Problemzone Iliosakralgelenk: Wenn die »heilige Mitte« schmerzt

Problemzone Iliosakralgelenk: Wenn die »heilige Mitte« schmerzt
© Sebastian Kaulitzki / fotolia

Das Iliosakralgelenk (ISG) ist in Sportmediziner- und Orthopädenkreisen viel zitiert. Dabei ist der Begriff Gelenk fast übertrieben: Straffe Bandverbindungen limitieren den Bewegungsumfang der Ampiarthrose, die Kreuz- und Darmbein verbindet, auf gerade mal zwei bis vier Grad. Da es aber eine entscheidende Rolle bei der Kraftübertragung zwischen Rumpf und Beinen spielt, können ISG-Blockaden oder entzündliche Geschehen einen Athleten ganz schön ausbremsen.

Im gesunden Zustand erledigt das Kreuzdarmbeingelenk seine kraftübertragenden Aufgaben mit Bravour. Die passive »form closure«, bedingt durch die besondere Ausformung des Gelenks und seinen extrem stabilen Bandapparat, kooperiert gut mit der aktiv muskulär dirigierten »force closure« (6). Doch mit zunehmendem Alter werden die Gelenkflächen unebener, die ligamentäre Stabilität lässt nach und das Risiko für Beschwerden steigt – besonders bei unphysiologischer Belastung im Sport.

»Alle Sportarten, in denen verschiedene Bewegungsebenen, plötzliche Stopps und harte Landungen involviert sind, belasten zwangsläufig das ISG. Deshalb haben wir bei uns in der Praxis oft Athleten aus High-Impact-Sportarten wie Tennis, Squash, Handball, Fußball, Skifahren und Hockey«, berichtet der Osteopath, Sport- und Bewegungstherapeut Jörg Mayer, der z. B. den Deutschen Olympischen Sportbund als Sportphysiotherapeut unterstützt.

Bild Jörg Mayer
Jörg Mayer, DOSB Sportphysiotherapeut, Osteopath und Sport- und Bewegungs­therapeut © Mayer J

Der Leiter der Sportorthopädie-Sprechstunde am Universitätsklinikum Ulm, Mickel Washington, kennt das Phänomen ebenfalls von Ruderern und anderen Athleten: »Durch die Ruderbewegung im Boot verkürzen sich typischerweise die Hüftbeuger sowie die Ischiocru­ralmuskulatur, welche daraufhin keinen ausreichenden Gegenzug mehr ausüben können. Das ISG von Handballern hingegen gerät im Zweikampf wegen der vielen azyklischen Stopps bei gleichzeitiger Rotation im unteren LWS-Bereich in Gefahr. Und im Fußball sind plötzliche Beckenverkippungen schuld, wenn das ISG ,verriegelt‘.« Als begünstigende Faktoren nennt er eine vorliegende Skoliose, vor allem mit Hyperlordose, Bein- und Fußfehlstellungen sowie echte Beinlängendifferenzen ab ca. drei Zentimeter. Frauen in der Schwangerschaft stellen eine weitere Risikogruppe dar, da die stützenden beckennahen Bandstrukturen unter der hormonellen Veränderung erweichen.

Mickel Washington, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sportmedizin, Chirotherapie, Leiter der Sportorthopädie-Sprechstunde der Sektion Sport- und Rehabilitationsmedizin Ulm
Mickel Washington, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sportmedizin, Chirotherapie, Leiter der Sportorthopädie-Sprechstunde der Sektion Sport- und Rehabilitationsmedizin Ulm © Washington
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ISG-Blockaden – sind es wirklich Blockaden?

Plötzlich auftretende lokale, ausstrahlende Schmerzen in der hinteren Beckenregion führen Sportler oft selbst zur Diagnose »ISG-Blockade«. Tatsächlich kann sich der schmale Gelenkspalt zwischen Sakrum und Ilium bei ruckartigen Rotations- oder Abbremsbewegungen so verschieben, dass ein reibungsloses Aneinandervorbeigleiten der Knorpelflächen nicht mehr erfolgt (1). Als Konsequenz sind Bewegungsabläufe von stechenden Schmerzen begleitet und manchmal gar nicht mehr möglich. Mancher Patient kommt dann mit der Erwartung in die Praxis, dass ein schlichtes »Einrenken« das Problem schon beheben werde. »Hier ist Vorsicht angebracht«, warnt Mickel Washington. »Denn natürlich kann man eine echte Blockade manualtherapeutisch lösen – auch mehrfach hintereinander, ohne dass es ausleiert, wie manche befürchten. Aber wenn dann doch ein entzündliches Geschehen oder ein Bandscheibenschaden dahintersteckt, kann man einiges kaputtmachen – und natürlich kehrt das Problem binnen kürzester Zeit zurück. Allzu ähnlich können die Symptome etwa bei Bandscheibenvorfällen im LWS-Bereich, einem Facetten- oder Piriformissyndrom, einer Sakroiliitis, einer Spinalkanalstenose oder Ischialgien sein. Ältere Patienten missverstehen manchmal eine Coxarthrose als ISG-Blockade, und nicht selten verursacht auch Morbus Bechterew ISG-Beschwerden. Deshalb ist eine gründliche Differenzialdiagnostik unabdingbar.«

