DZSM-MITTEILUNG

22.11.2018

Die drei Säulen der Sportmedizin und ein Blick in die Zukunft

Fragen Sie Ihre Nachbarn, Ihre fachfremden Bekannten oder Freunde, was diese sich unter „Sportmedizin“ vorstellen, so wird sicher das klassische Bild des Sportarztes genannt werden, der mit wehendem Haar aufs Fußballfeld rennt, um dort per Eisspray akute Schmerzen zu behandeln. Vermutlich trägt dieses, durch die Medien geprägte Bild des energischen, sportverliebten Mediziners auch zur Beliebtheit des Fachs Sportmedizin bei Medizinstudentinnen und -studenten bei: Eine Umfrage unter Studienanfängern nach deren späterer beruflicher Wunschposition brachte das Fach vor einigen Jahren auf den ersten Platz, deutlich vor einigen renommierten klinischen Fächern.

Die drei Säulen der Sportmedizin und ein Blick in die Zukunft
© Stockwerk-Fotodesign / fotolia

Solche Umfragen signalisieren eine positive Wahrnehmung des Fachs, basieren aber auf einer Unkenntnis der tatsächlichen Tätigkeitsbereiche und beruflichen Möglichkeiten der realen Sportmedizin. Es erscheint daher lohnenswert, die zentralen Positionen der Sportmedizin nochmals hervorzuheben.

Selbstverständlich nimmt die Sporttraumatologie im interdisziplinären Kanon der Sportmedizin eine herausragende und wichtige Stellung ein und kann daher gewissermaßen als die erste Säule des Fachs Sportmedizin angesehen werden. Gleichwohl bedient das Fach aber auch eine ganze Reihe weiterer, oftmals sportwissenschaftlich und trainingswissenschaftlich orientierter Aspekte innerhalb der klinischen Medizin. So ist aus meiner Sicht vor allem der Einsatz körperlicher Aktivität in der Gesundheitsförderung und Therapie relevant: Sport als Medikament – neben der Sporttraumatologie sicher die zweite Säule der Sportmedizin.

Der positive Einfluss körperlicher Aktivität und Fitness auf die Gesamtmortalität kann ja heutzutage als wissenschaftlich erwiesen angesehen werden (3, 10). Gleichwohl werden im Themenkreis laufend neue Einsatzmöglichkeiten über das „Wundermittel Bewegung“ publiziert. Die Sportmedizin leistet laufend wichtige Beiträge zum Einsatz von Sport als Medizin, es finden sich didaktische, physiologische, molekularbiologische, klinische, trainingswissenschaftliche und natürlich präventive Ansätze in den Publikationen.

Prof. Dr. med. Kai Röcker, Hoschule Furtwangen, Institut für Angewandte Gesundheitsförderung und Bewegungsmedizin (IfAG) © Röcker

Die fachliche Herausforderung besteht auch darin, körperliche Aktivität zum Gesundheitsnutzen positiv zur messbaren Entfaltung zu bringen. Die diversen Zielgruppen müssen zur tatsächlichen und lebenslang regelmäßen Sportausübung veranlasst werden. So selbstverständlich und einfach dies vordergründig erscheinen mag, so stellt dies in der Realität eine anspruchsvolle Aufgabe dar: Die Einnahme von Medikamenten oder das in diesem Zusammenhang vielbeschworene Zähneputzen sind im persönlichen Aufwand absolut nicht mit einem täglichen Dauerlauf vergleichbar. Um sinnvolle Bewegungsinterventionen zu verstetigen, müssen Frustrationen durch fehlerhafte, inadäquate Belastungen vermieden und positive Konditionierungsstrategien entwickelt werden. Dies gelingt der Sportmedizin einerseits durch die wissenschaftliche Aufklärung und Beschreibung biologischer Wirkungsmechanismen und auch durch die Optimierung, Steuerung und Dokumentation des Umfangs und der Intensität von Bewegungsangeboten und sportlichen Trainingseinheiten für Gesunde oder Kranke. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Beziehung zwischen Dosis und nachfolgender Wirkung. Welche Dosis an körperlicher Beanspruchung bewirkt welchen Anpassungseffekt? Womit wir bei unserem dritten großen Arbeitsfeld angelangt wären: der Leistungsphysiologie und Leistungsdiagnostik.

