Transgender-Athletinnen im Leistungssport: Wann ist ein Mann eine Frau?

Transgender-Athletinnen im Leistungssport: Wann ist ein Mann eine Frau?
© alexandre zveiger / Adobe Stock

Seien wir ehrlich: Sport ist immer unfair. Denn die Voraussetzungen der Athletinnen und Athleten sind nie ganz gleich und individuelle Unterschiede im Körperbau können den entscheidenden Vorteil bringen. Der ehemalige Schwimmer Michael Phelps etwa war – neben außergewöhnlichem Talent – auch mit Füßen in Schuhgröße 48,5 und einer enormen Spannweite gesegnet. 28 olympische Medaillen, davon 23 goldene, erkämpfte er sich mit diesem aus einer Laune der Natur vorteilhaft geformten Körper. Dennoch fordert niemand, dass es gesonderte Kategorien für beispielsweise extrem große Schwimmer oder solche mit einem Affenindex (Verhältnis von Spannweite zu Körpergröße) über dem »Normalwert« 1 geben sollte. Physische Merkmale wurden und werden als natürliche Varianz selbstverständlich akzeptiert. Anders sieht die Situation bei Transgender-Athletinnen aus, die in Frauenwettbewerben starten möchten, jedoch als Mann geboren wurden (mit einem XY-Chromosomenpaar). Glücklicherweise ist heute eine Geschlechtsanpassung entsprechend dem eigenen Empfinden für transidentitäre Personen möglich. Doch was im Alltag verhältnismäßig problemlos läuft, wird im Leistungssport zu einer Herausforderung – denn Sportlerinnen und Sportler möchten mitunter auch nach ihrer Geschlechtsänderung Wettkämpfe bestreiten. Wie die Inte­gration insbesondere von Transgender-Athletinnen erfolgen kann, wenn gleichzeitig faire Bedingungen gegenüber biologischen Frauen (sogenannten Cis-Frauen) herrschen sollen, wird intensiv diskutiert.

Denn – das ist weithin bekannt und gut untersucht – es gibt durchaus körperliche, funktionelle und Leistungsunterschiede zwischen Männern und Frauen (8):

Körperliche Unterschiede (Auswahl):
■ Körpergröße+ 9 Prozent
■ Schulterbreite+ 14 Prozent
■ Körperfett- 30 Prozent
■ Muskelmagermasse+ 45 Prozent
■ Muskelmasse Oberkörper+ 40 Prozent

Funktionale Unterschiede (Auswahl):
■ Gesamtkraft Oberkörper+ 90 Prozent
■ Vertikaler Sprung+ 33 Prozent
■ Absolute / relative VO2max+ 50 / + 26 Prozent

Leistungsunterschiede (Auswahl):
■ Schwimmen / Rudern+ 11 Prozent
■ Bahnlauf+ 12 Prozent
■ Sprungwettbewerbe+ 19 Prozent
■ Gewichtheben+ 31 Prozent

Dieser Artikel zeigt beispielhaft die unterschiedlichen Dimensionen der Problematik am aktuellen Beispiel einer US-amerikanischen Trans-Schwimmerin. Der ebenfalls umstrittene Umgang mit Sportlerinnen, die von einer Störung der Geschlechtsentwicklung betroffen sind (DSD – Differences in Sex Development) und daher natürlicherweise erhöhte Testosteronwerte haben, wird in diesem Artikel aus Platzgründen nicht thema­tisiert.

Testosteron und die männliche Pubertät

Die physischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen entstehen vor allem während der männlichen Pubertät. Untersuchungen im Schwimmsport zeigten, dass bis zu einem Alter von ungefähr 10 Jahren Mädchen und Jungen etwa gleich schnell schwimmen. Danach werden Jungen bis zu ihrem 18. Lebensjahr zunehmend schneller als Mädchen (7). Die Leistungsunterschiede der Geschlechter im Alter zwischen 10 und 29 Jahren sind in Tab. 1 aufgeführt. Nach der männlichen Pubertät sind Jungen im Durchschnitt etwa 12 cm größer, haben längere Arme, größere Hände und Füße, längere Beine und ein schmaleres Becken. Zudem haben Männer rund 40 Prozent mehr Muskelmasse und dichtere Muskeln mit mehr Muskelfasern, 40 Prozent weniger Körperfett, festeres Bindegewebe, eine höhere Knochendichte, ein größeres Herz, größere Lungen, mehr Ausdauer und einen höheren Hämatokritwert. Diese eklatanten Unterschiede sind vor allem durch etwa 10- bis 20-fach höhere Testosteronwerte begründet.

