Pro und Contra Kinesiotaping: Was können die bunten Pflaster?

Pro und Contra Kinesiotaping: Was können die bunten Pflaster?
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Ende der 1970er-Jahre entwickelte der chinesische Arzt und Heilpraktiker Kenzo Kase die Kinesiotaping-Methode. Wo Tapeverbände bislang nur passiv-stabilisierend eingesetzt wurden, sah er die Chance, Muskulatur und Gelenke aktiv in ihrer Funktion zu unterstützen und Heilungsprozesse zu steuern. Heute sind die farbigen Pflasterstreifen aus der Sportmedizin kaum mehr wegzudenken – und vor allem im Profisport ein viel eingesetztes Mittel zur Rehabilitation nach Verletzungen, Verbesserung des Lymphabflusses sowie Förderung der Beweglichkeit. Der Wirkmechanismus des Kinesio­tapes ist bis heute nicht zu 100 Prozent wissenschaftlich geklärt, was vielleicht die Zurückhaltung mancher Kollegen bei der Anwendung erklärt. Sicher ist, dass die Haut als größtes Reflexorgan durchaus einen Kontakt zu tiefer gelegenen Muskelschichten herstellen kann, vor allem über die schnell adaptierenden Meissner-Körperchen in der Leistenhaut und die langsam adaptierenden Merkel-Tastscheiben in der unteren Epidermis. Als spezialisierte Mechanorezeptoren senden sie bei jeder Bewegung Informationen über Druck- und Vibrationsveränderungen am beklebten Körper­areal an das Gehirn. Derart mit gezielt gesetzten Reizen versorgt, kann dieses nun ebenfalls gezielt an der muskulären Unterstützung des betroffenen Gelenks oder Muskels arbeiten – die Propriozeptivität wird signifikant verbessert. Subjektive Schmerzlinderung resultiert offenbar darin, dass solche Hautreize schneller über dasselbe Tor (Hinterhorn) im Rückenmark landen als der Schmerzreiz. Alles Ansichtssache? Die DZSM betrachtet Pro- und Contra-Stimmen zum Thema Kinesiotaping.

Pro Kinesiotaping

Rainer Sieven, Physiotherapeut, Dipl.-Sportlehrer, Lehrstabsmitglied und Referent Deutscher Olympischer Sportbund

Aus guten Gründen hat sich Kinesiotaping in den letzten Jahren durchgesetzt, nicht zuletzt wegen der guten Therapieerfolge im Leistungssport. Wenige, aber signifikante Forschungsergebnisse belegen mittlerweile die Wirkung bei Schmerzreduktion, Beweglichkeitsverbesserung und Entstauung. Auch bei anderen Beschwerden erzielt die Methode hervorragende Ergebnisse – nur eben ohne wissenschaftlichen »Segen«. Das maßvoll elastische Baumwolltape mit rückseitig sinusförmig aufgebrachtem Kleber soll über Hautverschiebung und propriozeptive Stimulation wirken; Tapes zur Faszien-Behandlung haben spezifische Lochmuster. Werden unterschiedlich große Flächen beklebt, können wir von einer differenzierten Reizung der Behandlungsareale ausgehen. In der Sportphysiotherapie steigern Tapeanlagen auch die sensomotorische Leistung – mit messbarem Anstieg des EMG-Signals in den ersten 24 Stunden, was auf aktive Stabilität, vermehrte Muskelaktivität und möglicherweise Tonusregulierung hinweist. Alles in allem begeistern mich die Möglichkeiten der Methode sehr. (Weiter im Text auf der nächsten Seite)

Rainer Sieven, Physiotherapeut, Dipl.-Sportlehrer, Lehrstabsmitglied und Referent Deutscher Olympischer Sportbund
Rainer Sieven, Physiotherapeut, Dipl.-Sportlehrer, Lehrstabsmitglied und Referent Deutscher Olympischer Sportbund © Sieven
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Contra Kinesiotaping

Prof. Dr. med. Holger Schmitt, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie spezielle orthopädische Chirurgie und Rheumatologie im Deutschen Gelenkzentrum Heidelberg, ATOS Klinik

Ich kann eigentlich nicht grundsätzlich gegen Kinesiotaping sprechen. Nicht umsonst schwören viele Kollegen geradezu darauf. Allerdings macht mir als Mediziner die noch immer dünne Studienlage zu schaffen. Für keine der empfohlenen Indikationen sind mir kontrollierte Studien bekannt, die die Evidenz greifbar untermauern könnten – was natürlich an der enormen Empfindungssubjektivität im Heilungsprozess liegt. Der Placeboeffekt ist ebenfalls nicht zu unterschätzen und es fällt mir ehrlich gesagt schwer, an verschiedene Wirkungen verschieden gefärbter Tapes zu glauben. Die größte Schwierigkeit sehe ich jedoch darin, dass die Methode so extrem einfach erscheint. Kinesiotapes aus dem Supermarkt, von Laien ohne jegliches anatomisches Vorwissen aufgeklebt, können in eine gefährliche Spirale aus Falsch- und Nichtbehandlung münden, in der man wichtige Zeit verliert. Fast noch kritischer sehe ich aber die Anwendung durch Therapeuten mit fehlender entsprechender Ausbildung: Bei ihnen fühlt sich der Patient sicher, ohne es vielleicht zu sein. Ein zweischneidiges Schwert!

Prof. Dr. med. Holger Schmitt, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie
Prof. Dr. med. Holger Schmitt, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie spezielle orthopädische Chirurgie und Rheumatologie im Deutschen Gelenkzentrum Heidelberg, ATOS Klinik © Schmitt
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