Die Bedeutung von Sport für Kinder und Jugendliche mit ADHS

Die Bedeutung von Sport für Kinder und Jugendliche mit ADHS
© Viacheslav Yakobchuk / Adobe Stock

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung, kurz ADHS, ist charakterisiert durch die Leitsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Zudem sind motorische Fähigkeiten und körperliche Fitness bei betroffenen Kindern und Jugendlichen häufig geringer als bei gesunden Vergleichsgruppen. Beeinträchtigt sind vor allem die Exekutivfunktionen, also kognitive Fähigkeiten, die für die Kontrolle und Selbstregulierung des Verhaltens erforderlich sind. Dazu zählen das Planen von Aktivitäten, Entscheidungen treffen, das Verwerten von Feedback, das Handeln entgegen der Gewohnheit, das Arbeitsgedächtnis und die mentale Flexibilität. Mit einer Prävalenz von 4,4 Prozent in Deutschland und 5,3 Prozent weltweit ist sie die häufigste psychiatrische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Jungen sind viermal häufiger betroffen als Mädchen, bei denen die Erkrankung öfter ohne die Hyperaktivität auftritt (ADS). Der Leidensdruck ist individuell sehr verschieden. Manche Betroffene fühlen sich kaum eingeschränkt, andere sind in Schule und Sozialleben stark beeinträchtigt. Für diese Kinder und Jugendlichen ist eine Behandlung von großer Bedeutung.

Herausforderungen im Alltag: ADHS und soziale Ausgrenzung

Abhängig vom Symptombild, dem Schweregrad der Erkrankung, der Art der Begleitstörungen und dem Ausmaß der Beeinträchtigung im täglichen Leben werden verschiedene Bausteine zu einem multimodalen Behandlungskonzept zusammengefügt. Psychosoziale, pädagogische, psychotherapeutische und medikamentöse Maßnahmen werden individuell kombiniert. Das führt bei betroffenen Kindern und Jugendlichen und deren Familien zu guten Effekten, ist allerdings zeitaufwändig.

Auf dem Papier betrachtet, klingt das alles ziemlich nüchtern, doch die Realität der Kinder und Familien sieht häufig anders aus. Die Kinder ecken aufgrund ihrer Impulsivität und teilweise unangemessenen Reaktionen an, wirken schusselig und desinteressiert, sind kaum zu bändigen – hyperaktiv eben. Die amtierende Weltmeisterin und Vierte der Olympischen Spiele 2024 über 100 m Schmetterling, Angelique Köhler, 23, bekam ihre ADHS-Diagnose erst vor eineinhalb Jahren. Sie sagte gegenüber dem Fokus: »Ich habe mich ein Leben lang dafür verurteilt, dass ich viele Sachen, die andere super schaffen, überhaupt nicht hinkriege. Das drückt natürlich ganz schön auf das Selbstwertgefühl.« Sie berichtete über Mobbing in ihrer Jugend und ist damit nicht allein. Wegen des störenden und sozial inkompatiblen Verhaltens werden betroffene Kinder und Jugendliche aus Gruppen ausgeschlossen oder gemieden. Eine Diagnose kann ihnen und ihren Familien daher Erleichterung bringen und den Weg für eine individuelle Therapie ebnen.

Vergleich von Sportarten: Welche Aktivitäten wirken am besten?

Was läge näher, als hyperaktive Kinder durch Sport auszulasten? In den letzten Jahren wurden einige Studien gemacht, um die klinischen Wirkungen von Sport und körperlicher Aktivität auf die ADHS-Symp­tomatik zu untersuchen. Es zeigte sich, dass es fast egal ist, welches Setting man wählt. Die positiven Effekte sind vielfältig und können durch verschiedenste Bewegungsarten erzielt werden; in bisherigen Untersuchungen waren dies beispielsweise Yoga, Leichtathletik, Tai Chi, Ballspiele, therapeutische Eurythmie, aerobe Belastungsformen und Hochintensives Intervalltraining (HIIT) (1). Auf neurophysiologischer Ebene bessern sich alle Leitsymptome: Impulsivität und Aggressionsniveau nehmen ab, während sich Selbstkontrolle, Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit, Konzentration und schulische Leistungen verbessern. Im motorischen Spektrum profitieren die Kinder, wenig überraschend, von verbesserter Koordination, Ausdauer und Kraft. Im psychosozialen Bereich verbessern sich die sozialen Fertigkeiten, darunter insbesondere die Kooperationsfähigkeit, während Ängste und Depressionen sowie insgesamt die Anzahl und das Ausmaß sozialer Probleme abnehmen (u. a. 5, 6).

