DZSM-MITTEILUNG

08.12.2021

Sportpsychiatrie und -psychotherapie: Fachdisziplin und Tätigkeitsfelder

Dr. med. Malte Christian Claussen, Sportpsychiater an der Universität Zürich, plädiert in seinem Editorial für die #6/2021 der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin (DZSM) für ein stärkeres inhaltliches Engagement der Sportpsychiatrie und Sportpsychotherapie im Querschnittsfach Sportmedizin.

Sportpsychiatrie und -psychotherapie: Fachdisziplin und Tätigkeitsfelder
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Die Sportpsychiatrie und -psychotherapie ist eine noch junge medizinische Spezialisierung und Disziplin der beiden psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgebiete, Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und Psychiatrie und Psychotherapie. Als Querschnittsfach bündelt die Sportmedizin das sportmedizinische Wissen der medizinischen Fachrichtungen und Disziplinen (4). Sportpsychiatrische und -psychotherapeutische Inhalte sind somit auch Inhalte der Sportmedizin. Sport und Bewegung in Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen sowie psychische Gesundheit und Erkrankungen im Leistungssport sind etablierte Tätigkeitsfelder der Sportpsychiatrie und -psychotherapie (12).

Sportspezifische psychische Erkrankungen im Breitensport, zum Beispiel die Muskeldysmorphie und die Sportsucht sowie bestimmte Substanzgebrauchsstörungen werden häufig auch als Tätigkeitsfelder von Sportpsychiatern und -psychotherapeuten angesehen. Psychische Erkrankungen im Breitensport lassen sich aber in den beiden etablierten Tätigkeitsfeldern nicht abbilden. Vorgeschlagen wird daher, die Tätigkeitsfelder der Sportpsychiatrie und -psychotherapie, um einen dritten Tätigkeitsbereich zu erweitern.

Einordnung der Sportmedizin und Sportpsychiatrie

Auf die Einordnung der Sportmedizin in Fort- und Weiterbildung durch die Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention – Deutscher Sportärztebund wird im folgenden Bezug genommen (4):

Die Sportpsychiatrie und -psychotherapie kann als der Teil der theoretischen und praktischen Sportmedizin angesehen werden, der den Einfluss von Bewegung und Sport sowie des Bewegungsmangels auf den psychisch gesunden und kranken Menschen jeder Altersstufe untersucht, damit die gewonnenen Erkenntnisse sowohl in der Diagnostik und Therapie psychischer Erkrankungen als auch in deren Prävention und Rehabilitation sowie zum Wohle des Sports eingesetzt werden können.

Sportler aller Leistungsklassen stehen im Fokus der Sportmedizin und auch der Sportpsychiatrie und -psychotherapie. Die gesundheitlich relevante „Erhaltungsdosis an Bewegung“ unter präventiven Gesichtspunkten erlangt in unserer von Bewegungsmangel geprägten Gesellschaft für körperliche und psychische Erkrankungen zunehmend an Bedeutung. Die Sportpsychiatrie und -psychotherapie beschäftigt sich wie die Sportmedizin, nebst Diagnostik, mit den präventiven, therapeutischen und rehabilitativen Möglichkeiten von Sport und Bewegung.
Präventive und therapeutische Wirkungen von Sport und Bewegung sind für die psychische Gesundheit und bei psychischen Erkrankungen gut belegt (7) und haben beispielsweise in die S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie zur unipolaren Depression Einzug gehalten (5).

Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen weisen ein höheres Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen auf (3). Chronische körperliche Erkrankungen und ein schlechterer Zugang zur somatischen Gesundheitsversorgung werden mit als Gründe für die mitunter deutlich geringere Lebenserwartung von Menschen mit psychischen Erkrankungen angeführt (13). Exercise is Medicine® und die präventiven und therapeutischen Wirkungen von Sport und Bewegung sind auch hier nachweislich wirksam, die körperliche Gesundheit zu verbessern (6).
In der Sportpsychiatrie und -psychotherapie kommt der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung und Rehabilitation von Sportverletzungen und Sportschäden ebenso eine hohe Bedeutung zu. Körperliche, psychische und soziale Belastungen und Risiken im Breiten- und Leistungssport und ihre daraus resultierenden „Sportverletzungen“ und „Sportschäden“ für die psychische Gesundheit sind genauso zu beachten.

