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Fortsetzung Extremsport – zwischen Todesangst und totaler Euphorie

Motivation zum Risiko

Doch worin liegt die Motivation, so ein hohes Risiko einzugehen? Etwa jeder fünfte Mensch hält sein Erregungsniveau gerne hoch, indem er häufig neue Reize sucht. Physiologisch betrachtet, so zeigen Untersuchungen, haben High Sensation Seeker eine chronische Untererregung im Gehirn. Um dieses offenbar unangenehme Gefühl loszuwerden, suchen diese Menschen nach intensiver Stimulation. Aktivitäten, die einen Menschen mit normalem Aktivierungsmuster im Gehirn bereits in starke Erregung versetzen würden, reichen HSS nicht aus. Die Folge ist ein No-risk-no-fun-Lebensstil. Im Falle eines Leistungssportlers kanalisiert sich dieser Impuls im Training, dem Zugewinn an Fertigkeiten und der Stimulation beim Messen mit anderen Sportlern oder sich selbst. Eine Befriedigung ergibt sich aber auch über tätigkeits­immanente Anreize, etwa das Gefühl der Bewegung oder die auf den Körper wirkenden Kräfte.

Kick & Flow

Ein von vielen Sportlern genanntes, von anderen aber abgelehntes Element ist der so genannte Kick, also eine kurzzeitige, extrem hohe nervliche und emotionale Erregung und ihre rauschhafte Entladung. Alex Honnold sagt, er sei kein Adrenalinjunkie: »Wenn ich einen Adrenalinrausch bekomme, bedeutet das, dass etwas extrem schief gelaufen ist. Free-Solo-Klettern ist ganz langsam und ruhig. Es muss einfach alles stimmen. Wenn ich vorher schon Angst bekomme, dann starte ich einfach nicht.« Das Gefühl, dass »alles stimmt«, wird als »Flow« bezeichnet. Er ist ein angestrebter Zustand, in dem die Herausforderungen und die Fähigkeiten perfekt zusammenpassen. Der Sportler, sein Körper, sein Geist, sein Sportgerät, die Umgebung – alles bildet eine Einheit und funktioniert quasi anstrengungslos.

Auch für das Erreichen des Flows ist ein bestimmtes Aktivitätsniveau notwendig. Ebenso, um Höchstleistungen abrufen zu können. »Durch Erfahrung lernt ein Sportler, wo sein persönliches Erregungsoptimum liegt und wie er das Aktivitätsniveau herauf- oder herunterregulieren kann. Ein im (Leistungs-)Sport häufig angewandtes Mittel ist Musik« , erläutert Prof. Dr. Michael Kellmann, Leiter des Lehr- und Forschungsbereichs Sportpsychologie der Ruhr-Universität Bochum. Auch Atem- und Entspannungstechniken oder Selbstgespräche sind verbreitete Wege, um das Gleichgewicht zwischen An- und Entspannung zu erreichen.

Bild Michael Kellmann
Prof. Dr. Michael Kellmann, Leiter des Lehr- und Forschungsbereichs Sportpsychologie der Ruhr-Universität Bochum © Kellmann

Der Druck von außen

Unklar ist, wie viel der Erfüllung durch intrinsische Befriedigung des Wunsches nach Erregung erreicht wird und welchen Stellenwert die Aufmerksamkeit und Anerkennung von außen hat. Reinhold Messner sagte dazu: »Konkurrenz [im Bergsport, Anm. d. Red.] spielt eine Rolle, weil die Sportler um die wenigen Sponsorenverträge kämpfen müssen. […] Wenn Druck entsteht durch mediale oder wirtschaftliche Elemente, dann ist höchste Vorsicht geboten.« Veranstalter und Zuschauer von Sport­ereignissen brauchen immer extremere Leistungen, um begeistert werden zu können. Beispielsweise ist im Skisport in den letzten Jahren zu beobachten, dass die Strecken immer schwieriger, die Sprünge weiter und die Geschwindigkeiten höher werden. Der Anstieg der tatsächlichen – nicht nur der gefühlten – Gefahr für die Sportler trägt vermutlich auch dazu bei, dass die Dopingthematik – und im Extremsport auch der Drogenkonsum – wächst oder »notwendig« wird, um den Anforderungen standhalten zu können.

Erst die Angst, dann die Euphorie

Die »Opponent-Process Theory of Motivation« von Richard L. Solomon und John D. Corbit, welche die beiden Wissenschaftler 1978 veröffentlichten, erklärt die Funktionsweise des Gehirns im Sinne opponierender Prozesse. Demnach ist die Angst der notwendige negative Affekt, der zu einer starken Aktivierung der Adrenalinsekretion führt. Etwas zeitversetzt folgt dann der gegenteilige Prozess, der einen Ausgleich für die extreme Anspannung herbeiführt. Das geschieht durch eine starke Euphorisierung durch die Ausschüttung von Dopamin und anderen Botenstoffen (Beta-Endorphine). Der Neurotransmitter sorgt auch dafür, dass man eine hohe Motivation entwickelt, die euphorisierende Wirkung wiederholen zu wollen.

Alex Honnold scheint die Schwelle, wann ein Gefühl der Angst einsetzt, durch langsames Herantasten an die Gefahr und tausendfache Wiederholung von Kletterrouten mit steigendem Risiko unvorstellbar weit hinausgeschoben zu haben. Dr. Jane E. Joseph, Professorin am Institut für Neurowissenschaften der Medical University of South Carolina (USA), führte die Gehirn-Scans von Honnold durch und wertete sie aus. Sie vermutet, dass die verwendeten Stimuli für ihn – im Gegensatz zu der direkten HSS-Kontrollperson und allen Personen, die sie jemals getestet hat – zu schwach waren, um eine Reaktion der Amygdala hervorzurufen. Es bleibt ihm zu wünschen, dass er seine persönliche, magische Grenze nie überschreiten wird.

Hutterer C

Quellen:

  1. Messner R. Alleingang am Nanga Parbat. Droemer Knaur; 1980: 11

  2. MacKinnon J.B. The strange brain of the world’s greatest solo climber. http://nautil.us/issue/39/sport/the-strange-brain-of-the-worlds-greatest-solo-climber