Paradigmenwechsel bei der Versorgung der Sportassozierten Concussion

Paradigmenwechsel bei der Versorgung der Sportassozierten Concussion
© simon / Adobe Stock

Die sportassoziierte Concussion (SaC) ist neben dem neurologischen Gesundheitssport sicherlich eines der klinisch und wissenschaftlich meist beachteten und diskutierten Themen innerhalb der Sportneurologie. In den letzten Jahren haben sich erhebliche Veränderungen im Verständnis und Management der SaC ergeben. Diese wurden durch wissenschaftlich erhobene Daten und die Aktualisierung Evidenz- und Konsensus-basierter Leitlinien, insbesondere der Concussion in Sport Group (CISG) maßgeblich vorangetrieben (7).

Die wichtigsten dieser Aktualisierungen, die zum Beispiel bezüglich des pathophysiologischen Verständnisses und der Therapie einem Paradigmenwechsel gleichkommen, sind im Dossier der aktuellen Ausgabe aufgeführt und es liegt an uns, diese nun adäquat umzusetzen. Da an der Versorgung von Athletinnen und Athleten mit SaC viele ärztliche und nicht-ärztliche Fachbereiche und Berufsgruppen partizipieren (sollten), gilt es, die entsprechenden Leitlinien und Handlungsempfehlungen nun zielgruppenspezifisch allen relevanten Personen zukommen zu lassen. Das schließt auch Trainerinnen und Trainer, Eltern sowie Athletinnen und Athleten selbst mit ein. Ein Beispiel hierfür ist in der Broschüre „Kopfverletzungen“ und dem „Concussion-Protokoll“ der Deutschen Fußball Liga (DFL) zu finden (3), dessen Akzeptanz und Umsetzung von allen Trainern, Managern sowie Ärztinnen und Ärzten der Vereine der 1. und 2. Bundesliga durch deren Unterschrift dokumentiert wurde. Es ist wichtig, im klinischen Alltag bei der Versorgung von SaC auf Evidenzen, Leitlinien und Untersuchungs- und Behandlungsprotokolle (wie zum Beispiel von der CISG) zurückzugreifen statt unseriöse Quellen heranzuziehen. Schließlich sollte im Rahmen von Diagnostik und Management von SaC weder eine Verharmlosung noch eine Panikmache erfolgen.

Diskussion um die chronischen Folgen von SaC

Leider ist aber auch in einigen Themen rund um die SaC eine eher emotionale als rationale Diskussion vorzufinden. Insbesondere die Diskussion um die chronischen Folgen von SaC und/oder wiederholte subklinische Kopfstöße („repetitive head impact“) wird nicht selten eher affektbehaftet als wissenschaftlich rational geführt. Die zumindest in Teilen unterschiedliche Interpretation derselben wissenschaftlichen Daten zum Beispiel hinsichtlich der (Langzeit-)Wirkung von Kopfbällen in verschiedenen Fußballverbänden, die in unterschiedliche Empfehlungen im Umgang mit Kopfbällen geführt hat, zeigt den weiteren Forschungsbedarf auf. Allerdings darf man sich auch nicht hinter fehlenden Daten verstecken, sondern sollte bereits jetzt schon – alle Aspekte und Daten dieses komplexen Themas berücksichtigend – Empfehlungen aussprechen. So besteht in einigen Fußballverbänden ein Verbot für das Kopfballspiel in gewissen Altersklassen (zumeist <12 Jahre), andere, wie der Deutsche Fußballbund (DFB), sprechen altersgemäße Regelungen statt kategorischer Verbote aus (2).

Forschungsbedarfe

Zur langfristigen Verbesserung in der Versorgung einer sportassoziierten Concussion bedarf es also wissenschaftlicher Daten, die einem qualitativ hohen Anspruch Stand halten, klinisch umsetzbar und generalisierbar sind. Hierzu sollten zum Beispiel Studien zu wiederholten subklinischen Kopfstößen im Längsschnitt erfolgen, eine adäquate Erfassung und Charakterisierung der auslösenden Stimuli (z. B. Art und Situationen von Kopfbällen) und valide klinische (Surrogat-)Parameter beinhalten, hypothesen- und pathogenesebasiert ausgerichtet und gepowert sein, individuelle Prädispositionen und möglichst viele potenziell neurodegenerative (Co-)Risikofaktoren berücksichtigen. Insbesondere die Einflüsse von Periodisierung von Training und damit auch der auslösenden Stimuli oder die gegenseitige Beeinflussung der Risikofaktoren untereinander (und insbesondere auf die Erholung von SaC) sind dabei wichtige zu erforschende Faktoren.

Forschungsförderung

Im Bereich der translationalen und Versorgungsforschung sind zudem regionale (und nationale) Besonderheiten in der Organisation von Sport und des Gesundheitssystems zu berücksichtigen. So unterscheiden sich sowohl die medizinischen Versorgungsstrukturen als auch die Organisation des Sports selbst zwischen Deutschland und anderen Teilen der Welt (insbesondere Nordamerika) gewaltig, aus denen die Daten stammen, die den Empfehlungen der CISG zu Grunde liegen, und nicht alle Ergebnisse lassen sich direkt und unangepasst übertragen. Die Problematik wurde auch bereits vor vielen Jahren durch das Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp) aufgegriffen. Das BISp unterstützt bzw. initiiert seitdem vielfältigste Aktivitäten. Diese beziehen sich u. a. auf die Sensibilisierung für die Thematik, Vernetzung, Wissensvermittlung und Forschungsförderung. Im Rahmen der Forschungsförderung konnten durch den damaligen Förderschwerpunkt (2017) wie aber auch aktuell zahlreiche Projekte zu SaC und wiederholten subklinischen Kopfstößen (insbesondere Kopfbälle) in Deutschland gefördert werden.