Aktuell wird in einigen Studien untersucht, welche Aktivität in welcher Frequenz und Intensität am besten wirkt. Denn tatsächlich zeigen sich Unterschiede. Qiu und Kollegen (5) analysierten die unterschiedlichen Effekte von open skill versus closed skill exercises. Erstere sind Sportarten mit unvorhersagbarer Umgebung, bei denen aktive Entscheidungen getroffen werden müssen, also etwa Tennis, Basketball oder Boxen. Letztere sind Disziplinen mit Bewegungen, die festgelegten Mustern folgen und die selbstbestimmt durchgeführt werden, wie Laufen, Schwimmen, Radfahren oder Klettern. Beide Formen führten zu signifikanten Verbesserungen der Exekutivfunktionen, unter anderem der inhibitorischen Kontrolle, der kognitiven Flexibilität und des Arbeitsgedächtnisses. Doch bei open skill Sportarten zeigten sich die Effekte noch ausgeprägter. Ebenso gibt es Untersuchungen zu aeroben Aktivitäten, die laut Hypothese die Sauerstoffversorgung des Gehirns verbessern und das zerebrale Blutvolumen erhöhen könnten (7).

HIIT als wirksame Ergänzung zur Standardtherapie

In letzter Zeit wurden vermehrt Studien zum Hochintensiven Intervalltraining (HIIT) angestellt. HIIT, also kurze Belastungen mit einer Intensität von mindestens 90 Prozent der V˙O2max, mögen für Erwachsene vielleicht eine Überwindung erfordern – für Kinder ist diese Art der Bewegung natürlich. Noch fehlen umfangreiche Untersuchungen mit vielen Teilnehmenden und aussagekräftige Interventionsstudien über einen längeren Zeitraum. Doch die bisherigen Studien geben klare Hinweise, dass HIIT für Kinder mit ADHS eine effektive Methode ist, um die Symptomatik zu verbessern (4).

Prof. Dr. Friederike Meßler forscht über Bewegungs- und Gesundheitsförderung in der Kindheit an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf. Sie und ihre Kollegen verglichen in einer Studie Kinder mit ADHS-Diagnose, die entweder mit multimodaler Standardtherapie oder zusätzlich mit HIIT behandelt wurden (3). Dabei zeigte sich, dass sich HIIT als Ergänzung neben der Verbesserung der motorischen Effekte vor allem günstig auf Selbstwert, Freunde, Kompetenz und das subjektive Empfinden von Aufmerksamkeit auswirkt. »Unsere Untersuchung zeigte, dass HIIT von Kindern mit ADHS gut toleriert wird. Bei einer Herzfrequenz von 95 Prozent der maximalen Herzfrequenz und einem Wechsel von vier Minuten Belastung und vier Minuten Regeneration stellten sich die Effekte ein. Außerdem ist diese Form der Aktivität zeitlich gut in den Tagesablauf integrierbar«, erklärt Prof. Meßler.

Offenbar spielt aber nicht nur die Intensität der Aktivität eine Rolle. Prof. Meßler konnte auch zeigen, dass besonders Bewegung draußen im – Wortsinne – Grünen vielfältige Verbesserungen bringt. »Wir haben Bewegung indoor und outdoor miteinander verglichen. Die 7- bis 13-jährigen Jungen nahmen zweimal wöchentlich an einem 90 Minuten dauernden Programm mit moderater Intensität unter Leitung von Sportwissenschaftlern teil, die Erfahrung im Umgang mit von ADHS-betroffenen Kindern hatten. Aus Sicht der Kinder war die Lebensqualität nach dem Outdoorprogramm am höchsten. Auch die Eltern beurteilten die Lebensqualität als positiver, sagt Prof. Meßler. Der Anteil an weiteren Freizeitaktivitäten stieg im Verlauf der ein Jahr andauernden Untersuchung von 33,3 auf 50 Prozent, was für eine Verbesserung der sozialen Fähigkeiten sprechen könnte (2).

Herausforderungen bei der Imple­men­tierung von Sport in den Alltag von jungen ADHS-Patienten

Sport und Bewegung kann also in jeder Variante günstige Effekte auf das klinische Bild einer ADHS-Erkrankung haben und auch die Lebensqualität günstig beeinflussen. Es stellt sich allerdings die Frage, wie die Einbindung von Sport in den Alltag möglichst gut gelingen kann. Denn Prof. Meßler betont im Gespräch, dass eine geschulte Betreuung im Schul- und Vereinssport wichtig ist oder die Betreuenden zumindest von der ADHS-Symp­tomatik in Kenntnis gesetzt werden: »Selbst unter Medikation können Kinder nicht direkt ihre Verhaltensweisen einfach umstellen. Niemand kann das. Somit bleibt zunächst oft die Problematik von Impulsivität und aggressiven Verhaltensweisen in Konfliktsituationen bestehen. Die Kinder werden dann von Lehrern oder Trainern eher bestraft als Gleichaltrige ohne ADHS. Das ist im Schulsport-Kontext oder in einem Sportverein mit häufig ehrenamtlichen Trainern ohne medizinischen Hintergrund verständlich, hilft den Kindern aber nicht dabei, Emotionskontrolle und Frustrationstoleranz zu verbessern. Dazu braucht es qualifizierte Betreuung.«

