Faszien: Das neue Organ und Multitalent

Faszien: Das neue Organ und Multitalent
© Adam Gregor / fotolia

Faszien sind in aller Munde. Sie werden untersucht, behandelt, mit Akupunkturnadeln gereizt, mit Faszienrollen geknetet und seit Neuestem auch gezielt trainiert. Doch woher kommt der Hype um ein Gewebe, das ja nicht neu im menschlichen Körper ist? Zuerst einmal sollten wir genau definieren, wo­rüber wir eigentlich sprechen. Seit dem ersten internationalen Fascia Research Congress im Jahr 2007 wird ein funktionaler Faszienbegriff verwendet, im Gegensatz zu dem engeren, histologisch-anatomischen Begriff, der zuvor verbreitet war. Damit umfasst der Faszienbegriff das ganze faserige Bindegewebe, das hauptsächlich durch Zugspannung differenziert wird, also auch Sehnen, Sehnenplatten, Gelenkkapseln und das intramuskuläre Bindegewebe.

Evolution der Faszien

Begibt man sich auf die Suche, ab wann es Faszien im Tierreich gegeben hat, so werden die Antworten etwas verschwommen. Dr. Erich Weber, akademischer Oberrat und Leiter der zoologischen Schausammlung am Lehrstuhl für Vergleichende Zoologie der Universität Tübingen, erklärt, woher die Schwierigkeit kommt, eine exakte Aussage zu treffen: »Der Faszienbegriff kommt von der makroskopischen Beurteilung bei der Präparation von Tieren oder Menschen als besonders dickes, kräftiges, zugfähiges Bindegewebe. Bindegewebe gibt es bei allen Wirbeltieren, aber nicht bei allen fällt es bei der Präparation so stark ins Auge, dass man von Faszien sprechen würde.«

Doch warum erleben die Faszien seit einigen Jahren einen solchen Boom? Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen war das Gewebe früher schwer zu umreißen, da es keine gleichmäßige, zähl- und messbare Einheit bildet. Man konnte es auch kaum quantifiziert messen. Es gab zwar Therapeuten und Osteopathen, die sich mit diesen Strukturen beschäftigten, aber die Aussagen dazu waren meist nicht messbar. »Das ist nun, vor allem mit hochauflösendem Ultraschall, aber auch anderen Methoden, möglich geworden. Daher gibt es seit dem Kongress im Jahr 2007 eine geradezu ansteckende Aufbruchstimmung«, erklärt Dr. Robert Schleip, von der Fascia Research Group der Division of Neurophysiology an der Universität Ulm. Damit ist nun ein großes Forschungsgebiet entstanden, denn immerhin macht das Fasziengewebe etwa 20 Volumenprozent des Körpers aus. Doch um überhaupt zwischen »gesunden« und »ungesunden« Faszien unterscheiden zu können, braucht es Normwerte. Diese hoffen Prof. Dr. Wolfgang Kratzer von der Fascia Research Group und seine Kollegen anhand einer Normwertstudie an der Universität Ulm zu erlangen.

Robert Schleip Fascia Research Group
Robert Schleip, Fascia Research Group © Schleip
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Faszien und Schmerz

In den letzten Jahren wurde v.a. von Prof. Dr. Helene Langevin (University of Vermont) und Prof. Dr. Siegfried Mense (Universität Heidelberg) herausgefunden, dass Faszien reichhaltig innerviert sind. So unterstützen sie die Propriozeption. Daher spricht man inzwischen auch vom größten Sinnesorgan des Menschen. Faszien enthalten verschiedene Typen von sensorischen Nervenendigungen und Nozizeptoren. Nun lassen sich auch viele Schmerzzustände in anderem Licht betrachten. Besonders für die Lendenfaszie wurde inzwischen gezeigt, dass sie Überlastungsschäden wie Mikrorupturen, Hernien und entzündliche Ödeme – klassische Auslöser von Schmerz – erfahren kann. Daher ist es naheliegend, dass z.B. die Lendenfaszie eine Quelle von Schmerzen sein kann. Zudem zeigten Mense und seine Kollegen, dass faszialer Rückenschmerz dem chronischen Rückenschmerz in seiner Intensität und Qualität ähnlich ist und, im Gegensatz zu Muskelschmerzen, mit einer hohen Leidensqualität einhergeht. Was die Zuordnung und Lokalisierung der Schmerzquelle allerdings erschwert, ist die Tatsache, dass Schmerzen in der Lumbalfaszie auch dann initiiert werden können, wenn die Schmerzursache in einem anderen, angrenzenden Gewebe (z.B. Muskel) beheimatet ist. »Vieles deutet darauf hin, dass von den 80 Prozent der idiopathischen Rückenschmerzen, die nicht über die Bandscheiben erklärt werden können, wahrscheinlich ein erheblicher Teil von der Lumbalfaszie ausgeht«, erklärt der Faszienforscher Dr. Schleip.

