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Fortsetzung Manuelle Therapie im Sport: Was können die heilenden Hände?

Einsatzgebiete der Chirotherapie

Die Indikationen für ärztlich durchgeführte Chirotherapie bzw. manuelle Therapie durch geschultes Physiopersonal sind breit gefächert, denn fast jede Pathologie des muskuloskelettalen Systems spricht auf die Verfahren gut an. Jörg Mayer behandelt in seiner Münchner Praxis regelmäßig Sportler mit Blockierungen im oberen Sprunggelenk (OSG), Iliosakralgelenke (ISG) oder Rippen-Wirbelgelenk sowie den daraus resultierenden allgemeinen Schmerzsyndromen und Bewegungseinschränkungen: „Im Sinne der bereits thematisierten funktionalen Kette zeigen sich diese Beschwerden häufig andernorts – am Beispiel der OSG-Blockade etwa durch Überlastungsschmerzen von Knie, Plantarfaszie oder Achillessehne sowie durch eine verminderte Kniebeugen-Tiefe. Blockaden der Rippen-Wirbelgelenke wiederum äußern sich typischerweise durch eine schmerzhaft eingeschränkte Rumpfrotation und/oder atemabhängige Beschwerden.“

Dr. Lohmann hat unter seinen sportmedizinischen Patienten auffallend viele Leichtathleten und Turner: „Bei Turnern finden sich überproportional häufig Blockierungen von Wirbelsäule und Handgelenken, was die Bewegungspräzision vermindert und das Verletzungsrisiko erhöht. Leichtatlethen kommen häufig mit behandlungsbedürftigen Blockaden der unteren Extremitäten, genauer gesagt der Sprung- und Fußwurzelgelenke. Die daraus entstehenden gestörten Bewegungsabläufe und Kompensationsmechanismen führen letztlich zu Verdickungen und Entzündungen der Achillessehne. Hier kämen per se gut wirksame Therapiebausteine wie Injektionen, Stoßwelle und Einlagen an ihre Grenzen – wird nicht vorab die Blockade behoben und die umliegende Haltemuskulatur gekräftigt, ist nachhaltige Heilung kaum möglich!“

Beseitigung leistungslimitierender Faktoren

Manuelle Therapie trägt auch zur Leistungssteigerung bei. Das ist unter Anwendern unumstritten. „Damit ein Sportler seine Leistung optimal abrufen kann, müssen alle Gelenke ihren vollen Bewegungsradius verfügbar haben. Stelle ich diese mit gezielter gelenkspaltnaher Manipulation chirotherapeutisch wieder her, hat dies viele positive Auswirkungen wie z. B. erweitertes Gelenkspiel (Joint-play-Räume), eine geringere Nozizeption, einen entspannteren Muskeltonus und nicht zuletzt bessere Knorpelernährung. All dies resultiert in präziseren, koordinierteren Bewegungen und besserer Kraftausnutzung. Eigentlich müsste man eher sagen, dass manuelle Methoden leistungslimitierende Faktoren vermindert. Und das ist keine neue Erkenntnis: Nicht umsonst reiste das US-amerikanische Team zu den olympischen Spielen 2012 mit über 100 eigenen Chirotherapeutinnen und -therapeuten an!“, konstatiert Dr. Lohmann.

Aktuelle Studien bestätigen diese Beobachtungen aus der Praxis, darunter eine US-amerikanische randomisierte Beobachtungsstudie an College-Athleten. Sie konnten den Bewegungsumfang der Dorsalflexion des Sprunggelenks und das dynamische Gleichgewicht beim Einbeinstand durch verschiedene manualtherapeutische Interventionen signifikant steigern (6). Ähnlich gute Effekte erzielte eine Kombination aus Stretching und einmaliger Chirotherapie mithilfe spezieller Faszien-Massagetools: Sie verschaffte Baseballspielern in einer weiteren Studie eine signifikant bessere Range of Motion (ROM) des Schultergelenks (1).

Jörg Mayer ergänzt: „Tatsächliche Leistungssteigerungen erreicht man natürlich nicht allein durch die Behebung endgradiger Einschränkungen durch manuelle Vorbereitung myofaszialer und gelenkiger Strukturen vor einem Training oder Wettkampf. Manche leistungsoptimierenden Effekte machen sich erst über längere Zeiträume bemerkbar. Hier ist z. B. die manualtherapeutische Behandlung vegetativ regulierender Strukturen und Organe zur Verbesserung der Regeneration zu nennen, genauso wie die Ökonomisierung von Bewegungsabläufen durch die Reduktion entgegenwirkender Kräfte – kurz: aktive Techniken zur Verbesserung der Beweglichkeit durch verschiedene Dehnarten. Und natürlich geht nichts ohne ein individuell angepasstes Warm-up.“

Kontraindikationen für manuelle Therapie

Nicht alle orthopädischen Beschwerden dürfen manualtherapeutisch behandelt werden. Lege artis wird laut Dr. Lohmann u. a. bei Vorliegen folgender Faktoren keinesfalls manipulativ behandelt (Ausnahme: reine Weichteiltechniken):

■ Tumore bzw. Metastasen der Wirbelsäule

■ Schwere Osteochondrosen

■ Osteoporotische Frakturen

■ Entzündliche und strukturell destabilisierende Wirbelsäulenerkrankungen

■ Bakterielle Entzündungen

■ Akute Schübe entzündlicher Systemerkrankungen

■ Schwerwiegende Gefäßveränderungen, z. B. Aneurysmata

Reine Weichteiltechniken können nach sorgfältiger differenzialdiagnostischer Abwägung sogar bei Osteoporose, degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule oder Hypermobilität angewendet werden.

