Prävention von Lawinenunfällen

Prävention von Lawinenunfällen
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In jedem Winter hört man Nachrichten von Wintersportlern, die in Lawinen verunglückt sind. Für jene, die sich noch nie mit Lawinenkunde, den entsprechenden Entstehungsmechanismen und Schneedeckenaufbau beschäftigt haben, scheint es wie russisches Roulette zu sein: Jeden Augenblick könnte, vollkommen unerwartet, der »Weiße Tod« lauern. In der Tat ist auch heute nicht immer zuverlässig vorherzusagen, wo und wann Lawinen abgehen werden. Ein gewisses Restrisiko bleibt im Gebirge immer. »In Österreich wurde im Winter 2019/2020 bei 373 Lawinenunfällen mit fast oder ganz Verschütteten die Bergrettung verständigt. Diese gemeldeten Unfälle werden alle von der Alpinpolizei erfasst und ausgewertet. Doch es gibt eine hohe Dunkelziffer von Unfällen, die nicht gemeldet werden – weil niemand verschüttet wird, sich die Betroffenen selbst befreien konnten oder von Kameraden ausgegraben werden. Die tatsächliche Anzahl liegt etwa fünf- bis zehnmal höher, also bei über 3000 Lawinenereignissen, die in keiner Statistik auftauchen«, erläutert Dr. Peter Paal, Präsident des Österreichischen Kuratoriums für alpine Sicherheit sowie Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin mit Schwerpunkt alpiner Notfallmedizin, Barmherzige Brüder Krankenhaus Salzburg. Bei diesen Zahlen überrascht es beinahe, dass die Anzahl der Lawinentoten in Europa in den vergangenen Jahren nicht angestiegen ist, obwohl es immer mehr Skitourengeher und Free­rider plus einen Trend zu mehr Unfällen auf Skitouren gibt (8). Seit vielen Jahren liegt die Inzidenz bei ca. 100 Lawinenopfern in ganz Europa (1) und in Österreich im Zehnjahresmittel bei 21 (9).

Dr. Peter Paal, Präsident des Öster­reichischen Kuratoriums für alpine Sicherheit und Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin
Dr. Peter Paal, Präsident des Öster­reichischen Kuratoriums für alpine Sicherheit und Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin © Paal

Variantenfahrer und Tourengeher besonders gefährdet

Statistiken zeigen, dass vor allem Variantenfahrer – also mit Liftunterstützung, aber Abfahrten abseits der Pisten – sowie Skitourengeher betroffen sind (Tab. 1). Etwa 54 Prozent der auf Skitouren Verunglückten sterben durch Lawinen, die meisten Opfer gibt es bei Lawinenwarnstufe 3 (»erheblich«; Tab. 2). Dabei lösen Wintersportler in 90 Prozent der Fälle die todbringende Lawine selbst aus. Die Zeit bis zur Rettung nach einer Vollverschüttung, d. h. mit Kopf und Rumpf im Schnee, ist entscheidend (Tab. 3). Die häufigste Todesursache bei einem Lawinenunfall ist mit 75 Prozent Ersticken (2). Trotz der recht hohen Überlebenswahrscheinlichkeit von >90 Prozent in den ersten Minuten stirbt bei einer Vollverschüttung jeder Zweite. Von den Überlebenden leiden 40 Prozent an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (11). Bleiben Kopf und Rumpf außerhalb des Schnees – man spricht dann von Teilverschüttung –, versterben etwa vier Prozent, meist wegen schwerer Verletzungen. Das können Traumen von Kopf oder Halswirbelsäule sein, Polytraumen durch Kollision mit Bäumen oder Felsen, Quetschungen durch das Schneegewicht oder Abstürze.

Statistische Daten Lawinenunfälle
Erläuterungen: Tab. 1: Übersicht über die Lawinentoten der Wintersaison 2018/2019 in Österreich (7) | Tab. 2: Prozentuale Verteilung der Lawinenopfer entsprechend der Lawinenwarnstufe zum Zeitpunkt des Unfalls (Wintersaison 2018/2019) | Tab. 3: Überlebenswahrscheinlichkeit vollverschütteter Personen nach (2), jeweils am Ende der Zeitspanne © DZSM; 2020
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Lawinenunfälle: Präventionsmaßnahmen

Organisationen wie das österreichische Kuratorium für alpine Sicherheit oder Alpenvereine versuchen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in Präventionsmaßnahmen und Angebote (z. B. Kursangebote) umzusetzen. Dr. Paal zählt auf, an welchen Stellschrauben bereits gedreht wurde:

Lawinenlagebericht (LLB): Die Qualität und Aufbereitung des LLB hat sich in den letzten Jahren verbessert.