In Kliniken arbeiten Sport- und Physiotherapeuten, die Erfahrung mit ADHS haben und die Entwicklung so unterstützen können. Doch im niedergelassenen und ambulanten Bereich fehlen solche Gruppen. »Mein Wunsch wären Sportgruppen für psychisch beeinträchtigte oder auffällige Kinder und Jugendliche. Denn dort fühlen sie sich häufig gut aufgehoben, weil sie wissen, dass jedes Kind aus einem bestimmten Grund dabei ist und sie ausnahmsweise mal nichts Besonderes sind. Bei Herz- oder Adipositas-Sportgruppen sind wir schon so weit«, sagt Prof. Meßler. Doch leider sind Sportangebote aufgrund der fehlenden Evidenzbasierung noch kein Standard, auch wenn sie Betroffenen helfen können. Für zuverlässige Aussagen sind die Stichproben bei Sportstudien mit Kindern oft zu klein. Es ist also noch ein weiter Weg, bis Sport Einzug in die Standardtherapie hält. Ein wichtiger Schritt wäre, ihn als wichtiges Therapieelement in die ADHS-S3-Leitlinie aufzunehmen. Unterschiedliche Formen von Sport und körperlicher Aktivität verbessern das Selbstwertgefühl, die körperliche Leistungsfähigkeit, motorische Skills und dazu die Leit- und Begleitsymptome einer juvenilen ADHS-Erkrankung. Schon jetzt sollte Eltern und Kindern empfohlen werden, Sport regelmäßig in den Alltag zu integrieren.

Noch ist nicht ausreichend untersucht, ob und wie stark möglicherweise die Medikation reduziert werden kann, wenn Sport als Therapeutikum eingesetzt wird. Prof. Meßler sagt: »Kinder mit ADHS nehmen häufig jahrelang Medikamente. Wenn Sport die Möglichkeit bietet, die Medikation zu verringern, wäre das toll. Nicht nur, um die Einnahme und Nebenwirkungen allgemein zu verringern, sondern auch, weil einige Kinder äußern, dass sie unter der Medikation ‚anders sind‘, als sie es eigentlich sind, und dies nicht mögen.«

Prof. Dr. Friederike Meßler, Sportwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Bewegungs- und Gesundheitsförderung in der Kindheit, Fliedner Fachhochschule Düsseldorf.
Prof. Dr. Friederike Meßler, Sportwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Bewegungs- und Gesundheitsförderung in der Kindheit, Fliedner Fachhochschule Düsseldorf. © Meßler

■ Hutterer C

Ähnliche Beiträge zum Thema finden Sie weiter unten!

Quellen:

  1. Meßler CF. Effects of physical activities in children with attention deficit hyperactivity disorder (ADHD) with reference to high intensity interval training as an innovative therapeutic approach. Bewegungstherapie und Gesundheitssport. 2019; 35: 88-92. doi:10.1055/a-0860-2053

  2. Meßler CF. Zur Bedeutung erlebnisorientierter Interventionen von Kindern mit ADHS. In: Bous B, Hildann J, Scholz M (Hrsg.). Draußen Lernen: Handlungsorientierte Bildungsprojekte. Ziel Verlag, 2020; 164-175.

  3. Meßler CF, Holmberg HC, Sperlich B. Multimodal Therapy Involving High-Intensity Interval Training Improves the Physical Fitness, Motor Skills, Social Behavior, and Quality of Life of Boys With ADHD: A Randomized Controlled Study. J Atten Disord. 2018; 22: 806-812. doi:10.1177/1087054716636936

  4. Poon ET, Wongpipit W, Sun F, Tse AC, Sit CH. High-intensity interval training in children and adolescents with special educational needs: a systematic review and narrative synthesis. Int J Behav Nutr Phys Act. 2023; 20: 13. doi:10.1186/s12966-023-01421-5

  5. Qiu C, Zhai Q, Chen S. Effects of Practicing Closed- vs. Open-Skill Exercises on Executive Functions in Individuals with Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD) - A Meta-Analysis and Systematic Review. Behav Sci (Basel). 2024; 14: 499. doi:10.3390/bs14060499

  6. Sañudo B, Sánchez-Oliver AJ, Fernández-Gavira J, Gaser D, Stöcker N, Peralta M, Marques A, Papakonstantinou S, Nicolini C, Sitzberger C. Physical and Psychosocial Benefits of Sports Participation Among Children and Adolescents with Chronic Diseases: A Systematic Review. Sports Med Open. 2024; 10: 54. doi:10.1186/s40798-024-00722-8

  7. Yang G, Liu Q, Wang W, Liu W, Li J. Effect of aerobic exercise on the improvement of executive function in children with attention deficit hyperactivity disorder: a systematic review and meta-analysis. Front Psychol. 2024; 15: 1376354. doi:10.3389/fpsyg.2024.1376354