Das Physical-Activity-Paradox: weshalb Freizeitsport gesund ist, körperliche Arbeit oft nicht
Über kaum einen Fakt zu sportlicher Betätigung herrscht so viel Einigkeit wie darüber, dass körperliche Aktivität gesund ist, während körperliche Inaktivität und sitzender Lebensstil der Gesundheit schaden. Sieht man sich die Studienlage jedoch genauer an, zeigt sich ein mitunter komplexeres Bild. Neuere Forschung weist nämlich darauf hin, dass der positive Effekt von körperlicher Aktivität vor allem von Freizeitaktivitäten (Leisure Time Physical Activity; LTPA) ausgeht. Wird hingegen im Beruf körperlich gearbeitet (Occupational Physical Activity; OPA), könnte das sogar gegenteilige Effekte haben. Man spricht vom Paradox der körperlichen Aktivität oder Physical-Activity-Paradox. Eine neue Publikation nimmt diesen Zusammenhang genauer unter die Lupe (1).
In der Vergangenheit beschränkte sich die meiste Forschung zu den Auswirkungen körperlicher Betätigung auf Freizeitsport und andere freiwillig ausgeführte Aktivitäten. Bei diesen Formen körperlicher Betätigung gilt nach wie vor uneingeschränkt, dass die positiven Effekte auf die allgemeine Gesundheit und das Wohlbefinden klar überwiegen. Die kardiovaskuläre Fitness profitiert und Langlebigkeit nimmt durch LTPA zu bzw. die Mortalität sinkt. Doch lassen sich eben diese Beobachtungen durch körperliche Betätigung im Arbeitskontext nicht reproduzieren.
So haben Männer, die OPA ausgesetzt sind, eine um 18 Prozent erhöhte Wahrscheinlichkeit, frühzeitig zu versterben. Und gleichzeitig verdoppelt sich für Beschäftigte von Berufen, die größtenteils stehend verrichtet werden, das Risiko für Herzerkrankungen im Vergleich zu solchen, in denen größtenteils gesessen wird. Ein Umstand, der besonders paradox erscheint, ruft man sich einmal die unzähligen, oft beschworenen gesundheitlichen Gefahren vor Augen, die gerade ein sitzender Lebensstil mit sich bringt.
Weitergehende Untersuchungen benennen aber klare Gründe dafür, warum der eklatante gesundheitliche Unterschied zwischen OPA einerseits und LTPA andererseits auftritt (2). Ausschlaggebend sollen hier die unterschiedlichen Belastungsmuster der körperlichen Aktivität sein. Während sportliche Freizeitaktivität in der Regel von kurzen, intensiven Anstrengungen mit längeren, konsekutiven Phasen der Entspannung gekennzeichnet ist, handelt es sich bei OPA meist um lange, statische, täglich wiederkehrende Muskelarbeit ohne die Möglichkeit der vollständigen Erholung. Gleichzeitig wird während körperlicher Arbeit aber kaum je die Schwelle erreicht, die für eine Förderung der kardiovaskulären Fitness notwendig wäre, wie die Forscher weiter ausführen Während sportliche Betätigung fast immer zu einer Belastung von mind. 60-80% der maximalen aeroben Kapazität führt, bleibt OPA zwar darunter – aber mit einer Intensität von meist 30-35 Prozent dennoch oberhalb dessen, was für einen 8-stündigen Arbeitstag gesund wäre.
Durch diese fatale Kombination kommt es offenbar zu dem besonders schädlichen Anstieg von 24-Stunden-Blutdruck und -Herzfrequenz. Ein weiterer Faktor, der zu der Gesundheitsgefährdung beiträgt, ist die geringe Kontrolle, die Beschäftigte im Rahmen von OPA auf Arbeitsumfeld, Aufgaben, Stressfaktoren und Schnelligkeit der zu leistenden Tätigkeiten haben, was wiederum zu Überanstrengung und schlussendlich akuten wie chronischen Verletzungen führen kann. Zuletzt wären noch die chronisch erhöhten Inflammationsmarker zu nennen, die aus der Überanstrengung resultieren und langfristig zu weiteren Problemen führen können.
In vielen Berufsgruppen leisten Beschäftigte täglich körperliche Arbeit – von der Pflege, über das Baugewerbe und das Handwerk bis zur Landwirtschaft. Das zeigt die epidemiologische Relevanz und führt zudem zu hohen gesundheitsökonomischen Kosten. Immerhin ist Schätzungen zufolge noch immer über die Hälfte der gesamten körperlichen Aktivität bei Erwachsenen auf berufliche Gründe zurückzuführen. Gleichzeitig ergeben sich für die Autoren auch Interventionsmöglichkeiten zur Verminderung der negativen Effekte durch OPA (3): Die Identifizierung der betroffenen Berufsgruppen, bewusstere Strukturierung von Pausen und die Förderung von gesünderen Arbeitsumgebungen sollten herausgestellt werden. Gleichzeitig sollte weiterhin die Ausübung von sportlichen Freizeitaktivitäten gefördert werden.
So wie seit einiger Zeit Anstrengungen unternommen werden, um die gesundheitlichen Gefahren für rein sitzend-tätige Berufsgruppen zu mildern, könnten in Zukunft auch Maßnahmen gefördert werden, um die gesellschaftlichen und individuellen Gefahren durch OPA einzudämmen. Das Bewusstsein um das Physical-Activity-Paradox ist dafür eine wichtige Voraussetzung.
■ Taylan Y
Quellen:
Pronk N. Physical activity paradox: providing evidence-based guidance while closing research gaps. Br J Sports Med. 2024; 58: 932-933. doi:10.1136/bjsports-2024-108294
Holtermann A, Krause N, van der Beek AJ, Straker L. The physical activity paradox: six reasons why occupational physical activity (OPA) does not confer the cardiovascular health benefits that leisure time physical activity does. Br J Sports Med. 2018; 52: 149-150. doi:10.1136/bjsports-2017-097965
Pronk N. The Physical Activity Paradox: Implications for Worksite Health Promotion Programming and Considerations for the Conditions of Work. ACSMs Health Fit J. 2024; 28: 56-59. doi:10.1249/FIT.0000000000000957