• Persönliche Schutzausrüstung: Zur absolut notwendigen Schutzausrüstung im freien Gelände gehören ein Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS), eine Sonde und eine Schaufel. Mit modernen digitalen 4-Antennen-LVS-Geräten ist die Suche leichter und schneller als mit früheren analogen Geräten. Auch die Verwendung von Metall- statt Plastikschaufeln trägt zur Sicherheit bei.

• Lawinenairbag: Ein Lawinenairbag kann dabei helfen, die Ganzkörperverschüttung zu verhindern. Die Zahl der Tourengeher, die mit Lawinenairbag unterwegs sind, steigt kontinuierlich.

• Lawinenkurse: Diverse Organisationen bieten Lawinenkurse zur Gefahreneinschätzung und zum Erlernen der Verschüttetensuche an. Die Zahl der Teilnehmer solcher Kurse ist deutlich gestiegen.

• Bergrettung: Die Bergrettung sowie die medizinische Versorgung am Berg sind besser geworden, die Helikopterdichte größer, die Ortungsmöglichkeiten feiner.

• Tourentypen: Die Zahl der Skitourengeher hat sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht, doch im einsamen Gelände mit eigener Spuranlage sind die Zahlen nicht im gleichen Maß gestiegen.

Die größten Zuwächse finden sich bei Pistenskitouren sowie auf so genannten Modeskitouren. Das Verhältnis von ersteren zu letzteren beträgt vermutlich zwischen 1:5 und 1:10.
Betrachtet man die unterschiedlichen Faktoren, wird deutlich, dass nicht ein Aspekt allein die Anzahl tödlicher Lawinenunfälle ausmacht. Die Analyse, wie viel Einfluss die unterschiedlichen Faktoren jeweils haben, gestaltet sich komplex. Klar ist aber: Sportler, die auf Pisten aufsteigen und abfahren, sind keine Lawinenauslöser.

Oberstes Ziel: Verschüttung verhindern

Besonders gefährdet sind also Personen, die abseits gesicherter Pisten unterwegs sind. Bewährt hat sich eine Kombination aus LVS-Training, LLB, bestimmten Methoden zur Einschätzung des aktuellen Risikos für eine spezielle Tour bzw. einen einzelnen Hang wie die Risikoreduktion nach Munter und Variationen (13), SnowCard (12) oder Stop-or-Go-Card (6) sowie geeigneter Schutzausrüstung. Beachtet man dann noch einige Faust­regeln (z. B. auf Wumm-Geräusche und Windzeichen achten, Fischmäuler meiden) und schaltet sofort ab Tourenbeginn das LVS ein, lässt sich das Risiko deutlich, aber nie bis auf null vermindern. Oberstes Ziel ist es, bei Lawinenabgängen eine etwaige Verschüttung zu verhindern.

Neben den genannten Verhaltens- und Planungsmöglichkeiten kann hier ein Lawinenairbag das Risiko reduzieren. In Lawinenrucksäcke sind große, zusammengefaltete Luftsäcke integriert, die bei Auslösung via Reißleine aus einer Kartusche oder mit Propellerluft innerhalb weniger Sekunden gefüllt werden. »Die inverse Segregation, auch bekannt als »Paranuss-Effekt«, sortiert während eines Lawinenabgangs größere Partikel an die Lawinenoberfläche. Aufgeblasene Airbags machen Verschüttungsopfer vom großen zum noch größeren Teil in der Lawine. Das erhöht die Chance, am Ende des Lawinenabgangs oben zu liegen«, erklärt Dr. Pascal Haegeli, Leiter einer Forschungsgruppe über Lawinen an der Simon Fraser University im kanadischen Vancouver, die Funktionsweise. Er hat mit seinem Team untersucht, wie groß der Effekt von Lawinenairbags tatsächlich ist (4). Es zeigte sich, dass sie das Risiko einer kritischen Verschüttung von 47,0 Prozent deutlich auf 20,1 Prozent und die Mortalität von 22,2 auf 11,1 Prozent verringern. Dr. Paal sagt dazu: »Der Airbag kann klar dazu beitragen, Ganzkörperverschüttung und Todesfälle zu reduzieren. Ich würde die Verwendung jedem empfehlen, der im offenen Gelände unterwegs ist.«

Dr. Pascal Haegeli, Leiter einer Forschungsgruppe über Lawinen an der Simon Fraser University im kanadischen Vancouver
Dr. Pascal Haegeli, Leiter einer Forschungsgruppe über Lawinen an der Simon Fraser University im kanadischen Vancouver. © Heageli
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Macht ein Lawinenairbag leichtsinniger?