Im Leistungssport wurde bis vor wenigen Jahren angenommen, dass es dort keine ernsthaften psychischen Probleme geben kann. Mittlerweile ist gut belegt, dass psychische Beschwerden und Erkrankungen häufige Gesundheitsprobleme im Leistungssport sind (10). Die mutigen Interviews von Sportlern lehrten uns in den letzten Jahren zudem, dass ihre mentale Stärke kein Garant für psychische Gesundheit ist. Psychische Gesundheit, körperliche Gesundheit und Leistung können im Sport nicht getrennt voneinander betrachtet werden (1). Psychische Belastungen und Erkrankungen erhöhen das Verletzungsrisiko und mindern die Leistung. Verletzungen und ausbleibende sportliche Erfolge sind wiederum Risiken für die psychische Gesundheit (10).
Die Sportpsychiatrie und -psychotherapie sollte sich als Disziplin der Psychiatrie und Psychotherapie, mit ihrem sportmedizinischen Wissen daher auch im Querschnittsfach Sportmedizin einbringen.

Dr. med. Malte Christian Claussen, Sportpsychiatrie und -psychotherapie, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Dr. med. Malte Christian Claussen, Sportpsychiatrie und -psychotherapie, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich © Claussen

Breitensport

Sport und Bewegung bei psychischen Erkrankungen und psychische Gesundheit und Erkrankungen im Leistungssport haben sich als Tätigkeitsfelder der Sportpsychiatrie und -psychotherapie etabliert (12). Die Umschreibung der Tätigkeitsbereiche von Sportpsychiatern und -psychotherapeuten werden innerhalb der psychiatrischen und psychotherapeutischen Fachgesellschaften und eigenständigen Gesellschaften Sportpsychiatrie und -psychotherapie bisher aber noch nicht einheitlich gehandhabt.

Die Muskeldysmophie und Sportsucht oder der Gebrauch sogenannter Image and Performance Enhancing Drugs (IPEDs) im Breitensport sind Beispiele sportspezifischer, psychischer Störungen und Erkrankungen, die auch als Tätigkeitsfelder von Sportpsychiatern und -psychotherapeuten häufig wahrgenommen werden. Anabole Steroide [anabol-androgene Steroide, AAS] gehören zu bekanntesten IPEDs. Das „Doping-Problem“ wird hauptsächlich im Leistungssport wahrgenommen, ist aber tief im Breitensport verankert. Die Lebenszeitprävelenz des AAS Gebrauchs wurde mit 6,4% (Männer) und 1,6% (Frauen) berichtet (11), und ist kaum alleinig auf den Leistungssport zurückzuführen.

Gestörtes Essverhalten und Essstörungen, Körperbildstörungen und Sport und Bewegung sind häufig nicht zu trennen. Auf Essstörungen spezialisierte Institutionen, Fachärzte und Psychotherapeuten haben sich immer schon auch mit dem Bewegungs- und Sportverhalten ihrer Patienten beschäftigt. Die sportpsychiatrische und -psychotherapeutische Expertise in der Behandlung von Patienten mit Ess- und Körperbildstörungen kann hier zudem hilfreich sein und möglicherweise auch die Hürde mindern, dass Patienten eine qualifizierte Behandlung aufsuchen.

Sportpsychiatrische Aus- und Weiterbildung

Durch die International Society for Sports Psychiatry (ISSP) wird das «ISSP Certificate of Additional Training in Sports Psychiatry» angeboten (9). Die International Olympic Committee Medical and Scientific Commission bietet seit kurzem das «IOC Program in Mental Health in Elite Sport» an (8). Die Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie (SGSPP) begann 2020 ein dreistufiges Curriculum zu implementieren, das als erstes seiner Art, eine spezifische Expertise in den Tätigkeitsfeldern von Sportpsychiatern und -psychotherapeuten, aufbauend auf der Weiterbildung der beiden psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgebiete, vermitteln möchte (2). Das Curriculum richtet sich aber genauso auch an Sportärzte (Stufe 1) und psychologische Psychotherapeuten (Stufe 1+2).