Doch wie wirkt sich nun eine Geschlechtsumwandlung auf die Unterschiede aus? Unzweifelhaft ist, dass bestimmte Merkmale wie Körpergröße, Spannweite oder Hand- und Fußgröße auch nach einer geschlechtsangleichenden Behandlung bestehen. Zu anderen leistungsrelevanten Faktoren gibt es teilweise noch uneinheitliche Daten.

Schwimmdistanzen: Leistungsvorsprung Männer gegenüber Frauen
© DZSM (adaptiert aus [10])

US-Schwimmerin Lia Thomas: Zu schnell, um eine Frau zu sein?

Die Schwimmerin Lia Thomas startete bis zur Saison 2018/2019 in der Universitäts-Schwimmmannschaft der Männer, bis sie 2019 mit einer Hormontherapie begann. 2021 wurde ihr entsprechend der zu diesem Zeitpunkt gültigen Regularien der National Collegiate Athletic Association NCAA (Non-Profit-Organisation, die den College- und Universitätssport in den USA organisiert) das Startrecht bei den Frauen erteilt. Lagen Thomas‘ Ergebnisse vor der Transition im Ranking der männlichen Universitätsschwimmer auf Rang 462, so schoss sie bei den Frauen mit ihrer Leistung auf Rang 1. Ihre aktuellen Bestzeiten können sich mit den weltweiten Top 20 messen. Viele Schwimmerinnen und Sportlerinnen fragen sich nun: Ist das fair? Hat Lia Thomas trotz der regelkonformen Hormonbehandlung signifikante Vorteile gegenüber den Konkurrentinnen? Im Durchschnitt und mit der Altersentwicklung verrechnet, ist die Schwimmerin je nach Strecke um zwar durchschnittlich 5 Prozent langsamer als vor der Transition. Verglichen mit den Durchschnittsleistungen weiblicher Weltklasse- und US-Schwimmerinnen (11) hätte sie dennoch einen signifikanten Vorteil.

Testosteronsuppression – wie viel und wie lang?

Hier kommt das Testosteron ins Spiel, von dessen zahlreichen leistungsfördernden Effekten Männer profitieren. Nicht ohne Grund steht es als anabole Substanz auf der Dopingliste der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA). Um Vorteile durch natürlich hohe Testosteronwerte zu verhindern, müssen Transgender-Sportlerinnen ihre Testosteronproduktion laut Regelwerk unterdrücken. »Die Daten zur Testosteron-Suppression sind aktuell noch begrenzt, aber der Effekt ist abhängig von der Sportart und der einzelnen Athletin. Reduktionen von unter 5 bis zu 25 Prozent und mehr sind möglich«, erklärt Joanna Harper von der School of Sport, Exercise and Health Sciences der Lough­borough University. Cis-Frauen haben natürlicherweise Werte zwischen 0,5 bis 2,4 nmol/l Serum, Männer zwischen 9,2 bis 31,8 nmol/l. Typisch sind im Frauensport maximale Testosterongrenzwerte von 10 nmol/l bzw. heutzutage häufiger 5 nmol/l (3). Die 5 nmol/l werden mit den maximalen Testosteronwerten von Cis-Frauen begründet, die am Polycystischen Ovarsyndrom (PCOS) leiden. Wem diese Werte im Vergleich zu üblichen Werten bei Cis-Frauen hoch vorkommen, den beruhigt Harper: »Das sind die oberen Grenzwerte. 95 Prozent der Cis-Frauen haben Werte unter 2 nmol/l, 94 Prozent der Transfrauen ebenso.« Ob die Voraussetzungen für Cis- und Transfrauen mit Testosteron-Suppression vergleichbar sind, versuchen Studien aktuell herauszufinden.

