Sportmedizin und Sportpsychiatrie
Editorial der Ausgabe #06/2021 der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin (DZSM). Die beiden Autoren Prof. Johannes Scherr und Dr. Malte Claussen diskutieren darin die Erwartungen der Sportmedizin an die Sportpsychiatrie und gehen auf die wissenschaftlichen Beiträge der Ausgabe #6 ein.
Im Sport wird von den Athleten meist angenommen, dass sie gewissermassen über eine „heroische Grundausstattung“ verfügen. Dies geht schon früh in die Geschichte zurück, als sich der Halbgott Achilleus, dessen Mutter Thetis eine Göttin und dessen Vater Peleus ein Mensch war, zwischen einem kurzen und ruhmreichen oder einem langen und friedvollen, aber unbedeutenden Leben entscheiden musste. Hierbei entschied er sich für den Ruhm und wurde durch die Intervention der Mutter mit extremer Kampfeskraft versehen, weshalb er von seinen Gegnern als nahezu unverwundbar und nur schwer bezwingbar angesehen wurde. Entsprechend des Vorbilds aus der griechischen Mythologie werden diese Stärke und Unverwundbarkeit – sowohl aus physischer als auch psychischer Sicht – heute Leistungssportlern zugeschrieben. Fälschlicherweise wird dann oftmals auch mentale Stärke mit psychischer Gesundheit gleichgesetzt (9). Wobei Athleten mental stark und zugleich psychisch oder physisch nicht gesund sein können. Dies zeigt sich bedauerlicher Weise an einer Vielzahl an Fällen im Leistungssport, wobei es unter anderem durch den Leistungsdruck mitbedingt, zu teilweise fatalen Ausgängen kommt. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist Robert Enke, dessen Vermächtnis in der nach ihm benannten Robert-Enke-Stiftung weiterlebt und sich des Themas der Depressionskrankheiten annimmt. Es gibt eine Vielzahl von Leistungssportlern mit einem ähnlichen Schicksal. Durch die beginnende Entstigmatisierung des Themas der psychischen Gesundheit im Sport hat sich in den letzten Jahren eine leichte Enttabuisierung eingestellt und auch aufgrund der öffentlich gewordenen Fälle kam es bereits zu einer gewissen Professionalisierung im Umgang mit psychischer Gesundheit und Erkrankungen im Leistungssport. Einher ging diese Entwicklung auch mit einer Spezialisierung auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie, der Sportpsychiatrie und -psychotherapie im Leistungssport, die Ende der Achtziger Jahre in den USA ihren Uhrsprung fand und in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung vollzog.
Sportmedizin und Sportpsychiatrie im Leistungssport
Die Sportmedizin stellt die Erwartungen an eine Evidenz-basierte Medizin an sich selbst, die verschiedenen medizinischen Disziplinen innerhalb ihres Fachgebietes und andere Fachdisziplinen, somit auch an die Sportpsychiatrie und -psychotherapie.
Eine besondere Herausforderung stellt im Leistungssport die frühzeitige Erkennung von Athleten mit körperlichen und psychischen Belastungen und Erkrankungen dar, wozu es eines validen, das heisst sensitiven und spezifischen Screenings und Diagnostik bedarf. Anforderungen an diese Diagnostik sollten sein, dass sie ohne die Generierung von zu viel falsch positiven und negativen Befunden einhergeht. Dies würde im Besonderen bei falsch positiven Befunden in Hinblick auf psychische Störungen und Erkrankungen mit der Gefahr einer Stigmatisierung der betroffenen Athleten einhergehen und ist im Leistungssport umso relevanter, als dass Auffälligkeiten im psychiatrischen Screening wohl häufig fälschlicherweise mit den Attributen psychisch oder mental schwach gleichgesetzt werden würden. Es bedarf daher hier einer entsprechend soliden wissenschaftlichen Basis. Dies gilt selbstredend auch für die Sportmedizin und hier zum Beispiel für das Gebiet der Sportkardiologie, wo bekanntermassen seit langem zwischen den verschiedenen Fachgesellschaften über die Sinnhaftigkeit eines Ruhe-EKGs als Screening im Rahmen einer regelmässigen Tauglichkeitsuntersuchung diskutiert wird (1, 13). Die Evidenz der diagnostischen Methode des Ruhe-EKGs ist hierbei in der Sportmedizin noch deutlich besser als die der sportpsychiatrischen Diagnostik, die erst noch die entsprechenden Nachweise erbringen muss (8). Dies ist hoch relevant, denn erst auf Basis der Evidenz-basierten Diagnostik lassen sich bekanntermassen konsekutive Behandlungen durchführen und etablieren.
