Gesundheitsförderung – eine Vision und Aufgabe für die nächsten 10 Jahre

Die beiden Wissenschaftlerinnen Dr. biol. hum. Susanne Kobel und Dr. biol. hum. Olivia Wartha beleuchten in ihrem Editorial für die Ausgabe #04/2020 der DZSM die aktuelle Gesundheitsförderung in Deutschland und zeigen auf, was getan werden muss, um die Herausforderungen der kommenden Jahre zu meistern.

Gesundheitsförderung – eine Vision und Aufgabe für die nächsten 10 Jahre
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In Deutschland besteht eine dringende Notwendigkeit von allgemeiner Prävention und Gesundheitsförderung. Vergleicht man Deutschland mit anderen westeuropäischen Ländern, so wird deutlich, dass die Lebenserwartung in Deutschland in den letzten 30 Jahren zwar gestiegen ist, dennoch findet sich Deutschland an letzter Stelle aller westeuropäischen Länder (5). Auch dem Aufruf der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (10), dass alle Länder nationale Strategie- und Umsetzungspläne für körperliche Aktivität entwickeln, kam Deutschland als eines der letzten westlichen Länder nach.

Aktueller Stand

In der Gesundheitsförderung kommt der Bewegungsförderung eine besondere Bedeutung zu, da diese in mannigfaltiger Weise die Gesundheit von Menschen jeden Lebensalters unterstützt. Die Prävalenz von körperlicher Inaktivität ist in der deutschen Bevölkerung hoch (3) und die meisten Menschen erreichen nicht die von der WHO empfohlenen Bewegungsrichtlinie von mind. 150 Minuten pro Woche (3). Zwar gibt es in Deutschland eine Vielzahl von Initiativen und Kampagnen zur Prävention und Bewegungsförderung (2), jedoch sind viele davon nicht evaluiert, nicht flächendeckend verfügbar oder der breiten Öffentlichkeit überhaupt bekannt. Um Maßnahmen zur Bewegungsförderung zu unterstützen und zu realisieren, müssen sich die Rolle, das Verständnis und die Bedeutung von Prävention deutlich ändern.

Deutschland braucht eine gesellschaftliche Diskussion, in welcher Prävention, Gesundheitsförderung und Vorsorge (im speziellen Bewegungsförderung) in den öffentlichen Fokus rückt und Bürger bei der Umsetzung und Verbreitung unterstützt. Hierbei sind sowohl Primärprävention, als auch Sekundär- und Tertiärprävention essentiell. Dass die deutsche Gesellschaft immer älter und diverser wird, Mediennutzung und (mit ihr) sedentäre Verhaltensweise stetig zunehmen, bieten auch Chancen: Die medialen Möglichkeiten, um fast alle Bevölkerungsschichten zu erreichen, steigen kontinuierlich, Themen können einfacher denn je auf die mediale Agenda gesetzt und damit in das Bewusstsein der Menschen aufgenommen werden. Damit diese Themen jedoch verstetigt werden und die Lebenswelten positiv beeinflussen, sind weitere Maßnahmen notwendig.

 

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Dr. biol.hum. Susanne Kobel. Junior Editor German Journal of  Sports Medicine © Kobel
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Dr. biol.hum. Olivia Wartha © Wartha
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Blick in die Zukunft

Aber wie genau sollten gesundheitsförderliche Lebenswelten in Deutschland in der (nahen) Zukunft aussehen? Prävention und Gesundheitsvorsorge müssen für alle Bürger erlebbar und Alltag werden. Hierfür ist es wichtig, Best-Practice-Beispiele zu etablieren und flächendeckend umzusetzen (2). Praxisnahe Konzepte müssen partizipativ erarbeitet, realisiert und etabliert werden. Prävention muss im Alltag verankert werden und direkt bei den Bürgern ankommen; denn nur Programme und Konzepte, die bekannt sind, können genutzt werden und nur was genutzt wird, kann Erfolge erzielen. Gesundheitsförderung muss konkret werden. Dazu zählt auch das aus den USA kommende Konzept von „Exercise is medicine“, bei welchem (Haus-)Ärzte die Frage nach der regelmäßigen körperlichen Aktivität ihrer Patienten in jeden Besuch integrieren, darauf eingehen und Bewegung verschreiben.

