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Manuelle Therapie im Sport: Was können die heilenden Hände?

Manuelle Therapie im Sport: Was können die heilenden Hände?
© Milan / Adobe Stock

In seinem lesenswerten Plädoyer für eine menschennahe Medizin „Die verlorene Kunst des Heilens“ zitiert der amerikanische Kardiologe Bernard Lown seinen Kollegen Thomas Lewis: „Berührungen sind das älteste und wirksamste Werkzeug ärztlichen Handelns.“ (7) Tatsächlich steckt diese Wahrheit sogar im Wort „Be-Handlung“. Doch ab wann wird aus Berührung manuelle Therapie? Welche anatomischen und physiologischen Faktoren liegen ihrer Wirkung zugrunde? Bei welchen Pathologien ist sie indiziert? Und wie ist die aktuelle Evidenzlage? Darüber hat die DZSM mit zwei erfahrenen Experten gesprochen.

Manuelle Therapie – mehr als mechanische Blockadenlösung

Dr. Bodo Lohmann ist Facharzt für Orthopädie und Unfallmedizin, Sportmediziner, Schmerz- und Manualtherapeut. In seiner Praxis bildet Chirotherapie eine feste Säule des Gesamt-Leistungsspektrums. Ihn fasziniert, wie man mit dem Wissen um die verschiedenen Funktionssysteme des Körpers Zusammenhänge erkennen und diese für Diagnostik und Heilung nutzen kann: „Manualtherapeutische Verfahren sind weit mehr als nur die mechanische Lösung lokaler Blockaden. Häufiger zielen sie auf die Beeinflussung schmerzinhibitorischer Systeme, die in ihren jeweiligen Abläufen hochkomplex sind. Stark vereinfacht könnte man die Effekte so erklären: Erzeuge ich durch gezielte Berührungen und Manipulationen – darunter Massage, Mobilisierung oder geführte Bewegung im schmerzfreien Raum – propriozeptive Afferenzen, entstehen dabei schmerzhemmende Aktionspotenziale, z. B. in GABAergen Interneuronen. Damit erreiche ich eine Reduktion der Durchschaltung nozizeptiver Erregungen, der Schmerz lässt nach und Bewegung wird wieder möglich.“

Zu den anerkannten manualtherapeutischen und osteopathischen Behandlungstechniken gehören u.a.

■ Massage/Spezialmassage

■ axiale und vibrierende Traktion von Wirbelsäule und Gelenken

■ Mobilisation

■ Manipulation

■ Muskeldehnung

■ Muskel-Energie-Techniken (z. B. postisometrische Relaxation)

■ Strain-Counterstrain-Technik

■ Myofascial-Release-Technik

■ viszerale Techniken (7)

Die funktionelle Kette verstehen

Eine der Grundannahmen der manuellen Therapie ist, dass funktionelle Störungen eine Folge von Sollwertverstellungen auf den informationsverarbeitenden afferenten und efferenten Leitbahnen des Organismus sind. Dr. Lohmann bestätigt diese These und ergänzt: „Jede Gelenkblockade schränkt das Gelenk in seinem ursprünglichen Bewegungsausmaß ein, und zwar meist schmerzhaft. In einem autonomen Regelkreis aktiviert dies bestimmte protektive Muskelgruppen auf derselben Ebene. Vom Körper ist das gut gedacht – aber es führt eben auch dazu, dass das Gelenk die Blockade nicht mehr selbsttätig lösen kann.“ Fehlbelastungen angrenzender Gelenke und Verspannungen peripherer Muskulatur sind die Folge, und so beginnt ein Teufelskreis. „Alles hängt zusammen, und deshalb gilt: Ist auch nur ein Glied der funktionellen Kette in seiner Funktion gestört, müssen alle angrenzenden Kettenglieder diese Störung kompensieren. So kommt es nicht nur zu Beschwerden in angrenzenden Arealen, sondern es leidet auch die Leistungsfähigkeit, etwa hinsichtlich Maximalkraft oder Geschwindigkeit. Zudem besteht immer das Risiko einer Chronifizierung.“

Dr. med. Bodo Lohmann, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sportmediziner und Chirotherapeut, Bonn
Dr. med. Bodo Lohmann, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sportmediziner und Chirotherapeut, Bonn © Lohmann

Hinweisgeber erkennen und die richtigen Rückschlüsse ziehen

Im Rahmen der körperlichen Untersuchung achtet ein manualtherapeutisch tätiger Arzt oder Physiotherapeut auf eine Vielzahl von Faktoren. Jörg Mayer, Sportosteopath (EASO) und Sportphysiotherapeut des DOSB, bezieht seine Hinweise u. a. aus Abweichungen im Gangbild, Tonusauffälligkeiten im Gewebe, auffälliger Hauttemperaur und -färbung, Testung auf Nervenkompressions- bzw. Engpasssyndrome oder Anzeichen muskulärer Dysbalance. Diese können dann im Einzelfall durchaus zu anderen oder zusätzlichen Ergebnissen kommen als MRT- oder Röntgenaufnahmen: „Natürlich ist Bildgebung essenziell – allein schon, um etwaige Gefahrenpotenziale und Kontraindikationen für bestimmte manuelle Techniken auszuschließen, etwa bei Pathologien der Wirbelsäule. Für die meisten Indikationen verlasse ich mich aber tatsächlich auf eine eingehende Anamnese, diverse evidenzbasierte Funktionstests und eine detaillierte palpatorische Befunderhebung.“ Dr. Lohmann betont darüber hinaus die Wichtigkeit des psychosozialen Kontexts: „Die beste klinische, neurologische und funktionelle Untersuchung nützt wenig, wenn eine Patientin oder ein Patient aufgrund psychosozialer Faktoren von der chirotherapeutischen Therapie gar nicht voll profitieren kann. Deshalb ist bei einer guten Anamnese auch Raum für solche Aspekte. Stellt sich hier zum Beispiel Bedarf an (sport)psychologischer Unterstützung heraus, etwa bei chronischen Schmerzsyndromen, hochtraumatischen Verletzungshergängen oder extremem Leistungsdruck wegen Trainingsausfalls, sollten im Rahmen eines multimodalen Behandlungskonzepts entsprechende Kolleginnen oder Kollegen herangezogen werden.“

Bildgebung nicht überbewerten

MRT-, CT-, Röntgen- oder Ultraschallbilder haben durchaus eine essenzielle diagnostische Aufgabe. Was die Bildgebung jedoch nicht zu leisten vermag, ist die Darstellung von Blockierungen bzw. Sollwertverstellungen eines Gelenks. Auch Dr. Lohmann ist deshalb bezüglich bildgebender Verfahren vorsichtig: „Klinisch ist eine Pathologie für Patient und Arzt durch lokalen Druckschmerz, Schwellung, eine Einschränkung der Gelenkbeweglichkeit  sowie ein hör- und fühlbares Lösen bzw. Knacken des Gelenks bei der Manipulation klar nachzuvollziehen, selbst wenn sich diese Punkte in keiner Bildgebung wiederfinden. Lediglich die angrenzende Verhärtung umgebender Muskulatur lässt sich sehr gut per Strain- oder Shear-wave-Elastographie darstellen. Doch auch dies lässt nur einen indirekten Rückschluss auf die Blockierung zu.“