Der weitere Diskurs über die sportpsychiatrische und -psychotherapeutische Weiterbildung sollte gemeinsam mit der Sportmedizin erfolgen. Denkbar wäre zum Beispiel, die sportpsychiatrische und -psychotherapeutische Weiterbildung teilweise innerhalb der sportmedizinischen zu implementieren. Unterstreichen würde dies, dass sportmedizinische Inhalte für Sportpsychiater und -psychotherapeuten und vis-à-vis das „sportmedizinische“ Wissen der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie in einem Querschnittsfach, das das sportmedizinische Wissen der medizinischen Fachgebiete und Disziplinen bündelt, wichtig sind.

Schlussfolgerungen und Fazit

Die Sportpsychiatrie und -psychotherapie ist eine medizinische Spezialisierung und Disziplin der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie, die sich inhaltlich auch im Querschnittsfach Sportmedizin bewegt und in Zukunft mehr noch in der Sportmedizin einbringen sollte.

Danksagung

Der Autor bedankt sich beim Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie (SGSPP) für das kritische Lesen des Manuskripts.

■ Claussen MC

Quellen:

  1. Claussen MC, Gonzalez Hofmann C, Imboden C, Seifritz E, Hemmeter U. Swiss Society for Sports Psychiatry and Psychotherapy SSSPP. Position paper: Mental health in competitive sport. Sport & Exercise Medicine Switzerland. 2020; 68: 9-12. doi:10.34045/SEMS/2020/20

  2. Claussen MC, Imboden C, Seifritz E, Hemmeter U, Gonzalez Hofmann C. SGSPP-Curriculum Sportpsychiatrie und -psychotherapie: Stufe 1. Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie (SGSPP). Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2020; 171: w03111. doi:10.4414/sanp.2020.03111

  3. Correll CU, Solmi M, Veronese N, et al. Prevalence, incidence and mortality from cardiovascular disease in patients with pooled and specific severe mental illness: A large-scale meta-analysis of 3‘211’768 patients and 113‘383’368 controls. World Psychiatry. 2017; 16: 163-180. doi:10.1002/wps.20420

  4. Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention – Deutscher Sportärztebund. Einordnung der Sportmedizin in Fort- und Weiterbildung. [4th April 2021].

  5. DGPPN. BÄK, KBV, AWMF. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression. Springer Verlag, Berlin. 2. Aufl. 2015.

  6. Exercise ist Medicine Deutschland. [4th April 2021].

  7. International Olympic Committee (IOC) Medical and Scientific Commission. IOC Program in Mental Health in Elite Sport. [4th April 2021].

  8. International Society for Sports Psychiatry (ISSP). Certificate of Additional Training in Sports Psychiatry. [4th April 2021].

  9. Reardon CL, Hainline B, Aron CM, et al. Mental health in elite athletes: International Olympic Committee consensus statement (2019). Br J Sports Med. 2019; 53: 667-699. doi:10.1136/bjsports-2019-100715.

  10. Sagoe D, Molde H, Andreassen CS, Torsheim T, Pallesen S. The global epidemiology of anabolic-androgenic steroid use: a meta-analysis and meta-regression analysis. Ann Epidemiol. 2014; 24: 383-398. doi:10.1016/j.annepidem.2014.01.009.

  11. Ströhle A. Sports psychiatry: mental health and mental disorders in athletes and exercise treatment of mental disorders. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. 2019; 269: 485-498. doi:10.1007/s00406-018-0891-5.

  12. Thornicroft G. Physical health disparities and mental illness: the scandal of premature mortality. Br J Psychiatry. 2011; 199: 441-442. doi:10.1192/bjp.bp.111.092718.