Interozeption im Leistungssport

Interozeption im Leistungssport
© N F/peopleimages.com / Adobe Stock

Interozeption beschreibt die Fähigkeit, Informationen aus den eigenen Körper- und Organvorgängen wahrzunehmen und zu verarbeiten. Sie kann die Selbstregulation erleichtern und damit eine wichtige Rolle spielen, um Spitzenleistungen im Leistungssport zu erzielen. Außerdem gilt sie als mögliche Voraussetzung für emotionales Empfinden und wird im Spitzensport als leistungssteigernde Methode in Betracht gezogen. Es stellt sich daher die Frage, ob die Interozeption eines Athleten von Leistungsniveau und Sportart abhängig ist? Überraschende Ergebnisse und ihre Konsequenzen für den Leistungssport liefert eine aktuelle, zweiteilige Querschnittsstudie aus Wales (2). Neu für das Forschungsthema ist, dass Weltrangathleten aus den Top 100 der Nationalliga (bisher meist Universitätssportler) einbezogen wurden. Studienteil 1 untersuchte die subjektive interozeptive Sensibilität, Studienteil 2 fragte nach der objektiven interozeptiven Genauigkeit.

Interozeptive Sensibilität

213 Teilnehmer (davon 141 Männer) im Alter zwischen 18 und 56 Jahren (M = 24,99, SD = 7,541) wurden in Studienteil 1 eingeschlossen. Davon waren 50 Sprinter (32 Elite, 18 Nicht-Elite), 67 Langstreckenläufer (38 Elite, 29 Nicht-Elite) sowie 96 Nicht-Sportler. Die drei Gruppen waren in Alter und Geschlecht gut ausgeglichen, lediglich bei der Nicht-Sportler-Gruppe überwog der Frauenanteil.

Anhand eines Online-Fragebogens dokumentierten die Teilnehmenden auf einer Skala von 1 bis 8 ihre individuelle Selbsteinschätzung zu Körperwahrnehmung, Aufmerksamkeitsregulation, emotionalem Bewusstsein, Selbstregulierungsfähigkeit, aktivem „Körperhören“ zum Erkenntnisgewinn und Körpervertrauen sowie ihr Angst- und Depressionsempfinden. Gemäß den Erwartungen attestierten sich Sportler – unabhängig von Leistungsniveau und Sportart – mehr Körpervertrauen zur Selbstregulation und bessere Kontrollfähigkeiten gegenüber inneren Vorgängen als die nicht-sportliche Kontrollgruppe. Dabei gaben Sprinter im Vergleich zu Langstreckenläufern höhere Werte an bei der Aufmerksamkeit gegenüber inneren Empfindungen, beim emotionalen Bewusstsein, der Selbstregulation und der Neigung, auf den Körper zu hören, um Erkenntnisse zu gewinnen.

Überraschenderweise verfügten aber Leistungssportler unabhängig von der Sportart über eine geringere Selbstregulierung, weniger emotionales Bewusstsein und waren weniger geneigt, auf Körpersignale zu hören, als Freizeitsportler. Ein Ergebnis, das sich durch den zweiten Teil der Studie noch erhärten sollte.

Interozeptive Genauigkeit

In diesem Teil wurde mittels Kardiozeption und gleichzeitiger elektronischer Überwachung des Herzschlags gemessen. 29 Athleten, davon 14 Elite-Sportler (7 Sprinter, 7 Langstreckenläufer) und 15 Nicht-Elite-Sportler (10 Sprinter, 5 Langstreckenläufer) sowie 29 Nichtathleten, bildeten unter den gleichen Einschlusskriterien und vergleichbarer Altersrepräsentanz wie in Studienteil 1 die hier rein männlichen Stichproben.

Die Probanden sollten in einem ersten Versuch zuerst in Stille, dann vor dem eingespielten Klangteppich einer Wettkampfsituation ihren Herzschlag zählen (ohne Pulsmessen) und jeweils anschließend die Genauigkeit ihrer Angaben einschätzen.

In einem zweiten Versuch wurden sie gebeten, die zeitgleiche Übereinstimmung ihres Herzschlags mit einem unregelmäßig eingeblendeten Computersignal als zutreffend oder nicht zu beurteilen. Schließlich wurden die Angaben der Teilnehmer mit den objektiven Messdaten verglichen und ausgewertet.

Hohe Interozeption und Leistungssport – womöglich kein Dreamteam

Alle Athleten konnten ihren Herzschlag im Gegensatz zu den Nicht-Sportlern auch unter Ablenkung noch spüren und schätzten ihre interozeptiven Fähigkeiten höher ein. Eliteathleten konnten ihren Herzschlag hingegen schlechter zählen und machten mehr interozeptive Vorhersagefehler, wenn sie nicht abgelenkt waren, als Freizeitsportler.

Dies bestätigt Studien, die eine negative Korrelation zwischen Leistung und Innen-Fokussierung der Athleten nachwiesen (1). Leistungssteigernde Methoden, die auf einer Perfektion der Körperwahrnehmung basieren, wie z. B. die Bodyscan-Technik, sind daher mit Vorsicht anzuwenden. Das Überschreiten der körpereigenen Grenzen zum Erlangen von Spitzenleistungen könnte für die nachhaltige Reduktion interozeptiver Fähigkeiten und damit auch für ein geringeres emotionales Bewusstsein verantwortlich sein.

■ Herling S

Quellen:

  1. Ille A, Selin I, Do MC, Thon B. Attentional focus effects on sprint start performance as a function of skill level. J Sports Sci. 2013; 31:1705–12. doi:10.1080/02640414.2013.797097

  2. Seabury T, Benton D, Young HA. Interoceptive differences in elite sprint and long-distance runners: A multidimensional investigation. PLoS ONE. 2023; 18: e0278067. doi:10.1371/journal.pone.0278067