Trotz der nachgewiesenen Wirksamkeit gibt es in Fachkreisen anhaltende Bedenken gegenüber Lawinenairbags. Diese beziehen sich auf die Sorge, dass der positive Effekt aufgehoben oder sogar ins Negative verkehrt werden könnte, weil die Sportler im Vertrauen auf ihr buchstäbliches »Backup« bewusst oder unbewusst eine höhere Risikobereitschaft entwickeln. Bekannt ist dieses Phänomen, nach dem Menschen Risiken eher optimieren, statt sie zu minimieren, unter dem Begriff Risikokompensation. Dr. Pascal Haegeli arbeitet mit seiner Arbeitsgruppe an der Schnittstelle zwischen Natur- und Sozialwissenschaften. »Wir fragen uns, wie Menschen Entscheidungen treffen«, sagt er.

Im Rahmen einer Untersuchung haben er und sein Team 163 Airbag-Besitzer und 243 Skitourengeher oder Freerider ohne Airbag in einer Online-Umfrage mit unterschiedlichen Szenarien konfrontiert (5). Dabei wurde den Teilnehmern jeweils gesagt, ob sie auf dieser Tour einen Airbag dabeihaben oder nicht. Zusätzlich wurde die Risikoeinstellung der Teilnehmer anhand der Zustimmung zu neun Aussagen wie »Ich gehe gerne ans Limit« oder »Für mich gilt: je steiler der Hang, desto größer das Vergnügen« analysiert. Es ergaben sich drei Gruppen: 27 Prozent suchten vor allem den Nervenkitzel und unbefahrene Hänge, 30 Prozent gaben an, konservativ zu agieren, und 43 Prozent wurden zwischen diesen beiden Gruppen eingeordnet. »Die Tendenz, die wir beobachten konnten, war, dass Airbag-Besitzer ohne das Equipment vorsichtiger oder konservativer handeln würden, während Nicht-Besitzer etwas mutiger würden, wenn ihnen gesagt wird, sie haben einen Airbag dabei«, erzählt Haegeli. Außerdem zeigte sich, dass die risikofreudigste Gruppe nach dem Kauf pro Expositionsjahr 0,045-mal in Lawinenunfälle involviert war. Ein signifikanter Anstieg: Vorher lag die Rate bei 0,006-mal.

Diese Ergebnisse deuten an, dass mit Lawinenairbag tendenziell die Risikobereitschaft steigen könnte. Sie zeigen jedoch auch, dass sich die Käufer von den Nichtkäufern deutlich unterscheiden: Airbag-Käufer sind eher stärker in den Sport involviert und eher fortgeschrittener. Unter ihnen gibt es einige, die anspruchsvolles Gelände bewusst aufsuchen. »Wir konnten zeigen, dass besonders diese Gruppe auch das Risiko sucht. Mit einem Airbag versuchen sie dann, es etwas beherrschbarer zu machen. Aus unserer Sicht wäre es wichtig, diese Gefahr bei Lawinenkursen und in den Gebrauchsanweisungen der Airbags anzusprechen, um es den Menschen bewusst zu machen. Es kann in Gruppen zu der Entscheidung kommen, dass derjenige, der einen Airbag hat, als erstes den Hang befahren soll«, erläutert Dr. Haegeli.

Lawinenschutzausrüstung, Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS), Sonde, Schaufel.
Persönliche Schutzausrüstung: Zur absolut notwendigen Schutzausrüstung im freien Gelände gehören ein Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS), eine Sonde und eine Schaufel. © lilkin / Adobe Stock

Erfahrung schützt nicht vor Fehlern

Eine Untersuchung aus der Schweiz hat die Charakteristik der Lawinentoten zwischen 1995 und 2014 analysiert (1). Brachte man die soziodemografischen Faktoren der Schweizer Gesamtbevölkerung (Swiss National Cohort) über einen Zeitraum von 20 Jahren in Korrelation mit Daten der 250 Lawinenopfer, zeigte sich eine signifikant höhere Betroffenheitsrate unter jüngeren bis mittelalten Männern (15 bis 45 Jahre) mit höherem Bildungsgrad und hohem sozioökonomischem Stand. Diese Eigenschaften spiegeln wahrscheinlich das typische Profil von Skitourengehern und Variantenfahrern wider.

