DZSM-MITTEILUNG

02.04.2022

Wissenschaft in der Sportmedizin in Zeiten der Corona-Pandemie

Editorial der Ausgabe #2/2022 der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin von Prof. Andreas M. Nieß. Der Sportmediziner geht auf die mittel- und langfristigen Auswirkungen der Corona-Pandemie ein und sieht für die sportmedizinische Forschung große Chancen, mit ihren Erkenntnissen zur Bewältigung der Pandemie und den Folgen beizutragen. Dieser Artikel ist Teil unseres Fokusthemas "COVID-19: Infos und Empfehlungen". Den Link zur Übersicht aller Beiträge des Themenschwerpunkts finden Sie am Ende des Textes oder durch Eingabe des Suchbegriffs #Covid-19 in das Suchfeld dieser Website.

Wissenschaft in der Sportmedizin in Zeiten der Corona-Pandemie
© Mongkolchon / Adobe Stock

Die aktuell laufende Corona-Pandemie hat die Welt fest im Griff und ihre mittel- und langfristigen Auswirkungen sind noch weitgehend unklar. Dabei wirkt sich die Pandemie auch in vielfältiger Weise auf zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen aus. Für die sportmedizinische Forschung offenbaren sich dabei zum einen große Chancen, mit ihren Beiträgen zur Bewältigung der Pandemie und ihren Folgen beizutragen. Auf der anderen Seite dürfen jedoch auch Risiken nicht außer Acht gelassen werden, die sich durch den Einfluss der Pandemie auch für unser Fach abzeichnen.

Frühe Aktivitäten in der Pandemie

In der Frühphase der Pandemie war die klinische Sportmedizin rasch mit der Frage konfrontiert, wie durch das Virus infizierte Sportler sicher zurück zu Ihrem Sport geführt werden können. Die Vielfalt der bereits damals im Rahmen einer Covid-19-Erkrankung bekannten Symptome und Komplikationen bei gleichzeitig jedoch nur unzureichend verstandenem Krankheitsbild stellten eine der ersten Herausforderungen dar (9). Hinzu kamen Fragen zum Infektionsrisiko beim Sport und den ungünstigen Auswirkungen des Lockdowns auf den Bewegungsmangel, insbesondere in hierfür vulnerablen Zielgruppen. Entsprechend zählte die Erarbeitung von auf Expertenmeinungen basierenden Positionspapieren durch den Wissenschaftsrat unserer Fachgesellschaft und die medizinischen Kommission des DOSB zu den ersten wichtigen Schritten, den Herausforderungen der Pandemie in unserem Fachbereich gerecht zu werden (6, 8).

Gleichzeitig gelang es, durch Kooperation von zwölf DOSB-lizensierten Untersuchungszentren eine deutschlandweite multizentrische Kohortenstudie (CoSmo-S) zu initiieren, die sich mit den Folgen einer Covid-19-Infektion bei Leistungssportlern befasst und die in den ersten 15 Monaten knapp 1000 erkrankte Sportler einschließen konnte (7). Weitere Projekte befassen sich mit der Vakzinierung von Athleten gegen SARS-CoV-2 und den körperlich-funktionellen Auswirkungen einer Covid-19-Infektion auf Organsysteme wie die Lunge oder das Nervensystem bis hin zu Erforschung leistungsrelevanter pathologischer Grundlagen dieser Erkrankung (1).

Chancen für mehr Interdisziplinarität

Die akute, teilweise aber auch anhaltende Symptomatik einer Covid-19-Erkrankung umfasst eine Reihe belastungsabhängiger Beschwerden wie Dyspnoe, Myopathie und Fatigue sowie weitere Symptome, welche die körperliche Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit einschränken. Bei der Klärung der Frage, welche Mechanismen diesen vielfältigen Symptomen zugrunde liegen, kann das Fach Sportmedizin mit seinem Methodenspektrum und seiner Expertise einen wichtigen Beitrag leisten. Genau dies ist für uns eine Chance, die in einem interdisziplinären Ansatz über das Fach hinausgehende Anknüpfungspunkte bietet und die auch bereits genutzt wird. So sind alle vier universitären sportmedizinischen Einrichtungen in Baden-Württemberg mit ihrer Diagnostik wichtige Partner im Konsortium der kürzlich begonnen EPILOC-Studie zu Long-Covid, die von der Landesregierung gefördert wird.