Viele Determinanten von Gesundheit bzw. Krankheit können aktiv verändert werden, nur ist hierfür ein umfassender Ansatz notwendig, da sich viele Determinanten wechselseitig beeinflussen. Deshalb muss jegliche Prävention und Gesundheitsförderung als ein komplexes, gesellschaftlich basiertes Konstrukt angesehen werden, welches für eine bevölkerungsweite Wirkung auf vielen Ebenen zugleich ansetzen muss. Besonders erfolgsversprechend scheinen Mehrebenen-Interventionen, bei welchen politisch-strukturelle Maßnahmen mit Beratungs- und Informationsangeboten, Öffentlichkeitsarbeit sowie der Koordination von Maßnahmen vor Ort kombiniert werden (9).

Da Gesundheits- und Bewegungsverhalten bereits in jungen Jahren geprägt werden und schwer zu ändern sind, muss besonders ein gesundes Aufwachsen durch die Kooperation verschiedener Settings bzw. Sozialisationsinstanzen unterstützt werden. Weltweit sind mehr als 80% der 11-17-Jährigen nicht ausreichend aktiv (4), in Deutschland sind es sogar 88% der Mädchen und 80% der Jungen (4). Bewegungsförderung muss daher von Beginn an im Lebensalltag integriert bzw. in verschiedenen Settings verankert sein. So müssen Eltern über die Bedeutung von Bewegung für die kindliche Entwicklung bereits bei den ersten U-Untersuchungen informiert werden und schon im Krippenalter müssen Gesundheitsförderkonzepte umgesetzt werden, welche im Kindergarten- und Schulalter weitergeführt werden. Die tägliche Sportstunde, die oft gefordert wird und z. B. in den USA etabliert ist, wo es als „Mittel“ gegen die jugendliche Inaktivität gilt, ist jedoch mit Vorsicht zu genießen. Untersuchungen in Deutschland zeigten, dass sich Kinder pro Sportstunde nicht mehr als 8,5 Minuten im von der WHO geforderten moderaten bis intensiven Bereich bewegen (6). Der aktive Schulweg hingegen kann gesundheitsförderliche Aspekte haben (7).

Dafür müssen Kommunen strukturell durch verkehrspolitische Maßnahmen wie den Ausbau der Radwege und die Bereitstellung von unkomplizierten, preiswerten Fahrradleihsystemen körperliche Bewegung realisierbar machen. Gesunde und sichere Bewegung im Alltag muss durch entsprechende Gestaltung der Lebenswelten realisiert werden. Durch Kooperation verschiedener Politik- und Gesellschaftsbereiche müssen gesundheitsförderliche Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle Bevölkerungsschichten erreicht werden, um so für gesundheitliche Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern und sozioökonomischen Gruppen, unabhängig von Alter und Herkunft, zu sorgen.

Da dies auch eine ärztliche Aufgabe ist, muss zusätzlich das Medizinstudium von den bisher fast ausschließlich kurativ geprägten Inhalten wegkommen und den präventiven Ansatz deutlich ausbauen, um dessen Bedeutung und Chancen für die Patienten stärker vermitteln. Ärzte müssen sich diesbezüglich regelmäßig fortbilden und – wie im Präventionsgesetz (8) gefordert – informiert sein, welche regionalen Möglichkeiten zur Gesundheitsförderung bestehen. Nur so ist es innerhalb der zeitlichen Ressourcen möglich, inhaltlich in der Lage zu sein, Patienten fundiert individuell passende Prävention anzubieten bzw. ihnen Werkzeuge oder Kontaktadressen an die Hand geben zu können.

Krankenkassen müssen unterdessen regelmäßige Vorsorge und Gesundheits-Checks von einem jungen Alter an anbieten und gemeinsam mit Kommune und Arbeitgebern Lebensumstände schaffen, die gesundheitsförderlich und attraktiv sind. Derzeit geben die gesetzlichen Krankenversicherungen in Deutschland nur rund drei Prozent ihres Budgets für Prävention aus (1). Kostengünstige, mediale Unterstützungssysteme müssen entwickelt, eingesetzt und betreut werden, um so Handlungsalternativen zu liefern und zu verstetigen, um die öffentliche Gesundheitskompetenz nachhaltig zu stärken.

