Gesäßschmerzen: Piriformis- und tiefes gluteales Schmerzsyndrom

Gesäßschmerzen: Piriformis- und tiefes gluteales Schmerzsyndrom
© bilderzwerg / Adobe Stock

Schmerzen im Gesäß treffen viel und wenig Sport treibende Menschen gleichermaßen. Als Ursache wird häufig ein Übeltäter ausgemacht: der Piriformis. Dieser Muskel verbindet das Kreuzbein und den Oberschenkel miteinander. Er ist einer der sechs Hüftrotatoren auf der Hüft-Rückseite und teilt sich den Beckenraum zudem mit einigen Nerven. Der Begriff »Piriformis-Syndrom« wurde 1947 erstmals von Dr. Daniel Robinson beschrieben. Seiner Auffassung nach klemmt der Piriformis den entweder durch den Piriformis oder darum herum laufenden Ischiasnerv ein.

Das häufigste Symptom des Piriformis-Syndroms ist ein allgemeiner Schmerz im Gesäß, der aufgrund der Kompression des Ischiasnervs in das Bein ausstrahlen kann oder sich durch Kribbeln oder Empfindungsstörungen bemerkbar macht. Beim Abtasten oder Druck in der Region können Schmerzen ebenso zunehmen wie bei längerem Sitzen und Stehen. Die Symp­tome sind in der Regel einseitig, können aber auch auf beiden Seiten auftreten. Obwohl zur Epidemiologie des Piriformis-Syndroms wenig bekannt ist, wird das Beschwerdebild für 0,3 bis 0,6 Prozent aller Fälle von Schmerzen im unteren Rücken und/oder Ischialgie verantwortlich gemacht (1). Die meisten Betroffenen sind im mittleren Alter und weiblich.

Die Diagnose wird in der Regel durch das Beschwerdebild und eine körperliche Untersuchung gestellt, kann aber auch durch bildgebende Verfahren gesichert werden. Neuere Forschungen zeigen vielversprechende Ergebnisse bei der genauen Diagnose des Piriformis-Syndroms mittels Ultraschall: Bei betroffenen Personen war der Muskel dicker und die Querschnittsfläche vergrößert (6).

Ist es wirklich der Piriformis?

Ob jedoch der Piriformis und die Kompression des Ischiasnervs so oft wie gemeinhin vermutet der Übeltäter für die Beschwerden im Gesäß ist, stellen Wissenschaftler und Kliniker immer häufiger in Frage. Manche lehnen die Existenz des Ischias-Entrapments auch komplett ab. Denn ein Teil der Patienten hat zwar einen tiefen Gesäßschmerz, aber keine Ausstrahlung ins Bein, Kribbeln oder Taubheitsgefühl, wie es bei Beteiligung eines Nervs zu erwarten wäre. Zudem weiß man, dass auch andere im Beckenbereich beheimatete Strukturen eine solche Symptomatik hervorrufen können, beispielsweise andere Nerven und Gesäßmuskeln, Kniesehnenmuskeln (Hamstrings), Gemelli-Muskeln, gefäßführende Faserbänder und Sehnen. Bei Frauen können unter Umständen auch Eierstockzysten oder Endometriose an einer Schmerzsymptomatik im Gesäß beteiligt sein (zahlreiche weitere mögliche Ursachen siehe (2)). Aus diesem Grund hat die Bezeichnung »tiefer Gesäßschmerz« oder »tiefes gluteales Schmerzsyndrom« (Deep Gluteal Pain Syndrome, DGS) als übergeordnete Beschreibung für alle Schmerzsymptome in diesem Bereich den Begriff Piriformis-Syndrom heute weitgehend abgelöst.

Doch die Frage bleibt: Was genau verursacht Beschwerden im Gesäß? Reicht ein verhärteter Muskel für das verbreitete Beschwerdebild aus? Ein Trauma von Hüfte oder Gesäß oder langes Sitzen (z. B. bei Taxifahrern, Radfahrern, sitzender Büroarbeit) sind typische Ursachen. Bei Athleten kann beispielsweise während Phasen mit intensivem Gewichtstraining eine Hypertrophie des Piriformis-Muskels ursächlich für die Symptome sein. Hinzu kommen anatomische Engpässe im Becken und ein ungünstiger Verlauf des Ischiasnervs (3).