Vor vielen Jahren war es zuerst die Methode der Atemgasanalyse bei Belastung, die Spiroergometrie, inspiriert auch durch wissenschaftliche Arbeiten aus Deutschland, England und Skandinavien (1, 2, 6), durch welche die belastungsinduzierte Bereitstellung metabolische Energie dargestellt und eine Quantifizierung der persönlichen Beanspruchung bei dynamischer körperlicher Aktivität ermöglicht wurde. Deutschsprachige Sportmediziner waren seinerzeit in der vordersten Reihe an der Erarbeitung der heute noch gebräuchlichen Begrifflichkeit der „Anaeroben Schwelle“ beteiligt (5, 7, 11). Ein grandioser Fortschritt wurde durch die Weiterentwicklung der damals noch recht komplizierten und teuren Messung der Blutlaktatkonzentration bei Belastung erzielt (8). Durch die Gewinnung kleiner Mengen an Kapillarblut konnten nun erstmals ohne den hohen methodischen Aufwand einer Spiroergometrie die Verhältnisse des Energiestoffwechsels im menschlichen Körper unmittelbar während körperlicher Belastung bewertet werden. Allein durch die Entwicklung der Laktatmethodik und der sportmedizinischen Leistungsdiagnostik wurde ein Arbeitsfeld erschlossen, welches innerhalb der Sportmedizin über viele Jahre die Bedeutung und das Interesse an der Leistungsphysiologie dominiert hat.

Rückblickend wurde das praktische Interesse an der Leistungsdiagnostik auch durch die spezielle Anwendung im Spitzensport motiviert, angetrieben durch die damalige geopolitische Blockkonstellation. Die Zahl der Goldmedaillen bei sportlichen Großereignissen war ja zu jener Zeit eher noch Staatsraison als kommerzielles Interesse. An manchen Orten und zu mancher Zeit wurde bekanntermaßen jedes erdenkliche Mittel eingesetzt (und auch eingefordert) um das Ziel einer möglichen sportlichen Vorherrschaft zu erreichen. Teilweise waren dies auch unethische und kriminelle Methoden wie Doping, andererseits hat damals natürlich auch die Leistungsdiagnostik vom hohen staatlichen Interesse am Leistungssport stark profitiert. Die wissenschaftliche Leistungsdiagnostik in Händen der Sportmedizin wurde als willkommenes Instrument zur Optimierung von Trainingseffekten, zur Dokumentation und trainingswissenschaftlichen Begleitung des Hochleistungssports mit Ausdauerkomponente staatlich gefördert. Entsprechend ermöglicht die Intensität der damaligen Forschung und Entwicklung hervorragende Anwendungsmöglichkeiten auch in der heutigen Zeit, auch außerhalb des Hochleistungssports.

In den dreißig Jahren seit der Wende hat sich mit der geopolitischen Situation und der Stellung des Hochleistungssports auch die Position der Leistungsdiagnostik und der entsprechenden Anwendungsbereiche deutlich verschoben. Der Leistungssport wurde im wiedervereinigten Deutschland gewissermaßen demokratisiert. Die ursprünglich sehr elitären Methoden der physiologischen Leistungsdiagnostik sind nun über eine Vielzahl privater Institute auch Hobbysportlern problemlos zugänglich. Wettkampfsport wird heute weniger über eine Vereins- und Verbandszugehörigkeit begründet; speziell im Laufsport erleben wir weiterhin einen gewaltigen Boom riesiger Massenveranstaltungen mit Leistungscharakter und damit auch eine starke Nachfrage nach allgemein verfügbarer Ausdauerleistungsdiagnostik. In logischer Konsequenz ist die Leistungsdiagnostik auch keine wissenschaftlich-sportmedizinische Domäne öffentlicher Einrichtungen geblieben. Vielmehr bedienen heutzutage viele kleine und private Institutionen das Thema. In der institutionellen Sportmedizin wird Leistungsdiagnostik zusätzlich weiterhin vor allem in Verbindung mit Sporttauglichkeitsuntersuchungen (meist im Dialog mit Trainern und Betreuern im Sport) und zur Einrichtung präventiver Trainingsprogramme angeboten. Ohne die medizinische Vorsorgediagnostik wird Ausdauerleistungsdiagnostik bei vorhandener Expertise demgegenüber inzwischen auch von Trainingswissenschaftlern und in der allgemeinen Sportbetreuung außerhalb der Sportmedizin gewinnbringend eingesetzt.

Eine ungelöste Diskrepanz im generellen Verständnis leistungsdiagnostischer Ergebnisse besteht allerdings seit der Gründerzeit der Leistungsdiagnostik: so ist es zwar von unbestrittener wissenschaftlicher Relevanz, die Maschinerie der intrazellulären Abläufe der Energiebereitstellung modellhaft zu partikularisieren und die Ausprägung der einzelnen Faktoren bei spezifischen Anforderungen zu thematisieren. So konnten beispielsweise allein für das Molekül Laktat in den letzten Jahren neben seiner Funktion als Energieträger auch wichtige Regulations- und Signaleigenschaften gefunden werden (4). Aber trotz aller Relevanz der Zusammenhänge liefern die verfügbaren Messmethoden allenfalls Indizien und Diskussionsgrundlage, keinesfalls jedoch diagnostisch eindeutig verwertbare Fluss- und Zustandsgrößen zur Quantifizierung des postulierten komplexen Stoffwechselsystems unter Belastung. Eine generisch-praktische Anwendung differenzierter Modelle zur Bewertung realer Eigenschaften wie der „Ausdauerleistungsfähigkeit“ oder „Sprintvermögen“, der Umweg über mehrfach ineinander verschränkte Annahmen von Systemgleichgewichten eher unsinnig. Die entsprechenden, vermeintlich fortschrittlichen Methoden werden zwar immer wieder recht populär vermarktet, verwertbare wissenschaftliche Evaluationen liegen jedoch häufig nicht vor oder sind aufgrund der nicht fassbaren Zielgrößen schwer überprüfbar