Muskelmasse und Kraft bleiben lange erhalten

Roberts et al. untersuchten retrospektiv die Fitnesstests von 46 trainierten Frauen vor Beginn ihrer Hormontherapie und danach. Vor der Behandlung schafften die (noch als biologisch männlich zu bezeichnenden) Teilnehmer im Durchschnitt 31 Prozent mehr Liegestütze und 15 Prozent mehr Sit-ups als Cis-Frauen. Ein Jahr nach der Hormonbehandlung waren diese Unterschiede immer noch vorhanden; erst nach zwei Jahren war die Leistung vergleichbar (9).

Hilton und Lundberg beschäftigten sich mit der Veränderung von anthropometrischen und Muskelmasse-Vorteilen von Transfrauen. Aus ihrer Untersuchung schlossen sie, dass mindestens 12 Monate nach geschlechtsändernder Behandlung und Testosteronsuppression auf unter 10 nmol/l die anthropometrischen Werte unverändert geblieben waren und der Verlust an Muskelmasse und Kraft etwa fünf Prozent betrug (5). Diese Reduktion scheint wenig, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass der Unterschied an Muskelmasse zwischen Männern und Frauen 40 Prozent beträgt. Wie bei vielen derartigen Untersuchungen ist ein Kritikpunkt der Studie, dass sie an Nicht-Sportlerinnen durchgeführt wurde und ein direkter Vergleich mit Hochleistungsathletinnen und -athleten nicht möglich ist.

Ein aktueller Review fand, dass Hämoglobin- und Hämatokrit-Werte innerhalb von drei bis vier Monaten nach Beginn der geschlechtsändernden Hormonbehandlung auf Werte von Cis-Frauen sanken und dort über die längste Studiendauer von 36 Monaten auch blieben. Nach 12 Monaten Hormonbehandlung hatten auch Kraft, Mager- und Muskelmasse abgenommen, blieben jedoch bis mindestens 36 Monate seit Beginn der Hormonbehandlung über den Werten von Cis-Frauen (4).

Eine Ursache könnte der zelluläre Phänotyp der Muskelzellen sein, denn die Anzahl an Zellkernen in Muskelzellen hat Einfluss auf Trainingseffekte. Die Anzahl der Nuklei wächst mit der Muskelhypertrophie. Gibt man weiblichen Mäusen kurzzeitig Testosteron, erhöht sich der Muskelquerschnitt und die Anzahl der Nuklei. Nach Absetzen des Testosterons reduzierte sich zwar der Muskelquerschnitt auf das Maß der Kontrollgruppe, doch die Anzahl der Zellkerne blieb um 42 Prozent höher. Setzte man die testosteronbehandelten Mäuse und die Kontrolltiere einem Widerstandstraining aus, so war der Muskelquerschnitt in der Testosteron-Gruppe nach sechs Tagen um 20 Prozent höher als bei den Kontrolltieren nach zwei Wochen (1). »Für den Sport ist es wichtig, zu bedenken, dass eine Testosteron-Suppression nicht alle Effekte der männlichen Pubertät umkehren wird. Das ist aber auch nicht nötig. Essenziell ist, dass die Suppression die Vorteile der männlichen Pubertät so weit abschwächt, dass ein aussagekräftiger Wettkampf zwischen Cis- und Transfrauen möglich ist«, betont Harper. Dazu brauche es unbedingt Fördergelder für multizentrische, multinationale Längsschnittstudien mit Transathletinnen unter Hormontherapie.

Trotz intensiver Diskussionen über die Bedeutung des Testosteronwerts und seiner Aussagekraft entscheidet er bislang in vielen Sportarten als einziger wichtiger Marker über die Startfreigabe in Frauenwettbewerben (2). Problematisch sehen Sportler wie Verbände die aktuelle Haltung des IOC. Eine Neufassung der IOC-Regeln (6), die die vorigen Vorgaben (u. a. 10 nmol/l) ablöst und in vielen Bereich gegensätzlich ausfällt, sieht nun keinen definierten Testosteronwert mehr vor. Vielmehr soll jeder Sportverband evidenzbasiert seine eigenen Regeln aufstellen. Das IOC legt damit den Fokus allein auf die Menschenrechtsperspektive, negiert jedoch medizinisch-wissenschaftliche Fakten.