Zur Evidenzlage manueller Therapien

Über manuelle Therapieformen gibt es bislang nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen, so dass – abseits persönlicher Erfahrungen – eine fundierte allgemeingültige Aussage zur Wirksamkeit dieser Methoden nicht getroffen werden kann.

Positive Ergebnisse lieferte eine aktuelle internationale Studie, die der Behandlungsform über mehrere Indikationen der Sehne hinweg eine insgesamt gute Wirksamkeit bescheinigt (4). Eine  Studie iranischer Forscher nennt manualtherapeutische Interventionen bei ISG-Dysfunktion als überlegene Maßnahme im Rahmen einer multimodalen Behandlung (9). Auch Rotatorenmanschettensyndrome sprechen laut einem systematischen Review gut auf eine Kombination aus manueller Mobilisation und Physiotherapie an (5), ebenso wie Impingements der Supraspinatussehne (8). Ebenfalls signifikante Effekte auf Schmerz und Funktion fand ein systematischer Review zu Osteopathie bei unspezifischem lumbalem Rückenschmerz. Allerdings waren die dort diskutierten Fallzahlen klein, die untersuchten Gruppen sehr heterogen und die Evidenzqualität moderat bzw. im Falle schwangerer und postpartaler Frauen zum Teil nur gering (2). In einem weiteren Review zu osteopathischen Interventionen bei unspezifischem Nackenschmerz verbesserte sich die Funktion nicht, der Schmerz jedoch schon (3).

Insgesamt sind weitere hochwertige Studien an größeren Populationen notwendig, um die Wirksamkeit manueller Therapien eindeutig zu belegen.

Jörg Mayer, Sport- und Bewegungstherapeut, Osteopath und Sportphysiotherapeut des DOSB, München
Jörg Mayer, Sport- und Bewegungstherapeut, Sportosteopath (EASO) und Sportphysiotherapeut des DOSB, München © Mayer

■ Kura L

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Quellen:

  1. Bailey LB, Thigpen CA, Hawkins RJ, Beattie PF, Shanley E. Effectiveness of Manual Therapy and Stretching for Baseball Players With Shoulder Range of Motion Deficits. Sports Health. 2017 May/Jun; 9: 230-237. doi:10.1177/1941738117702835

  2. Franke H, Franke JD, Fryer G. Osteopathic manipulative treatment for nonspecific low back pain: a systematic review and meta-analysis. BMC Musculoskelet Disord. 2014; 15: 286. doi:10.1186/1471-2474-15-286

  3. Franke H, Franke JD, Fryer G. Osteopathic manipulative treatment for chronic nonspecific neck pain: A systematic review and meta-analysis. Int Journ Osteop Me. 2015; 18: 255-267. doi:10.1016/j.ijosm.2015.05.003

  4. Jayaseelan DJ, Sault JD, Fernandez-de-Las-Penas C. Manual therapy should not be on the sideline in the game of treating tendinopathy. J Man Manip Ther. 2022; 5: 1-6. doi:10.1080/10669817.2022.2047269

  5. Hawk C, Minkalis AL, Khorsan R, Daniels CJ, et al. Systematic Review of Nondrug, Nonsurgical Treatment of Shoulder Conditions. J Manipulative Physiol Ther. 2017; 40: 293-319. doi:10.1016/j.jmpt.2017.04.001

  6. Lehr ME, Fink ML, Ulrich E, Butler RJ. Comparison of manual therapy techniques on ankle dorsiflexion range of motion and dynamic single leg balance in collegiate athletes. J Bodyw Mov Ther. 2022; 29: 206-214. doi:10.1016/j.jbmt.2021.11.004

  7. Lown B. Die verlorene Kunst des Heilens. 11. Auflage. Suhrkamp Verlag. 2012: 45.

  8. Mintken PE, McDevitt AW, Cleland JA et al. Cervicothoracic Manual Therapy Plus Exercise Therapy Versus Exercise Therapy Alone in the Management of Individuals With Shoulder Pain: A Multicenter Randomized Controlled Trial. J Orthop Sports Phys Ther. 2016; 46: 617-28. doi:10.2519/jospt.2016.6319

  9. Nejati P, Safarcherati A, Karimi F. Effectiveness of Exercise Therapy and Manipulation on Sacroiliac Joint Dysfunction: A Randomized Controlled Trial. Pain Physician. 2019; 22: 53-61