Die Diagnose-Bausteine

Der Ulmer Sportorthopäde verwendet zur Diagnose von ISG-Beschwerden ein Set von bis zu fünf spezifischen Tests, darunter die Palpation des Sell-Irritationspunkts S1, die Mennell-Zeichen und die Bestimmung der freien Richtung. Zur Feststellung einer etwaigen Hypermobilität des ISG setzt er unter anderem auf die Klassiker Spine- und Vorlauftest. »Einen echten Goldstandard für die Diagnostik gibt es jedoch nicht und die entsprechende Leitlinie stammt aus dem Jahr 2008 (5).«

Zwar bemängeln Kritiker der Palpations-, Schmerzprovokations- und Bewegungstests die vielen potenziell ergebnisverfälschenden Faktoren: Unterschiedliche Expertise der Testenden sowie die subjektive Beurteilung von Schmerzgraden und palpatorischen Eindrücken haben großen Einfluss auf die Diagnose (3). »Trotzdem zeigt unsere Erfahrung: Sind mindestens drei der Tests positiv, kann man fast sicher von einer ISG-Beteiligung ausgehen.« Entzündliche, schwer degenerative und traumatische Ursachen wie etwa eine Sakroiliitis, Bandscheibenvorfälle oder Arthrosen am Facettengelenk müssen zusätzlich per Röntgen, CT oder MRT ausgeschlossen werden, um dem Therapeuten Sicherheit für die anschließende Behandlung zu geben. »Eine ISG-Blockade hingegen hat noch nie jemand auf einem Bild gesehen, für sie gibt es einfach kein pathomorphologisches Korrelat. Deshalb halten auch wir uns an das funktionstechnische Befundcluster der derzeit gültigen Leitlinie«, erklärt Jörg Mayer.

Diagnostischer Block – sinnvoll oder nicht?

Beim sogenannten diagnostischen Block wird bei ein oder zwei Terminen unter fluoroskopischer Kontrolle ein Lokalanästhetikum, meist gekoppelt mit einem Kortikosteroid, im schmerzhaften Gelenkspalt des ISG oder in seine seitlichen Nervenäste appliziert. Ist der Schmerz anschließend signifikant reduziert, geht man von einer ISG-Dysfunktion aus. Diese Methode erfordert jedoch extrem viel Erfahrung und ist in Sportmedizinerkreisen heiß diskutiert, weil sie relativ häufig falschnegative oder schwammige Befunde liefert. Grund dafür ist das Fehlen eines subjektiven Schmerz-Referenzstandards, die Möglichkeit anderweitiger Schmerzherkunft, die ungewollte Verteilung des Anästhetikums in umgebende Gewebe und sogar die psychologische Tagesform des Patienten (2). Auch Mickel Washington setzt diagnostische Blocks bei ISG-Beschwerden eher sparsam ein: »Sinnvoller sind sie etwa zur begleitenden Behandlung eines Piriformissyndroms, akuter Sakroiliitis sowie von Sehnenansatzentzündungen und Knorpelschäden. Hier kann man dann zum Beispiel auch mit Autolog Conditioniertem Plasma (ACP) arbeiten. Ein instabiles ISG erkennt und erreicht man anders besser.«

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Mobilisieren, Manipulieren, Kräftigen

Jörg Mayer hat in seiner physiotherapeutischen Praxis viel Erfahrung mit ISG-­Beschwerden jeglicher Genese. »Neben einmaligen Blockaden sind vor allem ISG-Instabilitäten häufig, die als eigentliche Ursache für wiederkehrende Blockierungen ganz anders behandelt werden müssen. Das Motto lautet immer ,Mobilisieren und Stabilisieren’! Gute Therapie richtet ja nicht nur, was kaputt ist, sondern berichtigt die grundlegende Ursache. Bei wiederkehrenden ISG-Schmerzen muss zunächst eine gute Core-Stabilität her, um die umgebenden Strukturen zu kräftigen – das ist ja nie ein völlig singuläres Problem. Echte Beinlängendifferenzen müssen durch individuell angepasste Einlagen ausgeglichen werden. Akute Befunde werden vom verordnenden Arzt adjuvant mit NSAR, Akupunktur und/oder Stoßwellentherapie behandelt und im Einzelfall unterspritzt, z. B. mit Traumeel. Hier in der Praxis kommen je nach Beschwerdebild zusätzlich TENS, Kinesio­taping oder Fango zum Einsatz.