Die Zielsetzung, Sport inklusiv zu gestalten, ist löblich und wichtig. Doch die binäre Einteilung ist Kern der meisten Sportarten. Folglich müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die gleiche und faire Bedingungen für alle Teilnehmerinnen sicherstellen. Sich dieser Verantwortung zu entziehen, ist mehr als fragwürdig.

Denn die Folgen für den Sport könnten gravierend sein. Der World Rugby Verband schließt alle Transgender-Athletinnen aufgrund möglicher Vorteile aus, USA Gymnastics überlässt die Einordnung der Gender-Identifikation jedem Einzelnen. Einen alternativen Vorschlag brachte 2017 Maayan Sudai auf den Tisch: die Aufgabe der binären Einteilung im Sport und eine Zuordnung der Sportler anhand eines Kriterienkatalogs vergleichbar mit dem paralympischen Punktesystem (12). Die nächsten Jahre werden zeigen, auf welche Weise Trans-Sportlerinnen und -Sportler fair für alle Teilnehmenden in das binäre System des Sports integriert werden können. Gegenseitiges Interesse und Verständnis für die Ängste und Wünsche sowie eine solide wissenschaftliche Datenbasis sind nötig, um eine Grundlage für fairen Sport und individuelle Entfaltung zu schaffen.

■ Hutterer C

Quellen:

  1. Egner IM, Bruusgaard JC, Eftestøl E, Gundersen K. A cellular memory mechanism aids overload hypertrophy in muscle long after an episodic exposure to anabolic steroids. J Physiol. 2013; 591: 6221-30. doi:10.1113/jphysiol.2013.264457

  2. Hamilton BR, Lima G, Barrett J, Seal L, et al. Integrating Transwomen and Female Athletes with Differences of Sex Development (DSD) into Elite Competition: The FIMS 2021 Consensus Statement. Sports Med. 2021; 51: 1401-1415. doi:10.1007/s40279-021-01451-8

  3. Handelsman DJ, Hirschberg AL, Bermon S. Circulating Testosterone as the Hormonal Basis of Sex Differences in Athletic Performance. Endocr Rev. 2018; 39: 803-829. doi:10.1210/er.2018-00020

  4. Harper J, O'Donnell E, Sorouri Khorashad B, McDermott H, Witcomb GL. How does hormone transition in transgender women change body composition, muscle strength and haemoglobin? Systematic review with a focus on the implications for sport participation. Br J Sports Med. 2021; 55: 865-872. doi:10.1136/bjsports-2020-103106

  5. Hilton EN, Lundberg TR. Transgender Women in the Female Category of Sport: Perspectives on Testosterone Suppression and Performance Advantage. Sports Med. 2021; 51: 199-214. doi:10.1007/s40279-020-01389-3. Erratum in: Sports Med. 2021; 51: 2235

  6. IOC Framework on fairness, nondiscrimination and inclusion. 16.11.2021. (aufgerufen am 05.03.2022)

  7. Knechtle B, Dalamitros AA, Barbosa TM, Sousa CV, Rosemann T, Nikolaidis PT. Sex Differences in Swimming Disciplines-Can Women Outperform Men in Swimming? Int J Environ Res Public Health. 2020; 17: 3651. doi:10.3390/ijerph17103651

  8. Pike J, Hilton E, Howe LA. Fair Game. Biology, fairness and transgender atheles in women’s sport. Macdonald-Laurier Institute. 2021. (aufgerufen am 05.03.2022)

  9. Roberts TA, Smalley J, Ahrendt D. Effect of gender affirming hormones on athletic performance in transwomen and transmen: implications for sporting organisations and legislators. Br J Sports Med. 2020. doi:10.1136/bjsports-2020-102329

  10. Rüst CA, Rosemann T, Knechtle B. Sex difference in age and performance in elite Swiss freestyle swimmers competing from 50 m to 1,500 m. Springerplus. 2014; 3: 228. doi:10.1186/2193-1801-3-228

  11. Senefeld JW, Hunter SK, Coleman DL, Joyner MJ. Transgender Swimmer in College Athletics. medRxiv 2021.12.28.21268483. doi:10.1101/2021.12.28.21268483

  12. Sudai M. The testosterone rule – constructiong fairness in professionell sport. J Law Biosci. 2017; 4: 181-193. doi:10.1093/jlb/lsx004