Die Sportpsychiatrie und -psychotherapie sollte die Erwartungen der Sportmedizin und die noch fehlende Evidenz in vielen Bereichen des Leistungssportes nicht als Kritik, sondern vor allem als Ansporn verstehen. Die bisher mehrheitliche Beschreibung und Hervorhebung der Bedeutung der psychischen Gesundheit und der Häufigkeiten psychiatrischer Krankheitsbilder in den verschiedensten Aspekten des Leistungssports – zum Beispiel jüngst in einer bemerkenswerten Initiative des Internationalen Olympischen Kommittes (14) – sowie das Aufzeigen des Fehlens von Psychiatern und Psychotherapeuten in den Versorgungsstrukturen im Leistungssport ist und war ohne Zweifel wichtig und ist in ihrem Umfang auch beachtlich. Die Sportpsychiatrie und -psychotherapie sollte nun aber den Anspruch haben, anhand der wissenschaftlichen Evidenz aufzuzeigen, welchen Wert sie über ein allgemein psychiatrisch-psychotherapeutisches Wissen hinaus im Leistungssport einnehmen kann. Orthopäden und Unfallchirurgen oder Internisten haben diesen Schritt vollzogen und den Wert der zusätzlichen sportmedizinischen Expertise aufzeigen können. Hierzu sollte von Beginn die Sportpsychiatrie und -psychotherapie die Zusammenarbeit mit den etablierten Disziplinen, wie der Sportmedizin, suchen.
Wenngleich in diesem Themenheft von körperlicher und psychischer Gesundheit sowie Sportmedizin und Sportpsychiatrie gesprochen wird, darf nicht vergessen werden, dass körperliche und psychische Gesundheit untrennbar miteinander zusammenhängen. Zudem bedarf es eines Verständnisses, dass die Sportpsychiatrie und -psychotherapie sich mit ihrem sportpsychiatrischen und medizinischen Wissen immer auch in der Sportmedizin als Querschnittfach einbringen sollte. Auf den Beitrag zur Sportpsychiatrie und -psychotherapie als Fachdisziplin und ihre Tätigkeitsfelder in diesem Themenheft sei an dieser Stelle weiter verwiesen (2).
In dem Sinne sollen auch die Beiträge zum Leistungssport verstanden werden, in denen Psychiater und Sportmediziner gemeinsam Vorschläge zur Ergänzung der bestehenden Versorgungsstrukturen und zur Förderung der psychischen Gesundheit diskutieren oder die mögliche Ergänzung der sportmedizinischen Untersuchung (SMU) um ein psychiatrisches Basis-Assessment (PBA) beleuchten (3, 8). Eine deutschsprachige Version beider Beiträge steht online auf der Homepage der DZSM zur Verfügung. Die weiteren Beiträge zum Leistungssport greifen das Übertraining und die Mild Traumatic Brain Injury (mTBI) aus sportpsychiatrischer und sportmedizinischer Perspektive auf und sollen beispielhaft darlegen, welchen Wert eine zusätzliche, psychiatrisch-psychotherapeutische Expertise bei diesen nicht klassischen psychiatrischen Störungen und Erkrankungen haben kann (7, 16).
Sport und Bewegung bei psychischen Erkrankungen
Sport und Bewegung kommt bekanntermassen eine relevante Rolle in der Prävention und Therapie verschiedenster Erkrankungen zu und kann ganz im Sinne von „Exercise is Medicine“ auch als effektives Therapeutikum – mit bereits sehr guter Evidenzlage – bei mehreren psychischen Erkrankungen bezeichnet werden (4, 5, 12).
So soll in diesem Themenheft neben dem Leistungssport auch Sport und Bewegung bei psychischen Erkrankungen und als weiteres Tätigkeitsfeld von Sportpsychiatern und -psychotherapeuten eine ebenso grosse Aufmerksamkeit zukommen. Die Übersichten zu alterspsychiatrischen Krankheitsbildern, Schizophrenie und Depressionen zeigen die Bedeutung von körperlicher Aktivität über die Lebensspanne und in der Breite des psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgebietes bei dann hier mehr klassischen psychiatrischen Erkrankungen auf (10, 11, 15).
Nicht oft genug kann darauf hingewiesen werden, dass schwere psychische Erkrankungen mit einer deutlich reduzierten Lebenserwartung einhergehen, die kaum durch die psychische Erkrankung als solche, sondern auch und insbesondere durch die körperlichen Komorbiditäten miterklärt werden kann (17). Im Beitrag zu kardiovaskulären Erkrankungen und Übersterblichkeit von Menschen mit Depressionen wird in diesem Themenheft körperlichen Aktivität als ein möglicher „Game changer“ zudem diskutiert (6). Die Bedeutung von Sport und Bewegung in der Psychiatrie und Psychotherapie beinhaltet daher immer auch beides, die positiven Auswirkungen auf Körper und Psyche bzw. körperliche und psychische Gesundheit.
■ Scherr J, Claussen MC
Quellen:
American College of Cardiology. Implementing a Cardiac Screening Program: Should We Be Using an ECG? [10th May 2021].
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Claussen MC, Gonzalez Hofmann C, Schneeberger AR, et al. Position paper: Sports psychiatric care provision in competitive sports. Dtsch Z Sportmed. 2021; 72: 316-322. doi:10.5960/dzsm.2021.503
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