Mensch und Känguru im Vergleich

Ein Fünftel unseres Innenlebens besteht also aus faszialem Bindegewebe, das Schmerz weiterleiten kann. Doch wofür brauchen wir es? Das fasziale Bindegewebe, das den ganzen Körper durchzieht und Muskeln und Organe umhüllt, ist dafür verantwortlich, dass der Körper seine Form behält. Selten setzen Muskeln direkt am Knochen an. Viel häufiger beginnen und enden sie an Sehnenplatten, die einerseits an mehreren Knochen oder flächig am Knochen ansetzen. Dadurch wird die Kraft, die durch einen Muskel punktuell auf den Knochen ausgeübt werden würde, von nachgiebigem Gewebe umverteilt. Das so genannte weiße Gewebe kann sich zudem langsam versteifen und erweichen und sich auf diese Weise an stressvolle Umgebungsbedingungen adaptieren. Eine weitere wichtige Funktion ist die des Energiespeichers. »Sehnen können Bewegungsenergie aufnehmen und abgeben. Die so genannte Storage Capacity (Speicherkapazität) beträgt für die Achillessehne beim gut trainierten Menschen zwischen 92 und 94 Prozent. Das ist genauso hoch wie beim Känguru«, erklärt Dr. Schleip. »Allerdings natürlich nicht beim Stubenhocker!« Doch die Speicherkraft im Kollagengewebe lässt sich trainieren. Je höher sie ist, z.B. bei jungen Menschen oder Sportlern, desto mehr Wellen (Crimps) durchziehen die Kollagenfasern und bilden die Grundlage für Sprung- und Schnellkraft.

Training mit Faszienrolle
© Blackroll
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Modellierbar und trainierbar

Das fasziale Bindegewebe wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Sie können – je nach Zustand – zu einer Verbesserung oder Verschlechterung der Gewebestrukturen und Elastizität führen. Hier spielen Genetik, Ernährung, Stress, hormonelle Situation (v.a. bei Frauen) und Biomechanik ebenfalls eine Rolle. Die Fibroblasten, die für die Synthese des Kollagens verantwortlich sind, reagieren vor allem auf biomechanische Beanspruchung. Allerdings wirkt Überforderung ebenso schädigend für das kollagene Bindegewebe wie Unterforderung. Aus diesem Grund haben Wissenschaftler wie Prof. Dr. Michael Kjaer (University of Copenhagen) und Prof. Dr. Adamantios Arampatzis (Humboldt-Universität Berlin) untersucht, welche Art der Belastung, Dosierung und Häufigkeit eines Trainings für Faszien optimal ist. Auf Basis dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse hat Dr. Schleip zusammen mit Kollegen ein spezielles Faszientraining entwickelt.

Übungen aus der Mottenkiste

Faszien brauchen relativ hochdosierte Belastungen – dafür aber mit relativ wenigen Wiederholungen. Für die Achillessehne beispielsweise sind (je nach Vortraining) vermutlich schon fünf bis 50 Hopsersprünge pro Woche ausreichend. Entscheidend ist, dass mehrfach und kurzfristig das zwei- bis vierfache des Körpergewichts abgefangen werden muss. Durch die Stoßbelastung werden Fibroblasten aktiviert und die Kollagenbildung und -strukturierung angeregt. Des Weiteren sind dynamische Dehnungen sinnvoll, wie sie unsere Großeltern schon machten und wie sie in den letzten Jahrzehnten aus den Sportgruppen und Fitnessstudios verschwunden waren. Gut sind endgradige Bewegungen mit kleinen Widerständen oder Gewichten. Zusätzlich sind alle Trainingsformen sinnvoll, bei denen geschmeidige Bewegungsabläufe betont werden, wie z.B. Yoga, QiGong, Tai Chi und andere östliche Kampfkünste.

Therapien bei Schmerzen auf Grund der Faszien

• Osteopathie

Osteopathische Myofaszialtherapie: Diese Therapie ist eine weit verbreitete ganzheitliche Therapie, bei der durch spezielle Griffe und Massagen Spannungen gelöst und die Selbstheilungskräfte aktiviert werden.

Viszeral-Therapie: Die Viszeral-Therapie legt den Schwerpunkt auf die Faszien der Organe. Besonders bei unklaren Schmerzzuständen.

• Fascial Release

Mit Hilfe einer Faszienrolle aus Hartschaumstoff werden die schmerzhaften Regionen massiert und „durchgewalkt“, so dass sich Verfilzungen in den Faszien lösen.

• Bowen-Methode

Mit präzisen, sanften und effektiven Griffen behandelt und aktiviert ein Therapeut das Muskel- und Bindegewebe.

• Rolfing

Rolfing ist eine besondere Form der Bindegewebsmassage, mit der fasziale Verfilzungen und Verhärtungen gelöst werden können, um die Strukturen des Körpers in eine gesunde Ordnung zu bringen. Muskuläre Triggerpunkte werden nicht speziell behandelt.

• Faszien-Distorsionsmodell FDM

FDM geht davon aus, dass Sportverletzungen häufig durch eine von sechs Verdrehungen der Faszien verursacht werden. Werden diese korrigiert, verschwinden die Schmerzen sofort.

• LNB Schmerztherapie nach Liebscher und Bracht

Schmerzpunkte werden mit spe­zieller Druckbehandlung gereizt und Muskelspannungen gelöst. Aktive und passive Dehnreize bewirken eine Veränderung des schmerzerzeugenden Systems.

■ Hutterer C

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