Sucht man demgegenüber nach verlässlichen Bezugsgrößen zur Validierung von Ausdauerleistungsdiagnostik, wird die tatsächliche, physikalische Leistung und die Leistungsfähigkeit von Personen mit modernen Methoden heutzutage immer leichter und dauerhafter messbar (9). Anschluss an Zukunftstechnologien gewinnt die Sportmedizin daher auch durch Anwendung neuartiger Messsysteme zur Bewegungsanalyse und Mustererkennung in inzwischen allseits vorhandenen Wearables – tragbaren Messsystemen. Hier sind vor allem die meist internetbasierten Technologien zu nennen, welche mit neuen Sensortypen Anwendungsfelder für die tägliche Datenerfassung in Smartphones oder Smartwatches ermöglichen. Wir stehen aber noch ganz am Anfang, wenn es darum geht, die anfallenden Bewegungsmuster kategorisch zu interpretieren und dem gewünschten Gesundheits- und Trainingseffekt zuzuordnen. Die Chance ist da: erstmals kann mit ambienter Diagnostik physiologische Leistungsdiagnostik auf die gesundheitsbezogenen Effekte von Bewegung, Leistung und Leistungsfähigkeit im Alltag hin inhaltlich evaluiert werden. Neben den bereits vorhandenen drei Säulen der Sportmedizin erleben wir also vielleicht gerade die Geburt einer vierten – die Anwendung, Interpretation und Nutzung umfassender Datenmengen aus den neuen Technologien im Kontext bewegungsbezogener Gesundheitsförderung.

■ Röcker K, Abel C

Quellen:

  1. Astrand PO, Saltin B. Maximal oxygen uptake and heart rate in various types of muscular activity. J Appl Physiol. 1961; 16: 977-981. doi:10.1152/jappl.1961.16.6.977

  2. Bassett DR. Scientific contributions of A. V. Hill: exercise physiology pioneer. J Appl Physiol. 2002; 93: 1567-1582. doi:10.1152/japplphysiol.01246.2001

  3. Blair SN, Sallis RE, Hutber A, Archer E. Exercise therapy - the public health message. Scand J Med Sci Sports. 2012; 22: e24-e28. doi:10.1111/j.1600-0838.2012.01462.x

  4. Brooks GA, Brooks TG, Brooks S. Laktat als metabolisches Signal der Genexpression. Dtsch Z Sportmed. 2008; 12: 280-286.

  5. Heck H, Beneke R. 30 Jahre Laktatschwellen–was bleibt zu tun? Dtsch Z Sportmed. 2008; 59: 297-302.

  6. Hill AV, Lupton H. Muscular Exercise, Lactic Acid, and the Supply and Utilization of Oxygen. QJM. 1923; os-16: 135-171. doi:10.1093/qjmed/os-16.62.135

  7. Hollmann W. Historical remarks on the development of the aerobic-anaerobic threshold up to 1966. Int J Sports Med. 1985; 06: 109-116. doi:10.1055/s-2008-1025823

  8. Racine P, Klenk HO, Kochsiek K. Rapid lactate determination with an electrochemical enzymatic sensor: clinical usability and comparative measurements. Z Klin Chem Klin Biochem. 1975; 13: 533-539.

  9. Roecker K, Mahler H, Heyde C, Röll M, Gollhofer A. The relationship between movement speed and duration during soccer matches. Zagatto A, ed. PLoS ONE. 2017; 12: e0181781. doi:10.1371/journal.pone.0181781

  10. Schnohr P, Marott JL, Jensen JS, Jensen GB. Intensity versus duration of cycling, impact on all-cause and coronary heart disease mortality: the Copenhagen City Heart Study. Eur J Cardiovasc Prev Rehabil. 2011; 19: 73-80. doi:10.1177/1741826710393196

  11. Wasserman K, McIlroy MB. Detecting the Threshold of Anaerobic Metabolism in Cardiac Patients during Exercise. Am J Cardiol. 1964; 14: 844-852. doi:10.1016/0002-9149(64)90012-8