Insbesondere das sich abzeichnende Szenario einer Vielzahl von Long Covid betroffener Patienten erfordert darüber hinaus die Entwicklung und Evaluation individualisierter patientenbezogener Trainingskonzepte. Aber auch die wissenschaftliche Bearbeitung indirekter Folgen der Pandemie zählt zu unseren Aufgaben, deren Bearbeitung auch in interdisziplinären Ansätzen wahrgenommen werden sollten. So verschärfte der Lock Down insbesondere bei vulnerablen Zielgruppen wie Kindern, Alten und erkrankten Menschen die körperliche Inaktivität.
Das beschriebene Spektrum für die Sportmedizin relevanter wissenschaftlicher Themen zu Covid-19 ist somit breit. Zu beachten ist, dass dieser Umstand nicht zu einer Vernachlässigung anderer Themen führen sollte. Auch sollte der primäre Antrieb für ein Covid-19-Projekt nicht aus einer vermeintlich einfacheren Einwerbung von Drittmitteln resultieren.

Forschungsbetrieb

Bereits in der frühen Phase der Pandemie litten auch sportmedizinische Projekte unter den Einschränkungen und laufende Studien mussten ab- und unterbrochen werden. Die Stellungnahme der Hochschulrektorenkonferenz vom Januar 2021 (2) weist darauf hin, dass insbesondere die Forschungsfinanzierung und die Perspektiven der Forscher unter den negativen Folgen der Pandemie leiden und dass vor allem Wissenschaftler in ihrer Qualifizierungsphase betroffen sind. Eine neuere Erhebung aus den USA zeigt ein bisher wenig beachtetes Phänomen einer deutlichen Abnahme der Zahl neu initiierter wissenschaftlicher Projekte bei Wissenschaftlern, die nicht an Covid-19 Projekten arbeiteten (4). Auf der anderen Seite ist zu beobachten, dass die Aufmerksamkeit für Forschungsthemen in der Öffentlichkeit eine sehr starke Fokussierung auf Covid-19 aufweist. Dabei sieht sich die Wissenschaft der Erwartung ausgesetzt, rasch mit erkenntnisreichen Daten zu dienen, die zudem ein hohes translationales Potenzial aufweisen sollten. Bereits in der Frühphase der Pandemie warnten die Autoren London & Kimmelman (5) davor, dem Druck, in der Pandemie schnell wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, auf Kosten der Qualität nachzugeben.

Publizieren und öffentliche Kommunikation

Dies trifft in Teilen auch auf die frühzeitige Kommunikation gewonnener Forschungsergebnisse mit der Öffentlichkeit zu, die in der Pandemie gehäuft vor Abschluss des üblichen unabhängigen Reviewverfahrens erfolgt. In der Corona-Pandemie hat die Veröffentlichung vorläufiger Forschungsergebnisse über die Preprint-Server deutlich zugenommen. Noch nicht abschließend geprüfte Erkenntnisse sind somit über diese ursprünglich für den wissenschaftsinternen Austausch und Diskurs gedachte Plattform der Öffentlichkeit zugänglich. Dies erfordert von uns Wissenschaftlern ein verantwortungsbewusstes Handeln, das auch in einer frühen Stellungnahme von ENRIO (The European Network of Research Integrity Offices) eingefordert wird: “Researchers should communicate their work on social and other media responsibly, with professionalism and transparency. Subjective or unfounded interpretations must be avoided. Eroding the integrity of research undermines the trust of our colleagues, the public and policymakers.” (3).