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Wichtigkeit von evidenzbasierten Maßnahmen

All das macht deutlich, dass eine umfassende Gesundheitsförderung nur aus dem Zusammenspiel vieler unterschiedlicher Maßnahmen und Gesetzgebungen entstehen kann. Ein erstes Umdenken findet bereits statt, allerdings ist die Umsetzung noch mit großen Herausforderungen verbunden und um alle notwendigen Grundlagen zu schaffen, braucht es eine Vernetzung aller gesellschaftspolitischen Instanzen. In vielen Bereichen wird immer noch experimentiert und Ziele werden nur schleppend formuliert. Dazu braucht es mutige Entscheidungen von Seiten der Politik zusammen mit einer aktiven Bürgerbeteiligung, um neue Konzepte einer zeitgemäßen Politik zur Gesundheitsförderung in der Bevölkerung wirksam zu machen. Die WHO fordert dazu die notwendigen politischen Prioritäten und Ressourcen zuzuweisen, um eine Umsetzung von Zielen überhaupt zu ermöglichen. Um zudem eine stärkere gesundheitliche Chancengleichheit zu erreichen, ist eine zielgruppenspezifischere Ausrichtung von präventiven Angeboten von Nöten, die sich um einen breiten Dialog mit den Betroffenen bemüht.

Zusätzlich wird es intensive wissenschaftliche Begleitung und Auseinandersetzung benötigen, denn Prävention kann nur dann wirksam, umsetzbar, individuell passend und nachhaltig sein, wenn diese zuvor in Form von Studien und Programmen umfangreich evaluiert wurde. Daher muss Evidenzbasierung einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft und im wissenschaftlichen Kontext er- und beibehalten. Nur durch Finanzierung, Durchführung und Unterstützung von evaluierten, kontrollierten, evidenzbasierten Maßnahmen sind zukunftsträchtige Veränderungen möglich, deren Durchführung Sinn macht und sich für die Gesundheit zukünftiger Generationen lohnt.

■ Kobel S, Wartha O

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Quellen:

  1. Bödeker W, Moebus S. Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für Gesundheitsförderung und Prävention 2012-2017: Positive Effekte durch das Präventionsgesetz? Gesundheitswesen. 2019 [Epub ahead of print]. doi:10.1055/a-0829-6632

  2. Füzéki E, Banzer W. Bewegungsförderung aktuell – Glas halb voll oder halb leer? Dtsch Z Sportmed. 2019;70:263-264. doi:10.5960/dzsm.2019.403

  3. Guthold R, Stevens GA, Riley LM, Bull FC. Worldwide trends in insufficient physical activity from 2001 to 2016: a pooled analysis of 358 population-based surveys with 1·9 million participants. Lancet Glob Health. 2018; 6: e1077-e1086. doi:10.1016/S2214-109X(18)30357-7

  4. Guthold R, Stevens GA, Riley LM, Bull FC. Global trends in insufficient physical activity among adolescents: a pooled analysis of 29 8 population-based surveys with 1.6 million participants. Lancet Child Adolesc Health. 2020; 4: 23-35. doi:10.1016/S2352-4642(19)30323-2

  5. Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME). Findings from the Global Burden of Disease Study 2017. Seattle, WA: IHME, 2018.

  6. Kobel S, Kettner S, Erkelenz N, Kesztyüs D, Steinacker JM. Effects of physical education on objectively determined physical activity in primary school children – which proportioning is best? J Teach Phys Educ. 2015;34:537-547. doi:10.1123/jtpe.2014-0141

  7. Kobel S, Wartha O, Steinacker JM. Correlates of active transport to school in German primary school children. Dtsch Z Sportmed. 2019;70:67-74. doi:10.5960/dzsm.2019.369

  8. Präventionsgesetz – PrävG. Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention. Bundesgesetzblatt. 2015; 31: 1368-1379. Bundesanzeiger Verlag, Köln.

  9. World Health Organisation. Interventions on diet and physical activity: what works: summary report. WHO: Geneva, 2009.

  10. World Health Organisation. ACTIVE: a technical package for increasing physical activity. WHO: Geneva, 2018.