Neue Sk2-Leitlinie „Adoleszente idiopathische Skoliose“

Neue Sk2-Leitlinie „Adoleszente idiopathische Skoliose“
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Von der Diagnose „adolseszente idiopathische Skoliose“ (AIS) sind jedes Jahr bis zu 5,2 Prozent der Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren betroffen; bei Mädchen ist die Prävalenz um bis zu dreifach höher. Um die Lebensqualität der jungen Patienten zu verbessern und negative Folgeerscheinungen zu vermeiden, ist eine möglichst frühe Erkennung und Therapie der Wirbelsäulenverkrümmung notwendig. Leitlinien geben Ärzten, Physiotherapeuten und Orthopädietechnikern hierbei Orientierung. Nun haben die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), die Deutsche Wirbelsäulengesellschaft kürzlich gemeinsam mit weiteren Fachgesellschaften eine aktualisierte Sk2-Leitlinie „Adolseszente idiopathische Skoliose“ erarbeitet. Sie soll die Diagnostik sowie die konservative und operative Behandlung der AIS vereinheitlichen und für alle Akteure optimieren. Die neue Leitlinie berücksichtigt neben dem medizinischen Konsens der beteiligten Gremien aktuellste Forschungsliteratur (1).

Pathogenese

Die Pathogenese der idopathischen Skoliose ist nach wie vor unklar.

Risikofaktoren

Weibliches Geschlecht, Imbalancen des Längenwachstums unterschiedlicher Wirbelsäulenfragmente, genetische und endokrinologische Faktoren (z.B. niedrigere Östradiolspiegel und verspätete Menarche, Störungen der Leptin-/Ghrelin-Bioaktivität oder des Calcium-/Vitamin-D-Stoffwechsels).

Diagnostik

■ Klinische und radiologische Diagnostik (u.a. präoperative Funktionsaufnahmen und Skelettalterbestimmung)
■ Klassifikationen (Planung der operativen Korrektur: Lenke; physiotherapeutische Behandlung: Schroth; Orthesentherapie: Rigo)
■ Lungenfunktionsdiagnostik nur bei Hinweisen auf eingeschränkte pulmonale Funktion
■ Gentests (bisher existieren keine ausreichend aussagekräftigen Tests zum Nachweis einer Prädisposition)
■ Kraftmessungen werden aufgrund geringer Aussagekraft nicht empfohlen
■ Differenzialdiagnostik Beinlängendifferenz beachten!

Neu im Vergleich mit der vorherigen Leitlinie:

■ Pauschale Empfehlungen zur Zurückhaltung bei strahlenintensiver Bildgebung wie Röntgen oder CT (Alternative für Verlaufskontrollen z.B. MRT, Rasterstereographie)
■ Sinnvolle Untersuchungsintervalle (nur im pubertären Wachstumsschub und bei Cobb-Winkel >10° Röntgen-Verlaufskontrollen alle 6 bis 12 Monate, danach je nach klinischer Situation)
■ Röntgenologische Abklärung erst ab starkem, per Vorbeugetest und Skoliometer gemessenem Rückenbuckel oder Lendenwulst >5°.
■ Bevorzugung von p.a.-Projektion statt a.p.-Projektion oder Low-dose-Techniken wie EOS-System, um die kumulative Strahlendosis zu reduzieren
■ Präoperatives CT nur bei klarer Fragestellung, z.B. zur knöchernen Überbrückung einzelner Segmente
■ Postoperatives CT nicht regelhaft, sondern nur zur Abklärung auf Implantatfehllagen o.ä.
■ Besondere Vorsicht bei operierten Patienten, die generell v.a. intraoperativ höheren Strahlendosen ausgesetzt sind.
■ Bei operierten AIS-Patienten röntgenologische Wirbelsäulen-Ganzaufnahmen im Stehen direkt postoperativ, 3 bis 6 Monate sowie 1 Jahr nach OP; danach frühestens alle 2, besser alle 5 Jahre abhängig vom klinischen Gesamtbild

Konservative Behandlungsoptionen

■ Korsetttherapie (empfohlen bei Cobb-Winkel der Hauptkrümmung ab 25° thorakal bzw. ab 20° thorakolumbal oder lumbal)
■ Rehabilitationsmaßnahmen zur positiven Beeinflussung von Form und Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule und Atemkapazität sowie zur kurz- und langfristigen Verhinderung  sekundärer Symptome
■ Keine Empfehlung für Elektrostimulationstherapie

Konservative Optionen zur Behandlung von Begleiterscheinungen der AIS (z.B. bei Schmerzen aufgrund segmentaler oder muskulärer Funktionsstörungen oder Verspannung): Physio-/Manuelle Therapie, Osteopathie, Krafttraining, Eigenübungen

Neu im Vergleich zur bisherigen Leitlinie: Trotz Kritik an der Evidenz, starker Konsens zur begleitenden Durchführung einer Physiotherapie während der Korsettbehandlung. Bei Ablehnung der Korsetttherapie aus psychosozialen oder emotionalen Gründen: Angebot psychologischer Beratung.

Operative Behandlungsoptionen

Die operative Wirbelsäulenkorrektur wird empfohlen für Cobb-Winkel der Hauptkrümmung >50° thorakal bzw. >40° thorakolumbal oder lumbal. Dorsale und ventrale Verfahren haben je nach Indikation beide gute Ergebnisse.

■ Klassische OP-Techniken: Empfehlung für (Ponte-)Osteotomien, in Einzelfällen und nach sorgfältiger Abwägung Thorakoplastik
■ Alternative OP-Techniken: Wachstumslenkung, Posterior Dynamic Deformity Correction Device, Growth-Guiding-Verfahren, Growing-Rods-Techniken, Tethering
■ Implantateigenschaften: Empfehlung für Pedikelschrauben und sublaminäre Bänder statt Hakensystem
■ Intaoperatives Neuromonitoring (IONM) mit einer multimodalen Kombination aus SEP, MEP und EMG wird empfohlen; keine Empfehlung für Pedikelstimulation
■ Postoperative Behandlung: Schmerztherapie, individuelle Bewertung der Schul- und Alltagstauglichkeit, Kontrolluntersuchungen, Physiotherapie, Sport

Idiopathische Skoliose im Alltag

Neu im Vergleich zur bisherigen Leitlinie: Klare Empfehlung für sportliche Betätigung (auch Schulsport) von AIS-Patienten, ob mit oder ohne OP (operierte Patienten müssen jedoch sichere Wartezeiten einhalten und ausreichend lang auf kompetitive sowie Kontaktsportarten verzichten). Empfehlung zum Ablegen des Korsetts beim Sport und Anrechnung der Sportzeit auf die Korsett-Tragedauer! Auch Leistungssport ist nach individueller Evaluation „erlaubt“.

Fazit: Die neue Sk2-Richtlinie „Adoleszente idiopathische Skoliose“ rät energisch zu mehr Zurückhaltung bei strahlenintensiver Bildgebung und möchte die jungen Patienten zu einem sportlich aktiveren Leben motivieren. Frühere diesbezügliche Pauschalverbote bzw. -warnungen wurden durch individuelle Beurteilungen und eine wohlwollendere Sicht auf AIS-Lebensläufe ersetzt.

■ Kura L

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