Beiträge der aktuellen Ausgabe

Einige der hieraus resultierenden Ergebnisse sind im aktuellen Heft abgedruckt: Kern et al. diskutieren kinematische Ergebnisse bei der Untersuchung von Kopfbällen bei Frauen in Abhängigkeit von Fluglänge und anderen Eigenschaften (6), Reeschke et al. beschreiben neurokognitive, verstibulo-okuläre und Gleichgewichts-Daten aus Baseline-Untersuchungen von jugendlichen Fußball- und Basketballspielern, die vielleicht künftig über das SaC-Management informieren können (8) und Fohrmann et al. berichten über (Probleme bei der) Validierung eines Systems zur Untersuchung neuro-ophthalmologischer Funktionen an der Seitenlinie (4). Zudem sind Aspekte der wenig erforschten SaC im paralympischen Sport im Rahmen eines Reviews von Singh et al. zusammengetragen worden (9). Auch der aktuelle „Standard der Sportmedizin“ (Clinical Review: Heart Rate Variability – Methods and Analysis in Sports Medicine and Exercise Science) (5) in diesem Heft beschäftigt sich mit einem interdisziplinär-sportneurologischem Thema, nicht zuletzt weil durch solche Untersuchungen bereits SaC assoziierte Veränderungen im Autonomen Nervensystem beschrieben wurden (1).

Ausblick

Im wissenschaftlichen Verständnis und dem klinischen Management einer sportassoziierten Concussion hat sich also in den letzten Jahren unheimlich viel getan. Allerdings wird ausschließlich hochwertige Forschung dazu beitragen, dass der Wissenszuwachs an dieser Stelle nicht stagniert, sondern auch die sehr relevanten bislang unbeantworteten Fragen künftig nicht nur durch Medien, sondern durch Evidenz beantwortet werden. Und wer weiß, welche Überraschungen und Paradigmenwechsel dann noch vor uns liegen…

Prof. Dr. Dr. Claus Reinsberger, 2024
Prof. Dr. Dr. Claus Reinsberger, Leitung Sportmedizin, Universität Paderborn © Reinsberger
Fett, Daniela 2024
Daniela Fett, Leitung Fachgebiet Medizin im BISp. © Fett

■ Reinsberger C, Fett D

Ähnliche Beiträge zum Thema finden Sie weiter unten!

Quellen:

  1. Delling AC, Jakobsmeyer R, Coenen J, Christiansen N, Reinsberger C. Home-Based Measurements of Nocturnal Cardiac Parasympathetic Activity in Athletes during Return to Sport after Sport-Related Concussion. Sensors (Basel). 2023; 23: 4190. doi:10.3390/s23094190

  2. Deutscher Fußball-Bund e. V. Altersgerechtes Kopfballspiel im Kinder- und Jugendfußball, 2022. [25 April 2024].

  3. Deutsche Fußball Liga GmbH, Deutscher Fußball-Bund e. V. KOPFVERLETZUNGEN. Eine Übersicht und konkrete medizinische Empfehlungen mit Blick auf den deutschen Lizenzfußball, 2023. [25 April 2024].

  4. Fohrmann D, Gonschorek A, Baumann A, Bouchut W, Junge A, Hollander K. Towards sideline testing of neuro-ophthalmological function in football (soccer): reliability and effects of repetitive headers on a possible neurophysiological biomarker. Dtsch Z Sportmed. 2024; 75: 97-104. doi:10.5960/dzsm.2024.596

  5. Gronwald T, Schaffarczyk M, Reinsberger C, Hoos O. Heart rate variability – methods and analysis in sports medicine and exercise science. Dtsch Z Sportmed. 2024; 75: 113-118. doi:10.5960/dzsm.2024.595

  6. Kern J, Hermsdörfer J, Gulde P. Factors influencing wearable-derived head impact kinematics in soccer heading . Dtsch Z Sportmed. 2024; 75: 105-112. doi:10.5960/dzsm.2024.598

  7. Patricios JS, Schneider KJ, Dvorak J, Ahmed OH, Blauwet C, Cantu RC, Davis GA, Echemendia RJ, Makdissi M, McNamee M, Broglio S, Emery CA, Feddermann-Demont N, Fuller GW, Giza CC, Guskiewicz KM, Hainline B, Iverson GL, Kutcher JS, Leddy JJ, Maddocks D, Manley G, McCrea M, Purcell LK, Putukian M, Sato H, Tuominen MP, Turner M, Yeates KO, Herring SA, Meeuwisse W. Consensus statement on concussion in sport: the 6th International Conference on Concussion in Sport-Amsterdam, October 2022. Br J Sports Med. 2023; 57: 695-711. doi:10.1136/bjsports-2023-106898

  8. Reeschke R, Dautzenberg L, Koch T, Reinsberger C. Neurocognitive performance, vestibulo-ocular function and postural control in youth male soccer and basketball players of different ages. Dtsch Z Sportmed. 2024; 75: 90-96. doi:10.5960/dzsm.2024.597

  9. Singh B, Gemmerich R, Ziegler T, Helmich I. Concussions in paralympic sports: a systematic review. Dtsch Z Sportmed. 2024; 75: 83-89. doi:10.5960/dzsm.2024.594