf. Damit steigt das Risiko einer erneuten Verletzung des Kniegelenks, selbst nach Abschluss der Rehabilitation“, erklärt Tim Lehmann vom Department Sport und Gesundheit der Universität Paderborn.

Klassische Reha vernachlässigt Erkenntnisse zum motorischen Lernen

Ein Grund dafür, so vermuten die Wissenschaftler, könnte in dem üblichen Vorgehen während der Rehabilitation liegen. Während ein Sportler zum Zeitpunkt einer Kreuzbandverletzung häufig in ein komplexes Spielgeschehen (Position des Balles, der Gegner und Teamkameraden) oder einen komplexen, von äußeren Einflüssen beeinflussten Bewegungsablauf eingebunden ist, werden diese Aufmerksamkeits- und Umgebungskomponenten während einer Reha nach Kreuzbandverletzung nur wenig nachgestellt. Drei Sätze à 10 Wiederholungen einer isolierten Bewegung, gefolgt von einer anderen isolierten Bewegung sind in den meisten Sportarten sehr selten. Zwar sind der Aufbau von Muskelkraft und Ausdauer wichtige Elemente, doch es sind nicht die einzig relevanten. Untersuchungen haben gezeigt, dass bestimmte Arten des motorischen Lernens (external focus of attention, implizites Lernen, differentielles Lernen und kontexturelle Interferenz) nicht nur mit anderen Aktivitätsmustern im Gehirn einhergehen, sondern auch mit besserer langfristiger Performance und erhöhter intuitiver Bewegungsausführung (2, 3).

Bewegungssteuerung für gesundes und verletztes Bein unterscheiden sich

Die Paderborner Wissenschaftler haben in einer aktuell laufenden Studie (5) mit Kreuzbandpatienten in Abhängigkeit vom Standbein – verletzt oder unverletzt – unterscheidbare Verknüpfungsmuster im Gehirn gefunden. Je nachdem, ob das gesunde oder das verletzte Bein verwendet wurde, liefen bei den Probanden unterschiedliche Reaktionsmuster im Gehirn ab. „Das deutet darauf hin, dass die Kreuzbandpatienten möglicherweise vermehrt visuelle und somatosensorische, also die Körperwahrnehmung betreffende Informationen in kortikale Netzwerke einbeziehen, um so verletzungsbedingte Veränderungen im Kniegelenk auszugleichen“, erläutert Lehmann die Ergebnisse. Einfach ausgedrückt bedeutet das, dass das Gehirn seine Strategien zur Bewegungssteuerung an die neuen Gegebenheiten anpasst – doch das Ergebnis ist nicht immer optimal, wie man an den Rerupturraten sieht. „Die Defizite legen eine Umgestaltung komplexer sensomotorischer Netzwerke nah, die für die Steuerung von Bewegung zuständig sind“, sagt Lehmann weiter.

Hohe Variabilität statt vieler Wiederholungen

Besonders in der späten Phase der Reha wäre daher ein Vorgehen sinnvoll, das das motorische Lernen möglichst optimal fördert und die Bewegungssteuerung bestmöglich reaktiviert. Ein möglichst variables Training mit Elementen aus dem differentiellen Lernen und mit einem möglichst hohen Grad an kontextueller Interferenz könnte die Situation für Kreuzbandpatienten verbessern. Beispielsweise sollte die Reihenfolge der Übungen zufällig gewählt sein und mehrere Bewegungsaspekte ansprechen, beispielsweise visuelle Reize, auf die reagiert werden muss oder eine andere Trainingsumgebung oder anderer Untergrund (Sand, Rasen, Hallenboden etc.). Weniger vorhersagbares Training führt zwar im Vergleich mit klassischem Wiederholungstraining anfangs zu schlechterer Leistung, der Bewegungsablauf wird jedoch langfristig besser gelernt. Selbstverständlich muss bei der Gestaltung des Trainings das Fertigkeitslevel des Patienten berücksichtigt werden. Eliteathleten kommen gut mit einem hohen Grad an kontextueller Interferenz zurecht, weniger trainierte Athleten benötigen weniger Varianz.

■ Hutterer C

Ähnliche Beiträge zum Thema finden Sie weiter unten!

Quellen:

  1. Ardern CL, Taylor NF, Feller JA, Webster KE. Fifty-five per cent return to competitive sport following anterior cruciate ligament reconstruction surgery: an updated systematic review and meta-analysis including aspects of physical functioning and contextual factors. Br J Sports Med. 2014; 48: 1543–1552. doi:10.1136/bjsports-2013-093398

  2. Gokeler A, Neuhaus D, Benjaminse A, Grooms DR, Baumeister J. Principles of Motor Learning to Support Neuroplasticity After ACL Injury: Implications for Optimizing Performance and Reducing Risk of Second ACL Injury. Sports Med. 2019; 49: 853-865. doi:10.1007/s40279-019-01058-0

  3. Henz D, Schollhorn WI. Differential training facilitates early consolidation in motor learning. Front Behav Neurosci. 2016; 10: 199. doi:10.3389/fnbeh.2016.00199

  4. Wiggins AJ, Grandhi RK, Schneider DK, Stanfield D, Webster KE, Myer GD. Risk of Secondary Injury in Younger Athletes After Anterior Cruciate Ligament Reconstruction: A Systematic Review and Meta-analysis. Am J Sports Med. 2016; 44: 1861-1876. doi:10.1177/0363546515621554

  5. Veränderte Prozesse im Gehirn nach Kreuzbandriss. https://www.uni-paderborn.de/nachricht/94721. Published 02.12.2020. Accessed 22.12.2020