Prof. Dr. Sven Reuter, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sportmediziner und Physiotherapeut, erklärt: »Kommt jemand mit Schmerzen in der Gesäßregion, gilt es herauszufinden, ob die Ursache wirklich im Gesäß, beispielsweise dem Piriformis, liegt, oder ob der Gesäßschmerz von anderer Stelle ausstrahlt. Dafür kommen die Lendenwirbelsäule und sämtliche Hüftpathologien in Frage. Meiner Erfahrung nach findet man bei den meisten Betroffenen durch umfassende Anamnese und körperliche Untersuchung eine Ursache in den genannten Bereichen, die dann ins Gesäß strahlen.«

Das bedeutet auch, dass die Diagnose »tiefes gluteales Schmerzsyndrom« (oder das enger gefasste Piriformis-Syndrom) erst dann gestellt werden sollte, wenn alle anderen Gründe für die Beschwerden ausgeschlossen wurden und keine eindeutige Ursache auszumachen ist.

Prof. Dr. Sven Reuter, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie Physiotherapeut, Mannschaftsarzt des deutschen Leichtathletik- Mehrkampfteams
Prof. Dr. Sven Reuter, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sportmediziner und Physiotherapeut © Reuter

Diagnostik – knifflig, aber wichtig

Tatsächlich ist die Diagnostik manchmal ein wenig knifflig. Zwar existieren klinische Tests zum Erkennen eines Piriformis-Syndroms, doch ist jeder einzelne Test für sich allein ungenau. Eine Kombination des aktiven Piriformis- und des Piriformis-Stretch-Tests im Sitzen bringt die besten Aussagen (4). Werden beide Methoden kombiniert, liegt die Sensitivität bei 0,91, die Spezifität bei 0,80. Die Wahrscheinlichkeit für eine korrekte positive Diagnose liegt bei 4,57 (positive Likelihood Ratio) und für eine falsch negative Beurteilung bei 0,11 (negative Likelihood Ratio) (4). Neben diesen Tests sollten weitere Untersuchungen erfolgen, die andere Ursachen spezifischer erkennen können, beispielsweise der Heel-Drag-Test, um eine Beteiligung der Hamstrings auszuschließen.

Helfen kann auch, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der diversen Schmerzursachen im Beckenbereich zu vergleichen:

Symptome und Erscheinungsbild: Das DGS präsentiert sich tendenziell mit unspezifischen Symptomen, die sich mit anderen Becken-, Hüft-, Iliosakral- und Wirbelsäulenpathologien überschneiden. Sie treten vermehrt bei längerem Sitzen und Stehen auf. Andere Muskelverletzungen der Hüfte zeigen sich häufig mit spezifischeren Symptomen oder treten vor allem während der Bewegung auf, so dass eine Lokalisation oder Abgrenzung der Beschwerden möglich ist.

Ätiologie: Die genaue Ätiologie des DGS ist kaum exakt auszumachen. Ein dynamisches Impingement kommt ebenso in Frage wie Neuropathien durch Einklemmen von Nerven, Myalgien der Hüftrotatoren (u. a. Piriformis-Muskel) und myofasziale Syndrome. Auch anderen Schmerzen im Gesäß liegen häufig Muskelverletzungen der Hüfte zu Grunde, z. B. Muskelzerrungen, Muskel(faser)risse, Tendinopathien oder entzündliche Vorgänge.

Als Differenzialdiagnosen kommen unter anderem verschiedene Tendinopathien der Hüfte und des Beckens in Frage (5), beispielsweise die proximale Hamstring-Tendinopathie, Insertionstendinopathien der Adduktoren oder das Trochanter-major- Schmerzsyndrom – vor allem bei Sportlern. Zu den häufigen Ursachen der Tendinopathie bei Athleten gehören akute oder chronische Traumata, Überbelastung und Übertraining. Betroffen sind vermehrt Aktive in Sportarten, bei denen die Hüfte hohen Belastungen ausgesetzt ist (z. B. Fußball, Tennis, Handball, Hockey). Bei Nichtsportlern stehen altersbedingte oder durch sitzenden Lebensstil ausgelöste Degenerationen stärker im Vordergrund. Weitere Risikofaktoren wie Alter, Geschlecht und berufliche Belastung, aber auch metabolische, genetische und neurologische Erkrankungen sind bei allen Betroffenen relevant. Eine ausführliche Anamnese erfasst all diese Risikofaktoren. Ist mit der Anamnese und klinischen Untersuchung die Beschwerdenursache noch immer nicht klar, können Ultraschall und MRT weitere Hinweise liefern.

