DZSM-MITTEILUNG

23.06.2019

»Sport muss eine reale, körperbezogene Erfahrung bleiben«

Sind wettkampfmäßige Video- und Computerspiele Sport? Hierüber ist eine lebhafte Debatte entbrannt, seit die Regierungskoalition sich dafür einsetzt, eSport als Sportart anzuerkennen. Die DSZM sprach mit Prof. Dr. Carmen Borggrefe, Sportsoziologin am Institut für Sport- und Bewegungswissenschaft der Universität Stuttgart und Mitglied im Wissenschaftsforum des Württembergischen Landessportbundes.

»Sport muss eine reale, körperbezogene Erfahrung bleiben«
© ohishiftl / fotolia
Frau Prof. Borggrefe, warum ist es den Gamern denn so wichtig, dass eSport als Sport anerkannt wird?

Dabei geht es in erster Linie um Legitimation. Der Sport wird als Vehikel betrachtet, denn er hat genau das, was Computerspiele nicht haben, nämlich gesellschaftliche Anerkennung. Man möchte die positiven Konnotationen, die mit dem Sport verknüpft sind, nutzen, um sie auf wettkampfmäßige Video- und Computerspiele zu übertragen. Das würde einen enormen Imagegewinn bringen. Dabei geht es in erster Linie um wirtschaftliche Interessen. Auf Basis gesellschaftlicher Anerkennung können Publisher und Veranstalter das Wachstum des eSports noch mehr forcieren. Ob eSport allerdings als Sportart unter dem Dach des organisierten Sports anerkannt wird oder nicht, kann nicht die Politik entscheiden. Das ist Sache der Sportverbände.

Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat auch Sportarten wie etwa Darts oder Billard unter seinem Dach vereint. Wo ist da der prinzipielle Unterschied zu eSports?

Die Frage ist in der Tat, wie man hier eine Grenze ziehen kann. Ich argumentiere auf der Basis eines Vorschlags des Soziologen Rudolf Stichweh. Demnach geht es bei Sport um die Kommunikation körperlicher Leistungen, die keinen Zweck außer sich selbst haben. Man kommuniziert also: Schau mal, was ich mit meinem Körper anstellen kann. Darts und Billard kann man mit diesem Verständnis problemlos als Sport betrachten, wettkampfmäßige Video- und Computerspiele dagegen nicht, denn es geht ja nicht darum zu zeigen, wie schnell oder wie schön man klicken kann, sondern das Klicken ist Mittel zum Zweck. Es dient lediglich dazu, einen Avatar zu bewegen.

Carmen Borggrefe
Prof. Dr. Carmen Borggrefe, Leiterin Abteilung für Sportsoziologie und -management, Universität Stuttgart © Borggrefe
Sie sagen, eSport widerspricht dem Präventionsgedanken. Gilt das nicht auch für andere Sportarten wie Boxen, Extremsport oder Formel 1?

Man kann nicht grundsätzlich sagen, dass Sport der Prävention dient, da gibt es tatsächlich auch viele ambivalente Beispiele. Sport lässt sich jedoch im medizinischen Sinne nutzen, etwa zu präventiven, therapeutischen oder auch zu pädagogischen und sozialen Zwecken. Unter diesem Gesichtspunkt kann Sport sehr gesund sein, wie es ihm auch vielfach zugeschrieben wird. Bei eSport ist das nicht der Fall, da beschäftigen uns eher Themen wie Suchtpotenzial, Bewegungsmangel oder Kurzsichtigkeit. (Weiter im Text auf der nächsten Seite)

Warum zieht der DOSB nicht einfach eine klare Grenze gegenüber eSport?

Der DOSB muss die Interessen seiner Mitgliedsverbände vertreten und darunter sind auch solche, die für sich für eSport stark machen – allen voran der Deutsche Fußball-Bund, der eSoccer, also fußballbezogene Spiele, für sich nutzen möchte, beispielsweise in Form von Veranstaltungsformaten, die neue Einnahmequellen generieren.

Die Befürworter sagen ja, durch eSport könne man Kinder und Jugendliche beispielsweise zum Fußball auf dem grünen Rasen bewegen.

Dieses Argument halte ich für geradezu absurd. Wenn jemand vom eSport fasziniert und darin auch gut ist, warum sollte er dann in den analogen Fußball wechseln? Falls Sportvereine tatsächlich zunehmend eSport anbieten, gilt es unbedingt empirisch zu prüfen, ob diese Angebote tatsächlich genutzt werden, um Kinder und Jugendliche zum analogen Sport zu bringen. In meinen Augen sind das nur legitimierende Argumente, um kommerzielle Interessen zu rechtfertigen.

Unklarheit besteht häufig beim Begriff »Sportsimulation«

Hier gilt es genau zu unterscheiden: Es gibt Dinge wie die Golfsimulation, wo Sie vor einer Videowand stehen, Ihre Schlagbewegungen machen und das dann digital abgebildet wird. Ähnlich ist das beim digitalen Bogenschießen. Man hat also jeweils Bewegungen, die sich als sportartspezifisch zuordnen lassen und bei denen lediglich das Ergebnis der kommunizierten körperlichen Leistung digital abgebildet wird. Ich sehe kein Problem darin, so etwas unter dem Sportbegriff zu subsumieren, während Spiele wie FIFA oder NBA2K mit Sport nichts zu tun haben. Die einzige Analogie besteht darin, dass hier sportliche Handlungen simuliert werden.

Wie kann die Debatte weitergehen?

Das Positive an der aktuellen Debatte ist, dass man überhaupt aufklärt, und die Entwicklung ist völlig offen. Wir werden in den meisten gesellschaftlichen Bereichen nicht umhin kommen, die Digitalisierung weiter voranzubringen. Aber je mehr wir das tun, desto mehr brauchen wir auch Bereiche, in denen die Folgen der Digitalisierung abgepuffert werden, wo man dem Bewegungsmangel entgegenwirkt. Sport ist ein ideales Gegengewicht, weil er authentische, reale, körperbezogene Erfahrungen ermöglicht – nicht nur im Wettkampf, sondern auch im Gesundheitssport und im Freizeitbereich. Der Sport kann sich seine gesellschaftliche Legitimation gerade darüber sichern und bewahren, dass er diese analoge Bastion bleibt. Als Soziologin kann ich da nur aufklären, kann Funktionen und Folgen aufzeigen. Ich würde mir wünschen, dass sich auch andere Disziplinen wie etwa die Sportmedizin zunehmend einmischen und ihre Perspektiven einbringen.

■ Trutter M