Zu entlastenden, stabilisierenden Beckenorthesen haben beide Experten die gleiche Einstellung: »Natürlich ist das Tragen einer solchen Orthese sehr angenehm und in der hochakuten Phase temporär auch angebracht. Aber bei chronisch instabilem ISG wäre es absolut kontraproduktiv, die alltägliche Haltearbeit an eine Orthese abzugeben.«, warnt Mickel Washington. Jörg Mayer geht bezüglich der Trainings-Wiederaufnahme sogar noch weiter: »Konsequenterweise muss man eigentlich sagen, wenn ein Sport nur mit passiver Unterstützung erträglich ist, ist der Körper noch nicht soweit. Dann muss der Athlet erst noch weiter an seiner Eigenstabilität arbeiten.«

Iliosakralgelenk, Mobilisationsbehandlung des Rumpfes
Mobilisationsbehandlung des Rumpfes © Washington M

Wie lange muss pausiert werden?

»Eigentlich gar nicht, jedenfalls nicht komplett«, sagt Jörg Mayer und rät nur Athleten aus High-Impact-Sportarten zur zeitweisen Trainingspause. »Selbst akute Zustände würden von vollständiger Schonung nicht profitieren, weil ja immer eine ganze Funktionskette nach oben und unten mit dranhängt. Wenig belastende Bewegungen wie Spazierengehen, Radfahren oder Schwimmen sollten deshalb bis zur Schmerzgrenze beibehalten oder neu aufgenommen werden. Heftig in den Schmerz hineintrainieren würde ich nicht.«

Mickel Washingtons Empfehlung sieht ähnlich aus. Er verordnet lediglich bei hochakuten Entzündungssituationen wie z. B. einer Sakroiliitis sechs bis acht Wochen Sportpause bei vorsichtiger Mobilisierung und Physiotherapie, begleitet von entzündungshemmenden NSAR. Käme außerdem ein Kortisonschema zum Einsatz, warnt er, sei an die Dopingvorgaben zu denken.

Prävention muss sein

Sind alle potenziellen Sekundärauslöser des ISG-Schmerzes ausgeschlossen und die akute Phase überstanden, können Athleten viel tun, um Rückfälle zu vermeiden. So sollte das Training für Sportarten, die mit einseitigen Belastungen, ver­mehrter lumbaler Flexion und harten Stopps einhergehen, unbedingt entsprechende Ausgleichsbewegungen beinhalten. »Eine einseitige Spezialisierung in der jeweiligen Sportart führt zu muskulären Dysbalancen, die ein Blockierungsgeschehen begünstigen. Deshalb empfehle ich dringend die Durchführung von Ausgleichssport. Bei einem leistungsorientierten Handballer wäre das beispielsweise Leichtathletik oder Schwimmen«, appelliert Mickel Washington. »Selbst gern gegen ISG-Beschwerden empfohlenen Bewegungsarten wie Bauchtanz fehlt die stabilisierende Komponente. Es muss in die Köpfe hinein, dass es mit reiner Mobilisierung eben nicht getan ist.«, ergänzt Jörg Mayer und äußert passend dazu den Wunsch, dass die Sportwissenschaft endlich konsequent Funktionszusammenhänge mit anderen Körperbereichen herstellt: »Mit einer logischen funktionsanalytischen Kaskade wäre der Behandlung von ISG-Beschwerden sehr geholfen.« Aktuelle Studien geben ihm hier recht (4).

Fazit: Der einzig wahre Diagnostik- und Behandlungsweg bei ISG-Beschwerden muss erst noch gefunden werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Sportorthopädie, Radiologie und Physiotherapie ist hier essenziell. Eine entsprechende Leitlinie, die aktuelle Forschungsergebnisse berücksichtigt, wäre für alle Beteiligten eine wertvolle Hilfe.

■ Kura L

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Quellen:

  1. Institut für angewandte Osteopathie (IFAO), Bitburg: Skript 1 – Das Becken. 2016. https://docplayer.org/59457449-Skript-1-das-becken-1.html [abgerufen am 25.03.2019]

  2. King W, Ahmed SU, Baisden J, Patel N, Kennedy DJ, Dusynsky B, MacVicar J. Diagnosis and Treatment of Posterior Sacroiliac Complex Pain: A Systematic Review with Comprehensive Analysis of the Published Data. Pain Med 2015; 16: 257–265. doi:10.1111/pme.12630

  3. Laslett M. Evidence-based diagnosis and treatment of the painful sacroiliac joint. J Man Manip Ther. 2008; 16: 142-152.

  4. Vleeming A, Albert HB, Östgaard HC, Sturesson B, Stuge B. European guidelines for the diagnosis and treatment of pelvic girdle pain. Eur Spine J. 2008; 17: 794–819. doi:10.1007/s00586-008-0602-4

  5. Vleeming A, Schuenke MD, Masi AT, Carreiro JE, Danneels L, Willard FH. The sacroiliac joint: an overview of its anatomy, function and potential clinical implications. J Anat. 2012; 221: 537–567. doi:10.1111/j.1469-7580.2012.01564.x