Behandlung – individuell statt »one fits all«

Für eine wirksame Behandlung des tiefen glutealen Schmerzsyndroms existiert erstaunlicherweise kein internationaler Konsensus. Die meisten Behandlungsvorschläge beziehen sich auf das Piriformis-Syndrom. »Die Überschneidungen zwischen der Behandlung von – allgemein gesprochen – Schmerzen des unteren Rückens und des DGS sind groß«, erklärt Prof. Reuter. »Gut beschrieben sind neurale Mobilisationstechniken, Weichteiltechniken mit Behandlung der myofaszialen Strukturen, Dehnungen, aktive Übungen und Kräftigung«. Dieser konservative Ansatz bringt meist Besserung. Reichen die Maßnahmen nicht aus, sind Injektionen mit schmerzlindernden Substanzen einen Versuch wert. Vor einer Operation sollte gezielt geprüft werden, ob die Ursache für die Beschwerden von einer anderen Region ausgehen.

Um das Auftreten von DGS, Piriformis-Syndrom und anderen Muskelverletzungen und Tendinopathien bei Sportlern zu verringern, sind präventive Maßnahmen sinnvoll. »Optimalerweise werden zusammen mit einem Physiotherapeuten die Schwachstellen identifiziert. Das gilt in Prävention und Therapie gleichermaßen. Hat der oder die Betroffene eher ein Kraftproblem oder sind die Kapazitäten im Seitenvergleich deutlich verschieden? Besteht eine eingeschränkte Beweglichkeit oder ein anderes Problem?

Daran wird dann individuell gearbeitet, um die Voraussetzungen für hohe Belastungen zu schaffen. Daher gibt es keine ‚One-fits-all-Lösung‘«, betont Prof. Reuter. Zudem ist es sinnvoll, sportartspezifische Bewegungsabläufe und -anforderungen zu analysieren und die Trainingsbelastung anzupassen. Bei wenig sportlich Aktiven hingegen ist wahrscheinlich regelmäßige körperliche Aktivität mit gezielter Muskelkräftigung aller großen Muskelgruppen ein wichtiges Element.

Fazit: Die Bedeutung des Piriformis-Syndroms als Ursache für Schmerzen im Gesäß gilt heute als überschätzt. Bei unklarer Genese wird inzwischen der Begriff »tiefes gluteales Schmerzsymdrom« verwendet. Doch auch diese Diagnose ist eher ungenau und eine gezielte Suche nach dem schmerzauslösenden Problem umso wichtiger. Die konservative Behandlung von Gesäßschmerzen mit einer Kombination aus aktiven Übungen, Dehnungen und myofaszialen Techniken bringt meist Linderung.

■ Hutterer C

Quellen:

  1. Hicks BL, Lam JC, Varacallo M. Piriformis syndrome. Treasure Island, StatPearls Publishing; 2021.

  2. Hu YE, Ho GWK, Tortland PD. Deep Gluteal Syndrome: A Pain in the Buttock. Curr Sports Med Rep. 2021; 20: 279-285. doi:10.1249/JSR.0000000000000848

  3. Larionov A, Yotovski P, Filgueira L. Novel anatomical findings with implications on the etiology of the piriformis syndrome. Surg Radiol Anat. 2022; 44: 1397-1407. doi:10.1007/s00276-022-03023-5

  4. Martin HD, Kivlan BR, Palmer IJ, Martin RL. Diagnostic accuracy of clinical tests for sciatic nerve entrapment in the gluteal region. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc. 2014; 22: 882-888. doi:10.1007/s00167-013-2758-7

  5. Sirico F, Palermi S, Massa B, Corrado B. Tendinopathies of the hip and pelvis in athletes: A narrative review. JHSE. 2020; 15: 748-762. doi:10.14198/jhse.2020.15.Proc3.25

  6. Zhang W, Luo F, Sun H, Ding H. Ultrasound appears to be a reliable technique for the diagnosis of piriformis syndrome. Muscle Nerve. 2019; 59: 411-416. doi:10.1002/mus.26418