Interessant ist zudem die Beobachtung, dass Alpenvereinsmitglieder ein etwa doppelt so hohes lawinenbedingtes Sterberisiko haben wie Nicht-Mitglieder (7). Das erscheint paradox, denn gerade diesen Personen würde man mehr lawinenkundliches Wissen zuschreiben. Doch deckte unter anderem eine Umfrage unter Skitourengehern auf, dass besonders die Erfahrenen ihr Wissen eher überschätzen (10) – möglicherweise wiegen sie sich in einem Gefühl falscher Sicherheit. Daneben kann nicht ausgeschlossen werden, dass unter Alpenvereinsmitgliedern eine beträchtliche Anzahl Nervenkitzel im freien Gelände suchen.

Fazit: Lawinen stellen beim Wintersport im Gebirge eine kaum vermeidbare Gefahr dar. Verschiedene Methoden der Vorbereitung und Ausbildung sowie gutes Equipment können dazu beitragen, die Gefahr für einen Lawinenabgang, eine Verschüttung und fatale Ausgänge zu minimieren. Entscheidend ist jedoch ganz besonders das eigene Bauchgefühl und der Mut, im richtigen Moment Bedenken gegenüber Tourenpartnern laut auszusprechen – auch wenn das eventuell Umkehren bedeutet.

■ Hutterer C

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Quellen:

  1. Berlin C, Techel F, Moor BK, Zwahlen M, Hasler RM; Swiss National Cohort study group. Snow avalanche deaths in Switzerland from 1995 to 2014-Results of a nation-wide linkage study. PLoS One. 2019; 14: e0225735. doi:10.1371/journal.pone.0225735

  2. Boyd J, Haegeli P, Abu-Laban RB, Shuster M, Butt JC. Patterns of death among avalanche fatalities: a 21 year review. Canadian Medical Association Journal. 2009; 180: 507-511. doi:10.1503/cmaj.081327

  3. Brugger H, Durrer B, Adler-Kastner L, Falk M, Tschirky F. Field management of avalanche victims. Resuscitation. 2001; 51: 7-15. doi:10.1016/s0300-9572(01)00383-5

  4. Haegeli P, Falk M, Procter E, Zweifel B, Jarry F, Logan S, Kronholm K, Biskupič M, Brugger H. The effectiveness of avalanche airbags. Resuscitation. 2014; 85: 1197-203. doi:10.1016/j.resuscitation.2014.05.025

  5. Haegeli P, Rupf R, Karlen B. Do avalanche airbags lead to riskier choices among backcountry and out-of-bounds skiers? J of Outdoor Recreation and Tourism. 2019. doi:10.1016/j.jort.2019.100270

  6. Larcher M. stop or go. BergUndSteigen. 2012; 4: 54-63. https://www.bergundsteigen.at/file.php/archiv/2012/4/54-63%20%28stoporgo%29.pdf

  7. Niedermeier M, Gatterer H, Pocecco E, et al. Mortality in Different Mountain Sports Activities Primarily Practiced in the Winter Season-A Narrative Review. Int J Environ Res Public Health. 2019; 17: 259. doi:10.3390/ijerph17010259

  8. Österreichisches Kuratorium für alpine Sicherheit. analyse:berg – jahrbuch Winter 2018/19: 46.

  9. Österreichisches Kuratorium für alpine Sicherheit. analyse:berg – jahrbuch Winter 2019/20: 64-69.

  10. Österreichisches Kuratorium für alpine Sicherheit. Endbericht einer Skitourengeher-Befragung im Winter 2014/15.

  11. Paal P, beikircher W, Brugger H. Der Lawinen­notfall. Anaesthesist. 2006; 55, 314–324. doi:10.1007/s00101-006-0997-4

  12. SnowCard. https://www.alpenverein.de/Bergsport/Sicherheit/Winter/Snowcard/ Abgerufen [2.11.2020]

  13. Universität Freiburg. Lawinengefahrenentscheidungshilfen. http://www.nuf.uni-freiburg.de/downloads/lawinengefahrentscheidungshilfen Abgerufen [2.11.2020]