Zusammengefasst hat die Pandemie unsere wissenschaftliche Arbeit in mehrfacher Hinsicht verändert. Nutzen wir die sich daraus ergebenden Chancen und achten wir darauf, die negativen Auswirkungen gering zu halten.

Prof. Dr. Andreas Nieß, Ärztlicher Direktor der Abteilung Sportmedizin des Universitätsklinikums Tübingen
Prof. Dr. Andreas Nieß, Schriftleiter der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin und Ärztlicher Direktor der Abteilung Sportmedizin des Universitätsklinikums Tübingen © Nieß

■ Nieß AM

Alle Beiträge der DZSM zum Fokusthema „COVID-19: Infos und Empfehlungen“ finden Sie hier oder durch Eingabe des Suchbegriffs #Covid-19 in das Suchfeld dieser Website.

Quellen:

  1. Böning D, Kuebler WM, Bloch W. The oxygen dissociation curve of blood in COVID-19. Am J Physiol Lung Cell Mol Physiol. 2021; 321: L349-L357: doi:10.1152/ajplung.00079.2021

  2. HRK Hochschulrektorenkonferenz. COVID-19-Krise: Auswirkungen auf Forschung an den Hochschulen, 2021. [11 Feb 2022].

  3. ENRIO. ENRIO Statement: Research integrity even more important for research during a pandemic. [11 Feb 2022].

  4. Gao J, Yin Y, Myers KR, Lakhani KR, Wang D. Potentially long-lasting effects of the pandemic on scientists. Nat Commun. 2021; 12: 6188. doi:10.1038/s41467-021-26428-z

  5. London AJ, Kimmelman J. Against pandemic research exceptionalism. Science. 2020; 368: 476-477. doi:10.1126/science.abc1731

  6. Nieß AM, Bloch W, Friedmann-Bette B, et al. Position stand: return to sport in the current Coronavirus pandemic (SARS- CoV-2 / COVID-19). Dtsch Z Sportmed. 2020; 71: E1-E4. doi:10.5960/dzsm.2020.437

  7. Nieß AM, Widmann M, Gaidai R, Goelz C, Schubert I, Castillo K, Sachs J-P, Daniel Alexander Bizjak DA, Vollrath S, Wimbauer F, Vogel A, Keller K, Burgstahler C, Quermann A, Kerling A, Schneider G, Zacher J, Grummt M, Beckendorf C, Buitenhuis J, Egger F, Venhorst A, Morath O, Barsch F, Mellwig K-P, Oesterschlink J, Wuestenfeld J, Predel H-G, Deibert P, Friedmann-Bette B, Mayer F, Hirschmüller A, Halle M, Steinacker JM, Wolfarth B, Meyer T, Böttinger E, Flechtner-Mors M, Bloch W, Haller B, Roecker K, Reinsberger C. the CoSmo-S Study group. Covid-19 in German competitive sports: Protocol for a prospective multicenter cohort study (CoSmo-S). Int J Public Health. Accepted.

  8. Steinacker JM, Bloch W, Halle M, Mayer F, Meyer T, Hirschmüller A, Röcker K, Niess A, Scharhag J, Reinsberger C, Scherr J, Niebauer J, Wolfarth B und Sports Medicine Commission der FISA. Merkblatt: Gesundheitssituation für Sportler durch die aktuelle Coronavirus-Pandemie (SARS-CoV-2/COVID-19). Dtsch Z Sportmed. 2020; 71: 85-86. doi:10.5960/dzsm.2020.431

  9. Wackerhage H, Everett R, Krüger K, Murgia M, Simon P, Gehlert S, Neuberger E, Baumert P, Schönfelder M. Sport, exercise and COVID-19, the disease caused by the SARS-CoV-2 coronavirus. Dtsch Z Sportmed. 2020; 71: E1-E12. doi:10.5960/dzsm.2020.441